Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XII   Abwarten, mein Junge!

Als der Stadtrat die drei Zeilen ins Haus geschickt bekam, daß man ihn beurlaubt habe und daß er die Diensträume nicht mehr betreten dürfe, sich aber zur Verfügung halten müsse, bis die vom Oberpräsidenten angeordnete Untersuchung beendet sei, hatte er gerade eiskalt geduscht, mit einem hochgradigen Kirsch sich wieder aufgewärmt und wollte schnell noch einen Blick in die »Neue Zürcher« tun, die ihm einer der Magistratsräte am Vormittag zugesteckt hatte.

Er las jetzt das offizielle, von dem ihm physisch schon immer unangenehm gewesenen »Ober« signierte Schriftstück durch, zückte den Bleistift und setzte in die obere Ecke des Schreibens eine Ziffer, als handele es sich um einen Umlauf im Büro. Und wie einen Scheck, den er am nächsten Morgen durch einen Amtsdiener kassieren lassen würde, faltete er das Papier zusammen und steckte es in die Brieftasche.

Er hörte seine Frau im Eßzimmer hantieren. Und beinahe sah es schon so aus, als würde er ihr das Geschehnis, das doch von einer entscheidenden und einschneidenden Bedeutung war, mitteilen und für den Schrecken, der über ihre empfindlichen Nerven schauern würde, ein paar tröstliche Worte finden.

Die Schritte aber, mit denen er sich langsam vorwärtsbewegt hatte, galten dem Zigarrenschrank. Er holte sich eine schwere Importe heraus, brannte sie an und rauchte so ruhig ein paar Züge, als habe er eine schwierige, aber doch gut geglückte Arbeit hinter sich. Dann setzte er sich in den Sessel neben dem Telefon, drehte die Nummernscheibe und verband sich mit seinem Vetter, der zur Zeit Erster Pfarrer in der Apostel-Paulus-Gemeinde war.

Der Herr Pfarrer, den er seit Jahr und Tag, wie das unter nahen Verwandten oft üblich ist, weder gesehen noch per Telefon gesprochen hatte, war zu Hause und gar nicht einmal überrascht von dem plötzlichen Anruf. 143

Der Stadtrat fragte, ob es sich einrichten ließe, daß man sich heute noch sprechen könne, es sei freilich nichts Aufregendes passiert, aber in diesen etwas wirren Tagen könne es vielleicht von Nutzen sein, wenn man sich einmal gründlich ausspräche.

Der Pfarrer machte keine Einwendungen, obwohl es schon in die Nacht hineinging. Der Stadtrat sagte: »Wir haben jetzt neun Uhr zehn. Ich nehme hier gleich am Bahnhof ein Taxi, und in einer halben Stunde spätestens darfst du mich erwarten. Wiederschaun.«

Ein paar Minuten saß er noch neben dem Apparat, rauchte und trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Dann warf er schnell einen Blick auf ein Bild an der Wand; es stellte ihn als Rittmeister einer Kavallerie-Abteilung dar, in Felduniform, hoch zu Roß, im Hintergrund eine brennende russisch-polnische Stadt, gemalt von einer expressionistischen Modegröße. Er knipste die Stehlampe aus und ging mit so sicheren Schritten aus dem Zimmer, als habe ihn nicht das leiseste berührt.

Im Eßzimmer sagte er zu seiner Frau, die schon gedeckt hatte und in der Vase frische Blumen ordnete: »Bitte, entschuldige mich, es ist da plötzlich eine dringende Besprechung notwendig geworden. Stell mir ein paar Schnitzel warm, es kann sehr spät werden. Wollte Robert Steg übrigens nicht kommen? Nett von ihm, daß er sich wieder einmal sehen läßt. Dann hast du ja eine gute Gesellschaft. Setz ihm einen Rüdesheimer vor, den 96er, verstehst du? Den bevorzugt er. Und sollte er, was ja nicht ausgeschlossen ist, auch noch den Doktor Grätz mitbringen, bei dem er nächtigt – um so besser für dich. Von Grätz wirst du ja am ehesten erfahren, wer alles schon über die Grenze gegangen ist. Ein paar von deinen Schwarm-Autoren sollen es besonders eilig gehabt haben. Ich sagte dir ja schon immer: In ihren Büchern sehr aufgeregte Leute, aber wenn es darauf ankommt, schreckhaft wie die Pflanze Rühr-mich-nicht-an. Unsereiner befindet sich in einer angenehmeren Lage.«

»Du glaubst also immer noch an die angenehme Lage? Ich hatte heute den ganzen Tag das Gefühl, als müsse man Koffer packen, und fremde Leute stünden im Zimmer und sähen mit höhnischen Gesichtern zu.«

»Ja . . . mein Kind, wenn du glaubst, daß es deinen Nerven dienlicher sei, ein paar Wochen Seeluft zu schmecken . . . bitte, fahre! Ich empfehle Nizza. Dort wirst du sicher ein paar von deinen Bekannten treffen. Das Trösten liegt dir ja. Es werden einige nette Leute dort sein, denen es sehr wohltun wird, wenn du sie streichelst.« 144

»Wie entsetzlich abfällig du über diese Leute denkst, für die es höchste Zeit war, sich vor dem Massaker in Sicherheit zu bringen!«

»Mich juckt es nicht, Alma; weshalb soll ich mich für die Pein anderer Leute kratzen.«

»Ja, auch wenn es hier im Hause brennen würde, die Zigarre verließe nicht den bequemen Sitz im Mundwinkel.«

»Seit wann bin ich für Brände zuständig? Wer versichert ist, soll sich an Löscharbeiten nicht beteiligen. Das setzt ihn der Versicherungsgesellschaft gegenüber in ein schiefes Licht.«

»Das übertrifft beinahe noch den Zynismus deines Vetters Christian, von dem heute ein Artikel in der Zeitung stand. Hast du ihn gelesen?«

»Seit wann interessiert dich das Geschreibe von Christian?«

»Ich stieß zufällig darauf und gleich auf diesen unglaublichen Satz: Jeder Diener der Kirche muß die Kirche in den Dienst des Dritten Reiches stellen, sonst wird er gehen müssen. Und wer das nicht freiwillig tut, den werden die Fäuste der SA auf den Trab bringen . . .‹ Wird in Zukunft die evangelische Kirche so aussehen wie dieser ihrer Diener?«

»Ja . . . Alles wird anders aussehen. Auch die Frau. Das wird dich noch mehr erschrecken als diese nach der Speckseite gezielte evangelische Wurst.« Er berührte flüchtig mit den Fingerspitzen ihr Schläfenhaar und öffnete die Tür: »Na, denn also!«

Auf der Diele ließ er sich von dem Mädchen in den Mantel helfen, stülpte den Hut auf, gab ihr einen derben Klaps auf den Hintern, grinste, als sie ihn böse ansah, und verließ das Haus.

Alma geriet unter dem Eindruck der zynischen Worte in ein schmerzhaft bohrendes Grübeln, sie biß die blutleeren Lippen zusammen und dachte: Entweder hat er die Zusicherung, daß er im Amt bleibt, jetzt in der Tasche . . . oder an einer Stelle, wo er besonders empfindlich ist, den Tritt sitzen. Sie schaltete drei Lampen des Kronleuchters aus, ging in den kleinen Salon und legte so lange Patiencen, bis Robert Steg kam und den Doktor Grätz tatsächlich mitbrachte. Sie hofften den Stadtrat anzutreffen und sich gründlich mit ihm aussprechen zu können.

 

Es war ein ganz gemeiner Klapperkasten, den der Stadtrat am Bahnhof erwischte. Er rollte über die Chaussee nach Pankow wie der Lieferwagen einer Eisenhandlung. Polizeiflitzer sausten, von Berlin her, vorüber und bestrichen mit Scheinwerfern weithin die Straße. Dem Chauffeur kribbelte es in allen Gliedern, daß man den Wagen womöglich anhalten und visitieren würde; er wußte, wer der Mann war, den er fuhr. 145 Es geschah aber nichts dergleichen. Er hörte den Stadtrat schnarchen, das beruhigte ihn. Er sagte sich: Ich fahre ein ruhiges Gewissen. In den letzten Nächten habe ich sehr unruhige Gewissen fahren müssen. Manchmal haben die Herrschaften Blut, manchmal Kot zurückgelassen. Weiß der Teufel, von diesem Stadtrat hat man immer geglaubt, er würde einer der ersten sein, den die Unruhe über die Grenze jagt, und dem von diesem Deutschland weiter nichts zurückbleibt als die Erinnerung an ein paar gut verlebte Jahre in einem Schloß – oder von seiner einst sehr hochgeschätzten Person Blut und Kot in meinem Wagen.

Das Pfarrhaus lag in einer dichten Baumgruppe, die auch drei Seiten der Kirche umschloß. Der Stadtrat brauchte nicht geweckt zu werden. Er hatte ausgeschnarcht, sobald der Wagen nicht mehr rollte. Am Tor des Vorgartens wartete schon das Hausmädchen und führte den Stadtrat quer durch die Anlage nach einem Nebeneingang des Hauses, der auch gleichzeitig eine Verbindung mit der Kirche herstellte. Ein kleines, einfach möbliertes Vorzimmer und dann gleich das mit hohen Bücherregalen vollgestellte Studio des Pfarrers.

Das Mädchen knickste: »Der Herr Pfarrer kommt sofort.« Der Stadtrat setzte sich in einen der bequemen Sessel und brannte sich eine neue Zigarre an. Er sah auf dem Schreibtisch einen Stoß naziotischer Broschüren liegen, es reizte ihn aber nicht, in der einen oder anderen Schrift herumzublättern. Er wischte einen Gähnanfall weg und sah dabei nach einer vergrößerten Fotografie, die den Großvater des Pfarrers und auch den seinigen mütterlicherseits darstellte. Ein fetter geistlicher Herr in der Pose Martin Luthers, die Bibel übersetzend.

Der Pfarrer kam mit einer Flasche Kirsch auf Eis und Gläsern. Er wußte, wie man den Stadtrat in Form zu bringen hatte, wenn man von dieser Form zu profitieren gedachte. Sie begrüßten einander, als hätten sie an diesem Vormittag erst gemütlich an einem reichgedeckten Tisch gesessen. Und als der Pfarrer seinen Vetter fragte: »Im Amt bist du also noch?« antwortete der Stadtrat: »Ich habe ein paar Tage Urlaub genommen. Alma geht es nicht gut, du kennst ja ihre Ängste um Kleinigkeiten. Bitte, schenk ein, mir ist so.«

Sie tranken beide einen Kirsch und dann noch einen. Und jetzt brannte sich auch der Pfarrer eine Zigarre an und sagte: »Hältst du es für zweckmäßig, gerade jetzt Urlaub zu nehmen? Du fürchtest doch nicht etwa Insultationen?«

»Wären sie überhaupt geplant gewesen, dann hätte ich sie wohl schon hinter mir.« 146

»Ganz erstaunlich, daß man dich ungeschoren gelassen hat. Ich habe damit gerechnet, daß man dich ein wenig zausen würde. Aber ich hatte andererseits auch schon Möglichkeiten erwogen, dich herauszuhauen.«

»So . . . so, herausgehauen hättest du mich?« knarrte der Stadtrat mit belegter Stimme, ließ sich einen neuen Kirsch einschenken und spülte den Frosch weg.

»Wie lange ist es her, daß wir uns das letzte Mal sahen?« fragte der Pfarrer.

»Wie du ja weißt, habe ich nur Umgang mit Terminkalendern. Dort stand dein Name allerdings schon lange nicht mehr eingeschrieben. Ich kam heute spontan.«

»Ja . . . wie immer!« lachte ein wenig boshaft der Pfarrer.

»Keine Angst, Junge, es handelt sich heute nicht um Alma. Man schleppt sich so hin. Außerdem hat dein Gut-Zureden im vorigen Jahr die Sache nur noch verwirrter gemacht. Das heißt: bei Alma. Sie ist seitdem nicht mehr in die Kirche gegangen. Sie glaubt nicht mehr an die Reinheit der protestantischen Lehre.«

»Meine Andachten hier, in einem Arbeiterviertel, sind überfüllt, Sonntag für Sonntag.«

»Trotz Propaganda für das germanische Neuheidentum in allen Gazetten und öffentlichen Reden dieser neuen Herrschaften?«

»Weißt du überhaupt, alter Knabe, wer sang- und klanglos von der alten Bühne abgetreten ist und mit schmetternden Trompeten in das Neuheidentum marschiert? Deine Gesinnungsgenossen. Der Verein der Freidenker. Die Horcher an den Wurzeln des Wacholderstrauchs. Die ganze Gefolgschaft eines Herrn Bruno Wille.«

»Bruno Wille ruht schon unter der Wacholderwurzel. Aber seit wann zählst du mich zu diesen verschrobenen Schrebergärtnern?«

»Du hast ihnen immerhin städtisches Gelände für Nackttänze verpachtet; das heißt: geschenkt.«

»Ich habe nie mitgetanzt. Schneckenfrisuren und Plattbeine sind nicht mein Schwarm. Auch sollen manche dieser Lichtmenschen nicht minder dunkel und germanisch-nachgeschrumpft ausgesehen haben – wie etwa ein Herr Goebbels.«

»Das sagt man jetzt so.«

»Du . . . erinnere dich; ich habe städtisches Gelände für einen Pachtzins, von dem man sagen kann, er deckt nicht einmal die Kosten der aufgewendeten Schreibarbeiten, jenem Sportverein überlassen, der in voller Kriegsbemalung Nachtübungen abhielt mit Tanks und 147 Maschinengewehren. Das Gelände wird dir ja nicht fremd sein. Wenn ich nicht irre, hast du ein sogenanntes ›Rotes Bataillon‹ geführt. Straßenkampf-Übungen . . .«

»Mit ausdrücklicher Erlaubnis der Reichswehr, Herr Stadtrat.«

»Von diesen uns übergeordneten und höheren Mächten sprach ich ja auch, als die Kommunisten mich interpellierten und besonders dich anschwärzten.«

»Das hat dir ja auch einen Plus-Strich bei uns eingebracht.«

»Ihr Pfarrer seid jetzt also absolut und rundum für Heil Hitler?« fragte der Stadtrat und sah seinem Vetter fest in die Augen.

»Man muß bei der Neuverteilung zusehen, wo man bleibt.«

»Wer? Du allein? Das wäre unter Umständen begreiflich. Ein Pfarrer, der im Weltkrieg als U-Boot-Führer sich ausgezeichnet und ein paar Hundert Engländer und Franzosen nebst Kindern unschädlich gemacht hat . . .«

»Das Konsistorium entscheidet und nicht ein zufälliger, wenn auch verdienter Pour le mérite.«

»Die Hohe Kirchenbehörde . . . sieh an! Die Agitation zur Beseitigung der alten evangelischen Landeskirche tangiert nicht?«

»Nimmt es die Schwerindustrie etwa ernst, wenn den Arbeitern wieder einmal die Sozialisierung der Betriebe und allerhöchste Löhne versprochen werden? Lachen die Herren Bankdirektoren, mit denen du ja Umgang hast, nicht hell auf, wenn ein Herr Feder immer noch von der Brechung der Zinsknechtschaft faseln darf? Glaubst du, daß man den Mittelständlern das Maul stopfen wird mit zerschlagenen Warenhäusern?«

»Wofür hältst du mich? Diesen Schwindel mit sakrosankten Parteiprogrammpunkten haben wir doch schon längst durchschaut. Wer Geld gibt, sichert sich. Und verlangt für die auf faule Wechsel gegebenen Summen, auch wenn sie wider Erwarten sich in sehr robuste verwandelt haben, noch bedeutend robustere Zinsen. Und sie fangen ja auch schon an, diese Zinsen zu kassieren. Aber ihr . . . ihr habt gegeben, ohne Sicherheiten zu verlangen. Ihr habt euch sogar noch den Boden unter den Füßen lockern lassen und dabei auch noch mitgeholfen. Erwartet die evangelische Kirche tatsächlich einen Gewinn?«

»Ja . . . nach den Verlusten, die ihr uns in den ersten Jahren nach dem Krieg beigebracht habt . . . erwarten wir von der Seite, die wir nicht ungern ans Ruder haben kommen sehen, mindestens eine wohlwollende Duldung. Für den Anfang. Nachher eine bedeutende Erweiterung unserer von den Sozis beschnittenen Freiheit.« 148

»Redlich genug habt ihr euch ja auch abgeplagt. Der einstige Divisionspfarrer ist ja nicht der erste gewesen, der das Signal zum Anschluß gab. Hättet ihr aber mehr Witz gehabt, er wäre im entscheidenden Moment nicht abgesprungen, um sich selbständig zu machen.«

»Er wird wiederkommen. Er wird ein gemachtes Bett vorfinden. Es wird ihm wohl gefallen darin, wenn es die Pfründe eines Armeepfarrers ist.«

»Bei der Vergangenheit dieses Mannes nicht unmöglich; zumal er von dem in Bereitschaft stehenden gemachten Bett dauernd unterrichtet wird. Dein Risiko also läuft nicht auf Eis. Weiter gesehen aber: es geniert euch nicht, daß ihr auf das Wohlwollen dieses Herrn Hitler niemals werdet rechnen können?«

»Brauchen wir auch nicht, wenn wir das absolute Wohlwollen Hindenburgs, das heißt in diesem Fall: auch das der wehrhaften Preußen und der hohen Beamtenschaft haben.«

»Trotzdem diese fanatische Liebe zum Hakenkreuz?«

»Nur zu jenem Teil des Kreuzes, das uns die Bolschewiken vom Leibe hält – den Erz-Feind.«

»Richtig – bei Luther hieß es schon: der alt-böse Feind. Und der hatte Hörner und einen Pferdefuß. Das leuchtete ein bei allen, die eine Kohlrübe vom Feld stahlen oder der Frau Meisterin einen Groschen aus der Ladenkasse. Mit dem Bolschewik aber, wen wollt ihr damit schrecken? Die Schrebergärtner? Die Morgenpost-Leserinnen? Die Buchbinder- und Bäckermeister? Die verwitwete Frau Obersteuersekretär? Die werden sehr bald wieder den alten, lutherischen Teufel haben wollen.«

»Wir wollen die Kirchen wieder voll haben.«

»Gegen Hitler, der sie leer haben will und die Versammlungshäuser voll? Wo er allein der Gott ist und keine Nebengötter duldet. Und wenn seine Macht eine totale geworden sein wird . . . von den Kanzeln herab wird man ihn wahrscheinlich in die sonntäglichen Fürbitten einbeziehen, wie einst die deutschen Kaiser?«

»Das Staatsoberhaupt beziehen wir ein in unsere Fürbitten.«

»Das ist unter Ebert nicht geschehen. Obwohl Severing euch wiederholt zu verstehen gegeben hat, daß er zunächst ein gottesfürchtiger Mann sei und mit Dotationen nicht knausern würde. Und das hat er ja auch nicht.«

»Doch . . . es ist geschehen, daß wir auch unter Ebert die Fürbitten aufrecht erhielten; ohne Namensnennung des Staatsoberhauptes allerdings.« 149

»Du sagtest: ohne Namensnennung?«

»Ohne Nennung des Namens, den wir eigentlich meinten.«

»Das hieße also: Fürbitten zugunsten eines Mannes, der . . .«

»Der aus dem seit Versailles von den Juden verschweinten Deutschland wieder ein sauberes machen wird, durch den neuen Krieg und endlichen Sieg.«

»Sauber . . . das soll in erster Linie heißen: judenrein?«

»In den Krieg ohne Juden!«

»Das will der den Juden gegenüber sonst sehr tolerante Protestantismus?«

»Zunächst denken wir militärisch.«

»Ja, Herr Pfarrer, militärisch aufgezogen war die evangelische Kirche schon in den letzten Zeiten Luthers. Es hat sich im Prinzip nichts geändert seitdem. Es sind, wenn es einmal anders aussah, immer nur Formschwankungen gewesen. Gewisse Episoden aber . . .«

»Welche Episoden meinst du?«

»Mit einem Dutzend könnte ich dienen. Es gab zum Beispiel ja auch einmal den für das reine Evangelium sehr streitbaren Lessing, der trotzdem ein Freund des Juden Mendelssohn war. Und es sind unter der weiland Kaiserin Augusta nicht wenige Juden für Kirchenbauten Geheimer Kommerzienrat geworden.«

»Nationale oder gar schon getaufte Juden bitte, die sich außerdem bescheiden zurückhielten und an den Staatseinrichtungen nicht nörgelten, wie es Unsitte geworden war, seit die Mosses und Ullsteine ins Geschäft kamen. Solche Geschäfte . . . weg damit!«

»Das ist fürwahr Dienst am Hakenkreuz. Wenn ihr euch mit diesem Ochsendienst nur nicht verrechnet!«

»Du möchtest doch nicht etwa behaupten, daß dein Rechenexempel aufgegangen ist?«

»Es fängt an, aufzugehen.«

»Seitdem du die Pensionierung vom Dienst in der Tasche hast?«

»Wenn du es vermutest und mir das Wort sozusagen aus dem Munde nimmst . . .«

»Was wirst du gegen diesen Hinauswurf unternehmen?«

»Abwarten, mein Junge!«

»Das soll heißen: Du willst dir in aller Ruhe eine Chance ausrechnen?«

»Ich rechne eventuell mit dem Konzentrationslager. Oranienburg. Großaufnahme: ein Stadtrat, der mit der bloßen Hand Latrinen scheuert.« 150

»In Oranienburg liegt die Kompanie, die ich für den Straßenkampf, wie du vorhin die vaterländischen Übungen bezeichnet hast, ausgebildet habe. Man wird dich nicht piesacken, wenn ich den entsprechenden Wink gebe.«

»Damit ist mir nicht gedient.«

»Gut, lassen wir Oranienburg. Du hast dir also doch eine Chance ausgerechnet. Ich will dir entgegenkommen; wir brauchen einen zuverlässigen Gemeindediener, Sohn christlicher Eltern.«

»Seit Großmutters Tod, das sind jetzt wohl zwanzig Jahre her, habe ich das Wort eines Pfarrers nur von ferne gehört. Und bin auch aus der Übung gekommen, die Hände zu falten.«

»Dazu ist nicht viel Übung notwendig, nicht einmal so viel, wie man braucht, um in einem vorschriftsmäßigen Winkel den Arm hochzurecken. Auch das wirst du üben müssen, bei uns im Gemeindedienst.«

»Das rät ein Pfarrer mir, ein heute sehr zweifelhafter nationaler Mann; wie Rosenberg sagt: ein Feind, der sich vorzusehen hat, daß er nicht falle . . .?«

»Ich überlebe diese Rosenbergs. Diese Chance gebe ich dir auch. Du kannst morgen schon anfangen.«

»Um zu fallen . . .?«

»Um bei uns in Sicherheit zu sein.«

»Dein Kirsch, lieber Vetter, war zwar nicht allererste Klasse. Er hat mir jedoch die Beine wieder ein wenig sicher gemacht. Aber . . . und das sage ich jetzt dem evangelischen Pfarrer . . . : Die große Scheiße, die jetzt Deutschland überschwemmen wird . . . dieses stinkige Affentheater will ich mir doch lieber aus einer luftigen Höhe ansehen und Kuckuckseier legen!«

Er erhob sich, warf das leere Glas an eine der Bücherwände und verließ das Studio in einem so aufrechten Schreiten, als habe er in dieser Stunde klares, eiskaltes Brunnenwasser getrunken. 151

 


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