Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXXV   Einer von zehntausend

»Wir haben zwei große Gelegenheiten verpaßt, uns zu beweisen. Wir haben Dimitroff sprechen, anklagen und handeln lassen, ohne uns zu rühren. Er hatte nicht nur das Ohr der Welt für sich, er öffnete dieser Welt die Augen und zeigte den bodenlosen Abgrund auf, in den das deutsche Volk sich hat hinunterstürzen lassen von einer Horde abgefeimtester Verbrecher. Er klagte an, und die Welt wiederholte diese Anklagen in einem millionenstimmigen Echo. Wir aber schwiegen. Wir waren ergriffen, wir waren bestürzt, daß jemand so für uns sprach, ein Fremder. Wir sahen in einen Spiegel hinein und sahen uns. Wir fühlten uns als Märtyrer, und es tröstete uns, daß auch die Welt uns so sah, wie wir uns ansahen. Aber wir vergaßen dabei, die Faust zu ballen. Nicht diese Faust, die sich selbstbewußt an die Brust schlägt: ›Ich danke dir, Gott, daß ich auch zu den Gerechten gehöre!‹ Sondern die andere Faust, die sich hochreckt, auf daß es endlich Wirklichkeit werde. ›Auge um Auge, Zahn um Zahn!‹

Wir ließen Dimitroff den Kampf aufnehmen und die Schlacht schlagen und sahen zu ihm nur auf, wie man einen Regenbogen betrachtet. Wir sammelten uns nicht und stießen nicht zu ihm, dem Kämpfer, um gemeinsam den Feind zu vernichten.

Damals, Kameraden, als Dimitroff die Schleuder hob und die Stirn des braunen Götzen traf: ›Sie haben wohl Angst vor meinen Fragen, Herr Ministerpräsident?‹, in jenem Augenblick war das Signal für uns gegeben. Wir haben dieses Signal nicht verstanden. Wir haben uns nur verstanden, uns, die wir verfolgt wurden um unserer Gesinnung willen und mißhandelt an Leib und Seele, weil wir diese Gesinnung nicht hingaben für einen Fetzen braunes Zeug.

Und wir haben das Signal auch zum zweiten Male nicht verstanden. Wo waren wir denn? Welcher Alp lastete auf uns in jenen Tagen, als die braunen und schwarzen Banden aufeinander losschlugen? Als über 482 Deutschland der stählerne Vampir durch die Lüfte raste und mit wirren Funksprüchen Panzerwagen lenkte und die Pistolen und Karabiner knallen ließ? Als der Irrsinn jeden, dem es nach einem Mord in den Fingerspitzen juckte, gewähren ließ und es schon beinahe ein Zustand war: Jeder gegen jeden! Weil sie alle, die schossen, sich eines Verbrechens bewußt waren, von dem die anderen, auf die sie schossen, eine Gewißheit hatten und die Beweise dafür. Sie schossen, weil sie die letzte Stunde schon herbeigekommen wähnten. Und wenn sie nicht schossen, flüchteten sie vor dem Knall der Pistolen in die äußerste Finsternis. Und sie unterschieden nicht mehr das Gesicht des feigen Mörders von dem des endlich auferstandenen Rächers. Sie vermeinten, es sei das endlich erwachte und in die Freiheit marschierende Volk. Dieser Schauer saß ihnen von Anbeginn an im Nacken. Mit dem lebten sie in einer fortwährenden Unruhe. Aber es wehte ja nicht unsere Fahne durch die Straßen, dem grauen Heer der Unterdrückten, der Entrechteten, der Mißhandelten, der Eingebunkerten . . . den Verdammten dieser Erde, vorauf. Der Gestank des Pulvers und der Geruch des vergossenen Blutes lag in der Luft und vermengte sich mit der Schwüle, die über Deutschland lastete. Die Stunde schrie nach uns. Wir haben den Ruf der Stunde nicht verstanden. Wir ließen ihn verhallen. Wir merkten erst auf, als durch den Äther die Lüge gefunkt wurde: ›Diese Morde sind als Staatsnotwehr rechtens! Ich war verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation und damit des deutschen Volkes Oberster Gerichtsherr! Und in dieser Stunde standen mir nur ganz wenige Menschen zur Verfügung. Und wenn mir jetzt die Meinung entgegengehalten wird, daß nur ein gerichtliches Verfahren ein genaues Abwägen von Schuld und Sühne hätte ergeben können, so lege ich gegen diese Auffassung feierlich Protest ein: Wer sich in Deutschland erhebt, treibt Landesverrat . . . Meuterei bricht man nach ewig gleichen Gesetzen . . .‹

Diesen Tag, Kameraden, als die Salven knallten, haben wir versäumt. Er hätte unser Tag werden können. Wir haben, wo wir nur konnten, den Gegner gezwickt und ihm die Nächte unruhig gemacht, und wir ließen uns von ihm zwicken und verbissen den Schmerz, damit die Quäler sich nicht daran erfreuten. Wir ließen den Mann, der sich in die Macht hineingeschlichen hatte, immer deutlicher wissen, daß wir da sind, daß wir uns sammeln, daß wir kämpfen, daß wir auf den Tag der Abrechnung hoffen und die Geduld haben, zu warten. bis aus der Hoffnung eine Erfüllung wird.

Wir sehen, wie es aus dem braunen Gefüge allerenden schon zu 483 bröckeln beginnt. Wir sehen die Risse und Sprünge. Aber wir erkannten jene Krise nicht, wo es nur eines Stoßes bedurft hätte, um aus den Rissen und Sprüngen den Zusammensturz herbeizuführen. Wir ließen ihm Zeit, die Schäden auszubessern, eiserne Ringe um den innen morschen Körper zu ziehen. Wir sehen jetzt, wie sich die Ringe vervielfachen, Millionen Menschen wieder in Wehr und Waffen, ein Ärgernis, das die Welt beunruhigt und herausfordert, Gegenmaßnahmen zu treffen. Wir sehen auf zu dieser mit uns beunruhigten Welt und glauben und warten, daß sie diese nichtsnutzige Störung des Friedens nicht lange dulden wird.

Dieses allein zu glauben, wäre aber nicht die Aktivität, die wir in unserem Kampf immer sichtbarer werden lassen wollen. Wir ziehen die Kreise weiter, wir beziehen alle ein, die mit uns kämpfen wollen gegen den blutigen faschistischen Terror, für die Freiheit, für den Frieden, für die Solidarität aller, die um Lohn und Brot arbeiten, die am Ladentisch stehn und vor den Retorten, die in den Ämtern ihren Dienst tun und die den Acker umpflügen, die Lehrer in den Schulen und auch jene, die der Kunst und der Wissenschaft dienen . . .«

Das waren die Worte des Doktor Grätz, die er zu den zwölf Menschen sprach, die in einem Keller zusammengekommen waren, um einen Toten zu ehren. Einen im Kampf um die Freiheit Gefallenen. Den Kameraden Martin.

In einer steingrauen Urne das Häufchen Asche war alles, was das Irdische von Martin noch ausmachte. Von einem Mann, der vom ersten Tage des Unheils an, als die illegale Arbeit der einzige Ausweg war, nur für diese Arbeit noch gelebt hatte. Tag und Nacht tätig, Monat um Monat, bis ein Jahr, bis zwei Jahre daraus wurden und schließlich auch das dritte vollendet war.

Unzählige Male war der Zugriff der Spitzel und Geheimagenten an ihm vorübergestrichen, oft um Haaresbreite. Und zweimal hatte der Ring sich so geschlossen, daß es der Pistole bedurfte, um sich wieder herauszuwinden. Martin hatte auf das Leben anderer geschossen, um sein Leben zu retten. Nicht das Weiterleben in dem Unsteten und Flüchtigen; es lag ihm nichts an diesem seinem Leben. Es lag ihm aber alles an dem Leben der Genossen, für die er lebte in einem fortwährenden Aufruhr, in der Gefahrenzone der illegalen Arbeit. In einer Arbeit, die mit der ätzenden Säure der Wahrheit das Geschwür der Lüge wegzubeizen versuchte aus dem Gehirn jener Menschen, die das Verlogene aufgenommen hatten in einer maßlosen Verwirrung. 484

Diese Arbeit, in einer nie ermüdenden Anstrengung, hatte Martin so bewegt, daß er sein Privates darüber vergaß; diese Arbeit, die eine äußerste Hingabe für die gerechte Sache der rechtlos gemachten Menschen erforderte, für die Befreiung der Eingekerkerten, für das Leben aller, die in Gefahr schwebten, vor dem endlichen Tag der Erlösung hinzusterben in den Kellern der Gestapo oder unter dem Beil des Henkers. Die Arbeit für die soziale Revolution und für die Vernichtung des Unholdes, der sich aus den Nervenkrisen der Verwirrten und Verängstigten eine Bestätigung seiner teuflischen Mission zusammenschwatzte und, wenn er von Gott sprach, sich selber meinte.

Und als Martin zum dritten Mal in die Umklammerung der Häscher geriet, in einer jener kleinen, primitiven Holzhütten auf einem abgelegenen Siedlungsgelände im Süden der Stadt, da war es nicht er allein, auf dessen Leben es fünf braune Soldaten abgesehen hatten. Sie standen ihrer drei vor den Druckapparaten, als die Tür, von einer Handgranate zertrümmert, nachgab. Und nur Martin hatte eine Pistole, und er feuerte und bahnte seinen Kameraden den Weg ins Freie, in die mondlose Nacht, die auf den Bäumen und Sträuchern lag. Er schoß zwei Magazine leer, und es gelang ihm auch, beide Genossen so zu decken, daß sie entkommen konnten, geduckt und von den schwarzen Schatten, die das Beet der Stangenbohnen warf, den Augen der Verfolger unsichtbar gemacht.

Und schließlich gelang es ihm auch noch, mit der letzten Kugel aus der offenen Tür herauszubrechen. Sein Gesicht war von zwei Streifschüssen zerfetzt, ein dritter Schuß saß ihm im rechten Oberarm. Er hielt die Pistole in der Linken. Die Hand des rechten, verwundeten Armes suchte in der Tasche nach neuer Munition. Er drückte den Rücken gegen die Bretterwand und suchte und fand nicht einmal den Eingang zur Tasche. Er wechselte die Pistole wieder um in die vor Schmerzen heftig zitternde Hand. Es geschah im Verlauf einer Sekunde, daß er nach den Patronen suchte und nicht schoß. Ein Schuß der Braunen traf ihn und zerschmetterte ihm das Kinn. Der heftige Schlag warf ihn um. Er fühlte die Erde, und er preßte den Kopf gegen das Holz und stemmte den Rücken dazu und richtete sich wieder auf. Vor seinen Augen schwammen die dunklen Schatten wie große, unförmige Tiere und kamen auf ihn zu und umklammerten ihn. Er verspürte einen feuchten, klebrigen Griff, eine würgende Gewalt schon ganz nahe der Kehle. Schüsse peitschten an ihm vorüber in die purpurschwarze Dunkelheit des Geländes hinein, auf Menschen, die über die Schutthalde liefen, mit dem Tod um die Wette, den Wiesen, den Wassern zu. Es kroch 485 ihm ein bitterscharfer Geruch in die Nase. Es drückte sich etwas, das er nicht sah, an seine Schulter heran. Und in einem letzten, fast schon bewußtlosen Dreh schlug er dem Braunen, der sich von der Seite herangepirscht hatte, die Pistole in das Gesicht. Und wirbelte in eine glutheiße Schwärze hinein. Die Finsternis, die ihn umgab, war eine vollkommene und löschte alles aus: die Augen, die nahe Umgebung und den Atem, der zuletzt nur noch ein vom Blut ersticktes Röcheln war.

So war Martin gestorben. Der Kämpfer, den die Braunen unter allen Umständen als Lebenden einbringen wollten, um den hohen Betrag der Kopfprämie zu kassieren. Aber auch nicht einmal diesen Gefallen hatte ihnen Martin getan. Sie ließen ihre Wut an dem Körper aus, den der lebendige Odem längst verlassen hatte. Was sie auf den Wagen luden, das glich nicht mehr einem Menschen. Sie mußten diesen von den Kugeln und Stiefelabsätzen zermalmten Körper abliefern, damit der Rapport einen Sinn bekam und die befohlene Jagd ein Resultat. Den Rest überlieferten sie dem Feuerofen.

Von den beiden, die, gedeckt durch Martins Aufopferung, entkommen konnten, saß nur Franz Lück hier. Es war ihm hochgekommen, auch ein paar Worte des Gedenkens zu sprechen. Es formten sich aber keine hörbaren Laute; seine Augen nur liefen über. Und als er merkte, wie es um ihn stand, dachte er: Weshalb soll ich mich dessen schämen?

Er durfte die Urne in seinen Rucksack nehmen. Und Hillmann und Doktor Grätz gingen mit ihm. Sie brachten die Asche dorthin, wo der Tod aus der Erde heraufgebrochen war und Martin umklammert hatte, weil er schon lange reif war für diesen Tod.

Und dort, wo sich die kalte Erde mit dem warmen Blut verkrustet hatte, gruben sie die Urne ein.

Das Grundstück war herrenlos. Der Mann, dem es gehört hatte, war einen ähnlichen Weg gegangen wie Martin. Er ruhte verscharrt . . . wer weiß wo . . .

Aus dem Staub von Martin, wenn wieder Sommer sein wird, werden Glyzinien und Feuerbohnen blühen. Und die Kinder werden Kränze daraus winden für einen anderen im Kampf um die Freiheit gefallenen Kameraden.

Es hatte sie niemand in ihrer Arbeit gestört. Von der Schutthalde herunter wälzten sich die Nebel und machten das Licht der Laternen rot, als wehten Fahnen von den Bäumen der Allee herunter. Ahnungen und Vorzeichen von Geschehnissen, denen die Zeit entgegentrieb und die Kameraden mitnahm, einen nach dem anderen. 486

 


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