Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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V   Zur Strecke gebracht durch Narolt

Der Schuft, der in der linken Brusttasche das Mitgliedsbuch der SPD stecken hatte und rechterhand, seit zwei Jahren schon, dem »Kampfbund für deutsche Kultur« angehörte, hieß Narolt.

Sozialdemokrat war er geworden, als er Aussicht hatte, bei der Stadtverwaltung angestellt zu werden, und weil der Dezernent, der über Anstellung zu bestimmen hatte, als Sozialdemokrat galt und dementsprechend auch für das Brot der Parteigenossen sich sorgen würde. Und dem Kampfbund war dieser Narolt beigetreten, als ihm die Anstellung schließlich auch geglückt war. Aber nur durch die energische Nachhilfe seines Abteilungsleiters, den man für einen Kommunisten hielt, der er aber nicht war – sondern ein ›ewiger Revolutionär‹, mehr auf dem Gebiet des Kulturellen als im Parteipolitischen. In der Sprache der Nazioten: ein Kulturbolschewik.

Dieser Kulturbolschewik hatte den doppelseitigen und doppelzüngigen Narolt von der Straße sozusagen aufgehoben, aus dem grauenhaftesten Elend heraus und aus einer Situation, die eigentlich nur den Selbstmord noch zuließ.

Es war auf dem Wege zur Anstellung zunächst zu einer Probezeit gekommen. Dann wurde ein Vertragsverhältnis daraus, das von Halbjahr zu Halbjahr verlängert wurde. Und der Bolschewik hatte Narolt gehalten, obwohl schon dreimal das Kündigungsschreiben vom Tarifvertragsamt eingelaufen war. Er hatte sich menschlich von dem Elend des Mannes rühren lassen, dem dieser erbarmungslos ausgesetzt worden wäre, würde man ihn wieder auf die Straße zurückbefördert haben. Narolt war verheiratet, besaß zwei Kinder, und aus dem Krieg hatte er eine Beinverletzung mitgebracht. Er berief sich stets auf seinen Vater, der zeit seines Lebens ein echter deutscher Demokrat gewesen sei – Richtung Eugen Richter und später Friedrich Naumann. Er berief sich auch auf einen sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten, der zwischen 1916 und 59 1918 in seiner Kompanie Unteroffiziersdienste getan habe. Und er, der Herr Oberleutnant, habe dem Mann, wo es nur anging, Druckposten und sonstige Vorteile verschafft.

Dieser Landtagsabgeordnete jedoch sprach von seinem früheren Kompaniechef nie anders als von einem Schinderknecht und Lausebengel, der die vierzigjährigen Landsturmleute geschliffen hätte, und zwar so teuflisch gemein, daß die alten Leute es als eine Gnade und Erlösung empfunden hätten, im Stacheldraht hängenzubleiben und zu verfaulen.

Davon erzählte dieser Narolt allerdings nichts, wenn er aus seinen Kriegserlebnissen eine tragische Heldenballade machte. Er nannte aber Rudi Breitscheid einen »klugen Kopf«, und von Loebe, dem gewesenen Reichstagspräsidenten, sagte er, daß er bestimmt ein höchst anständiger Kerl sei, wenn auch ein bißchen beschränkt; er wäre ja auch bloß ein Buchdrucker gewesen, und der Sprung vom Setzkasten zum Präsidentenstuhl sei ein wenig zu überhastet genommen.

Narolt zeigte sein SPD-Mitgliedsbuch bei jeder Gelegenheit. Und wenn er das Frühstücksbrot aß, dann stocherte er im »Vorwärts« herum und zitierte gern entsprechende Stellen daraus. Nur das verschwieg er: daß alle Männer aus seiner Verwandtschaft in der SS oder SA dienten, daß er zu Hause den »Angriff« las, daß er keine Versammlung im Berliner Sportpalast versäumte, wo Hitler ein von Woche zu Woche immer skandalöseres Theater aufzog, daß er im Amt von früh bis spät herumspitzelte und den Unterbeamten gegenüber einen forschen Ton anschlug, daß er dauernd notierte und Berichte abfaßte und ein Exposé von dreißig Seiten Umfang im Braunen Haus abgeliefert hatte. In diesem Exposé war sein Direktor als Judenabkömmling und Freimaurer denunziert – sein Abteilungsleiter als ein »gefährliches kommunistisches Schwein« hingestellt, als ein Günstling des Stadtrats, zu dessen Dezernat dieses Amt gehörte. Als ein Säufer und Schürzenjäger und völlig unwissender und fauler Trottel, dem er die ganze Arbeit machen müsse. Kurzum: als ein feister Bock, den die üblichen marxistischen Schiebungen zum Gärtner gemacht hätten.

Es empfing diesen Denunzianten Herr Hinkel persönlich. Von Herrn Hinkel erhielt er auch die Mitgliedskarte des Kampfbundes – und für noch fernerhin zu leistende Dienste im Sinne des eingereichten Exposés die Zusicherung, an die Stelle des Abteilungsleiters gesetzt zu werden, wenn die Nacht endlich da sei, die Nacht der langen Messer und der rollenden Köpfe.

Man kann nicht sagen, daß Doktor Zibell ein schlechter 60 Menschenkenner war. Er lebte gewiß nicht auf dem Mond. Er hatte Bücher geschrieben, worin die unterschiedlichsten Menschen bis in ihre letzten Denk- und Gefühlsregungen hinein zerlegt waren, man könnte sagen: beinahe schon klinisch. Aber bei diesem mit einem schielenden Auge und einem Pferdefuß behafteten Narolt war er nicht einmal bis zu den Fettwülsten unter dem Kinn vorgedrungen. Dieser Typ hatte ihn nie interessiert. Als Angestellter aber erledigte Narolt die ihm aufgetragenen Arbeiten schlecht und recht, und mehr verlangte Doktor Zibell nicht von ihm.

Er war aber oft genug schon gewarnt worden von Leuten, die Narolt lange beobachtet hatten. Von Leuten, denen man private Rachsucht oder Gefühle des Neides nicht nachsagen konnte. Er schlug diese Warnungen jedoch in den Wind. Er legte sie zu den Akten: das heißt, in den Papierkorb. Er war in den beiden letzten Jahren mit einem umfangreichen wissenschaftlichen Werk beschäftigt, einer literarhistorischen Arbeit über die sozialen Elemente in der Dramendichtung des »Sturm und Drang« . . .

In solchen Perioden intensivster Arbeit war Doktor Zibell taub und blind für die Umwelt. Und das hatte dieser Narolt, der scharf beobachtete, weil er sich nur darauf konzentrierte, Material gegen seinen Abteilungsleiter zu sammeln, sehr bald heraus. Er brauchte sich nicht einmal raffiniert zu tarnen. Er konnte schalten und walten, wie es ihm paßte. Er galt bei den meisten Oberbeamten als ein besonders radikaler Sozialist und fanatischer Hasser der Hitlerbewegung. Er schimpfte über die Vorgänge im Parlament und auf der Straße und lockte aus seinen Zuhörern alles heraus, was an ethischen Unwerturteilen über den Anstreicher und das Gebaren seiner Leute gesagt werden konnte. Das Braune Haus erfuhr jede Äußerung sauber notiert.

Narolt schuf mit seiner Person und seiner infamen Doppelseitigkeit einen Fall, der für die aber tausend ähnlich gelagerten Fälle in den Staats- und Kommunalämtern typisch war. Und es werden mit diesem einen Fall in summa alle die Methoden aufgedeckt, deren sich die Agenten und Adepten Hitlers bedienten, um die »Zersetzung« so vollkommen zu machen, daß es nachher nur noch eines Fußtrittes bedurfte, um die unterwühlten Wände umzulegen.

Man kann den Doktor Zibell von Schuld nicht freisprechen. Er ist mit einer Binde vor den Augen durch die entscheidenden Tage gegangen. Er gehört zu jenen vielen Hunderten intellektueller Menschen, die noch um 1930 herum glaubten, daß der eigentliche Höhepunkt des Hitlerismus schon überschritten sei. Er sah nur das Negative, das er privat empfand, 61 er fand in dem ganzen Parteibetrieb der Braunen keine Idee, die auf die Dauer die Massen hätte halten können. »Sie sind hingelaufen wie zu einer Kirmes, sie werden auch wieder fortlaufen, wenn die Sensationen erschöpft sind. Hitler, ade!«

Zibell hatte sein festes Gehalt, er konnte auskömmlich davon leben. Er wußte um die Not der Arbeitslosen: fünf Millionen, sechs Millionen, sieben Millionen. Er verspürte die Not nur nicht am eigenen Leibe. Er schrieb scharfe Artikel gegen das Vorhandensein der Not, und er verlangte in seinem Geschriebenen, daß man die Not schnellstens lindere. Er drang mit seinen Untersuchungen und Feststellungen aber nicht bis zu den Wurzeln der Not vor. Und er deckte auch nicht die wirklichen Ursachen auf.

Er wurde vom »Angriff« immer herausfordernder bekämpft und geschmäht. Seine Rundfunkvorträge über literarhistorische Themen lehnten die Naziblätter auf das heftigste ab und faselten von dem zersetzenden Charakter dieser Untersuchungen, von dem »undeutschen, volksverräterischen Geist«. Der Verfasser dieser mit »TEUT« gezeichneten Schmähartikel war Narolt.

Doktor Zibell zahlte seit Jahren schon kleine Beiträge für die »Rote Kinderhilfe«, ohne, wie gesagt, eingeschriebenes Mitglied der kommunistischen oder sozialistischen Partei zu sein. Narolt wußte von diesen Zahlungen; der Einkassierer war ein unterer Beamter. Dem nahm Narolt dann und wann auch eine Wertmarke ab und verschaffte sich dabei Einblicke in die Zeichnungsliste.

Von einem jeden im Amt – Arbeitern, Angestellten und Beamten – lagen die von Narolt angefertigten »Steckbriefe« in der Berliner Nazizentrale. Und es waren unzählige Narolts in allen Ämtern für die Kartothek des Braunen Hauses tätig. Die meisten arbeiteten in der Maske von Sozialdemokraten – von jenen, die sich am 9. November 1918 eilfertig »auf den Boden der Tatsachen« gestellt hatten. Und mit solchen windschiefen Tatsachengestellen hatte die Sozialdemokratie viele Verwaltungsposten besetzt. Auf Anraten dieser Ebert, Scheidemann und Noske. Sie machte es damit den geschworenen Feinden der Weimarer Republik kinderleicht, Schlüsselstellungen zu besetzen. Mit dieser anfangs vielen einsichtigen Leuten nicht verständlichen Handlung gefährdete sie den Bestand der Republik, noch ehe der regierungstechnische Apparat in eine Aktion treten konnte. Mit eigenen Händen grub diese Republik sich ihr Grab und half mitzubauen an den Bunkern für die ehrlichen Anhänger des republikanischen Gedankens. Es war aber nicht allein die 62 Sozialdemokratie, die die Republik schon in ihrem Entstehen verriet. An ihrem Siechtum und schmählichem Zerfall war auch der bodenlose Unfug jener Kräfte beteiligt, die das Wort Demokratie überlaut im Munde führten, Profitwirtschaft aber meinten und wollten: jede private Interessengemeinschaft, als politische Partei plakatiert, in ihrer Weise.

Am Tage, als der Reichstag brannte, war Narolt nicht zum Dienst erschienen. Von seinem Neffen wußte er vom Alarmzustand der SA. Es war ihm zwar nicht genau bekannt, was eigentlich gespielt werden sollte und zu welcher Stunde. Auf alle Fälle aber wollte er fern vom Schuß sein. Er war zu feige, um mit dabeizusein, wenn seinem Abteilungsleiter etwas »Menschliches« passieren sollte. Noch vor acht Tagen hatte er dem Braunen Haus die privaten Gewohnheiten des Doktor Zibell mitgeteilt, die Familien benannt, bei denen er verkehrte, das Haus des Schwiegervaters und die Wohnung der Schwester. Die Dringlichkeitsliste der »Fünftausend«, die man in der Nazizentrale bereithielt, bekam die entsprechenden Zusatzvermerke. Alles war auf das genaueste eingeteilt, die Formationen bestimmt, die Verhaftungskarten lagen griffbereit, und in den SA-Kasernen waren die Keller längst hergerichtet, um Tausende von Gefangenen aufzunehmen.

Zibell war an diesem Abend allein in seiner Wohnung in der Badenschen Straße. Er saß am Schreibtisch und verglich die erste Ausgabe von Maximilian Klingers »Zwillingen« mit der Fassung des Stücks in der ersten Gesamtausgabe. Er machte sich eifrig Notizen. Und obwohl ihn eine linksseitige Neuralgie heftig plagte, schmeckte ihm dennoch die Arbeit. Das Abendessen lief ihm nicht weg. Er wollte warten, bis seine Frau von Rangsdorf zurückkam. Sie war bei ihrer Kusine, der Frau von Robert Steg. Der letzte Zug, mit dem sie gewöhnlich kam, wenn sie draußen war, lief gegen elf Uhr im Bahnhof Papestraße ein, dort mußte sie umsteigen. Jetzt war es knapp zehn.

Zibell hatte schon die Hand nach dem Telefon ausgestreckt, um ein Gespräch nach Rangsdorf anzumelden. Robert Steg war im gleichen Amt tätig und Dezernent der Geschichtsabteilung. Steg sollte ihm Auskunft geben, ob die Neuberin die »Zwillinge« gespielt habe und in welchem Jahr. Im »Goedeke« stand darüber nichts. Robert Steg aber hatte spezielles Material über das frühe deutsche Theater, er war eine Zeitlang Theaterkritiker des »Vorwärts« gewesen.

Der Summer ging, und jetzt wurde Zibell angerufen. Ganz aufgeregt und mit einem fremdartigen Klang schlug ihm die Stimme des Doktor Grätz entgegen. Er war in der Stadt bei seinem Vetter, dem 63 Verlagsbuchhändler Steffen, von dort telefonierte er: »Der Reichstag brennt! Ja, brennt! Bestimmt ein politischer Akt von weittragender Bedeutung. Vielleicht ist sie jetzt da, die schon lange angekündigte Bartholomäusnacht! Hast du verstanden?«

Zibell versuchte zu beruhigen, zu bagatellisieren. Er glaube nicht an einen Putsch unter den Augen der Reichswehr. Wahnsinn, mit braunen Bataillonen gegen Maschinengewehre und Flammenwerfer anzugehen!

Doktor Grätz aber warnte noch einmal, kurz und eindringlich. Er würde sofort nach Hause fahren: »Man kann nicht wissen, was alles über Berlin hereinbricht, wenn die Wilden losgelassen werden. Der Rundfunk spricht soeben von einem Anschlag der Kommunisten. Schalte den Apparat auf Wusterhausen. Du wirst umfallen. Wiedersehn!«

Zibell legte den Hörer auf und ging zum Fenster. Er sah auf die Straße hinunter. Kaum ein Passant. Trübes, schon ein wenig nebliges Wetter. Die Lampen schwammen darin herum wie hellrote Blutklumpen. Er schob den Vorhang wieder zurück und bewegte sich mit langen Schritten auf und ab im Zimmer. Er sah nach der Uhr: zehn Uhr dreißig. Wieder das Telefon. Er hob ab: Rangsdorf. Aufgeregte Stimme: »Martha bleibt über Nacht und kommt mit dem Frühzug.« Noch ein paar Worte, aber unverständlich. Knacken. Schluß.

Wie angenagelt blieb Zibell stehen, drei, vier Minuten lang. Mechanisch schlugen die Hände die Bücher zu, die ausgebreitet auf dem Tisch lagen. Auf den Gedanken, das Radio endlich einzuschalten und die Nachrichten zu hören, kam er nicht. Er hätte das zynische Pathos des Herrn Goebbels hören und sich einen Vers aus dem machen können, was diese durch und durch verlogene Stimme dem Mikrophon alles zumutete. Und danach das Heulen der anderen Stimmen . . . Hitler, Göring, Papen . . . wie ein Chor nächtlicher Gespenster. Sie sprachen von teuflischen Plänen der Kommune und füllten den Äther des gequälten Europa mit dem Schrecken eines von Rußland herjagenden schauerlichen Massakers, dem Deutschland einen Damm entgegensetzen würde und die rote Flut aufhalten oder umkommen darin . . .

Selbst wenn der Doktor Zibell diesen beispiellosen Aufwand an Lügen gehört hätte, er wäre doch nicht daraufgekommen, schnell in den Mantel zu schlüpfen, den Hut aufzusetzen und sich in Sicherheit zu bringen. Denn noch war es Zeit.

Er sagte sich im Hinundhergehen: Was kann man von mir schon wollen, selbst wenn diese Nacht solch eine Wendung nehmen sollte, wie es Doktor Grätz befürchtete? Ich bin Wissenschaftler und kein 64 Parteifunktionär. Ich kandidiere nicht für den Reichstag, ich sitze nicht im Stadtparlament. Ich bin Beamter und dafür durch entsprechende Examina qualifiziert. Ich schreibe und äußere meine private Meinung. Seit wann sind private Meinungen strafbar? Die Verfassung ist doch noch nicht außer Kraft gesetzt . . .

Er hätte sich jetzt wenigstens hinsetzen und essen können. Das Mädchen war nur in Tagesstellung. Um acht Uhr hatte sie sich abgemeldet, nachdem der Tisch hergerichtet war. Wenn Martha draußen in Rangsdorf war, gab es immer nur kalten Aufschnitt und Tee. Er hatte die Abendmahlzeit total vergessen. Die übergroße Spannung seiner Nerven äußerte sich in Schweißausbrüchen auf der Stirn und an den Schläfen. Er fuhr mit dem Tuch darüber hin und nahm die Wanderungen durch das Zimmer wieder auf. Einen Augenblick überlegte er, ob er den Kollegen Narolt anrufen solle. Doch wozu? Schnell gab er den Gedanken wieder auf, ging noch einmal ans Fenster und sah auf die Straße hinunter. Auf dem jenseitigen Bürgersteig, dicht an die Häuserwände gedrückt, bewegten sich die Schatten von drei, vier Männern. Uniformen? Fast sah es so aus. Das Fenster wollte er jedoch nicht öffnen. Jedenfalls hielt ein Wagen vor seinem oder dem Nachbarhaus. Es war sonst nichts Auffälliges zu bemerken auf der Straße. Irrsinnige Halluzinationen! Übertrieben ängstlich, dieser Doktor Grätz, schon ein wenig angesteckt von dem Milieu der Heilanstalt . . .

Er ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Als er im Schrank nach einem Glas suchte, ging die Klingel der Wohnungstür. Das Glas fiel ihm aus der Hand. Scherben. Rein mechanisch bewegten sich jetzt die Beine vorwärts. Er schaltete das Licht auf der Diele ein. Es klingelte noch einmal, sehr scharf, in diesem Moment, als er schon dicht vor der Tür stand, um sie zu öffnen.

Als er aufsperrte, drückten ihn zwei Männer in Zivil ein Stück in die Diele zurück. Er sah, daß auf dem Treppenabsatz zwei braun Uniformierte standen. Einer von den beiden Zivilisten legitimierte sich mit der bronzenen Polizeimarke. Und der andere hielt ihm eine rote Karte entgegen: Haftbefehl!

Doktor Zibell vergaß, den Mantel anzuziehen, er vergaß, die Schuhe zu wechseln. Es fiel ihm auch nicht ein, den Hut aufzusetzen. So wie er ging und stand, in der braunen Hausjoppe und den flachen, ledernen Pantoffeln, schoben sie ihn hinaus und schlugen die Tür zu.

Unten, auf dem Hausflur, stand die Portiersfrau. Die hatten die Geheimen herausgeklingelt. Sie stand da mit heruntergefallenem 65 Unterkiefer. Zibell hätte ihr sagen können: Benachrichtigen Sie sofort meine Frau, telefonisch, Rangsdorf 34. Aber es war eine absolute Gedankenleere in seinem Gehirn. Dumpf dröhnte der Hinterkopf. Ein Schock. Er stieß gegen das Gitter des Vorgartens. Der größere von den beiden Geheimen führte ihn zum Wagen. Zibell fühlte nicht einmal, daß man ihn brutal hineinstieß.

Er saß jetzt zwischen vier seinesgleichen, alle eng nebeneinandergepreßt. Vorn die beiden Uniformierten, hinten die Geheimen. In der Mitte fünf Menschen, herausgerissen aus dem seßhaften Bisher. Niemand sprach ein Wort. Die Geheimen hielten die großkalibrigen Pistolen schußbereit. In einem rasenden Tempo flitzte der Wagen. Lampen und Häuser drehten sich und flogen zurück, der Wagen stieß vorwärts und überholte Busse und Straßenbahnen.

Einer der Arretierten übergab sich, und Zibell fühlte es morastig über seine Hände rinnen. Ein anderer stieß mit einem Male einen irren, schrillen Schrei aus; ein Faustschlag machte den schreienden Mund wieder stumm. Ein dritter schnellte mit einem gewaltigen Satz hoch, flog aus dem Wagen und blieb auf dem Pflaster liegen. Als das Auto stand, liefen die beiden Uniformierten zurück und hoben den Flüchtling auf. Schädelbruch; das Blut quoll ihm aus Mund und Nase. Und sie schlugen mit den Stahlruten auf ihn ein und warfen ihn in den Wagen – auf die Köpfe der anderen vier, die sich jetzt erst duckten und abwarteten, bis der Mann nach unten rutschte, krumm dalag, mit dem Kopf nach unten, die Beine auf den Knien von Zibell.

Und so fuhr die Fracht durch das Tor, über zwei, drei Höfe, auf den vierten Hof, der von einer Tageshelle übergossen war durch einen Scheinwerfer vom Dach herunter.

Endlich hielt das Polizeiauto vor einem Gebäude aus gelben Ziegelsteinen. Es sprang ein Dutzend Braunhemden hinzu. Mit Fußtritten und Schlägen der Knüppel wurden die Gefangenen aus dem Wagen getrieben. Und den Mann, der unterwegs abgesprungen war, schleiften sie, seine Handgelenke umspannt, durch die weitgeöffnete und von einer starken Lampe begrellte Tür in das Gebäude.

Zibell war der letzte, den sie vorwärts trieben. Die beiden Geheimen übergaben einem Uniformierten, mit drei Sternen am Kragenspiegel, die roten Karten. Sprangen auf das Auto und fuhren wieder ab, neue Fracht zu laden. In dieser Nacht, als der Reichstag brannte, sind mehr als vierhundert solcher Kolonnen unterwegs gewesen.

Sechzig, achtzig Menschen standen schon in einem niedrigen, 66 weißgetünchten Korridor, in zwei Reihen, rechts und links, mit hochgereckten Armen, die Gesichter dicht an die Wand gedrückt.

Zibell ließ die Arme fallen, er hatte keine Kraft mehr in den Muskeln. Ein Schlag von der Seite gegen die Kinnspitze nahm ihm das Gleichgewicht. Er kippte um wie ein Schlachttier, das den betäubenden Hammerschlag erhält, eine Sekunde vor dem Stoß mit dem Messer. Er verspürte nicht die Beine, die jetzt auf ihm herumtrampelten. Er war fühllos gegen die Schläge, die seinen Kopf und die Schultern trafen. In seinem Gehirn brannte ein großes rotes Loch. Manchmal bekam dieses Loch, das er sich mehr vorstellte als daß er es fühlte, die Form eines Gesichts. Und der letzte Reflex des Denkens, noch einmal hochgeflackert, formte aus diesem Gesicht die grinsende Maske des Verbrechers Narolt.

Als diese Vorstellung längst schon wieder erloschen war und durch sein Unterbewußtsein nur noch ein gegenstandsloses Sausen und Brausen jagte, lag er auf den feuchten Steinfliesen in einem fensterlosen, kaum zwei Meter im Quadrat messenden Raum. Das rechte Bein war an drei Stellen gebrochen, der Oberkiefer eingeschlagen, beide Augen waren von einer faustgroßen Geschwulst geschlossen. Was an Zeug an seinem Leibe noch klebte, waren Fetzen, blutgetränkt, von Kot und Dreck umkrustet. Ein Bündel rohen Fleisches lag da, das noch atmete.

Die ihn in dieses Loch hineingeworfen hatten, hielten ihn für »erledigt«. Man war sich nur noch nicht darüber klar, wie man ihn »total« beseitigen solle; hier gleich in eine Zeltbahn einnähen und irgendwo im Wald verscharren oder nach dem Leichenschauhaus schaffen und denen dort das weitere überlassen. Für sie war die Hauptsache dieses Falles erledigt. Wieder ein Bolschewik weniger! Ein Ungeziefer zertreten!

Es kamen noch elf »Bolschewiken« in dieser Nacht hinzu. Und es war darunter auch der Sohn des Buchhändlers Steffen, ein sechzehnjähriger Gymnasiast, aus jenem Hause, von dem aus der Doktor Grätz vor ein paar Stunden noch mit Doktor Zibell telefoniert hatte.

Als man diese zwölf in den Morgenstunden zwischen drei und vier auf das Lastauto warf, ein paar Bunde Stroh darüber, war Zibell der einzige, der noch etwas Puls hatte und einen kaum wahrnehmbaren Atem. Das stellten jedoch nicht die SA-Soldaten der Kaserne General-Pape-Straße fest, auch nicht die Kerle, die im Hof des Leichenschauhauses das Auto leerten. Es war nur eine ganz zufällige Wendung in der Inspektion des Arztes, der für die Formalitäten der Totenscheine beordert war, weil sich die in dieser Anstalt ständig tätigen Ärzte geweigert hatten, diese Scheine auszustellen, daß Zibell vor dem Verbrennen bewahrt wurde. 67 Der Arzt hielt sich diesmal nicht an den ihm aufgegebenen Modus, Fälle solcher Art dem Staatskrankenhaus zu überweisen. Er ließ Zibell in das Urban-Krankenhaus schaffen. Ein namenloses Stück Mensch. Ein bißchen Odem, für das eine kräftige Spritze die Erlösung und eine Gnade gewesen wäre.

Im Urban-Krankenhaus taten die Ärzte an dem Namenlosen, was sie nur tun konnten. Viele von ihnen waren durch die Höllen der Kriegsspitäler gegangen. Es war ihnen nichts mehr fremd. Die grauenhaftesten Verstümmlungen machten keinen Eindruck. Hier dieser Mann aber riß doch noch einmal an ihren Nerven herum. Sein Zustand löschte für ein paar Stunden die Sensation des Reichstagsbrandes aus. Er war ein demonstratives Objekt dieser Nacht der langen Messer und der Kriegsgeschreie: Heil Hitler! Deutschland, erwache! Juda, verrecke!

Die Fleischwunden und Knochenbrüche heilten normal. Der Verstand aber lag irgendwo weit hinten in einem nicht deutbaren Dunkel. Was dem Magen eingeflößt wurde, das behielt er bei sich und verdaute es. Wenn an dem Körper herumgeschnitten, gebeizt und gewaschen wurde, schien es so, als habe man einen Toten unter den Händen, nichts zuckte oder bewegte sich.

Und als die Ehefrau, Martha Zibell, nach sieben Wochen langem Suchen, nach mühseligen Wanderungen und Irrfahrten von Instanz zu Instanz und von Spital zu Spital, endlich vor dem weißen Bett stand, gestützt von einem Arzt, da huschte gerade ein wenig Sonne über das grüne Gesicht mit den geschlossenen Augen. Und die gelben, durchsichtigen Hände lagen mit gespreizten Fingern auf der Decke, leblos, wie aus einem Stück Wachs roh herausgeformt.

»Das Herz . . . das Herz . . .«, sagte der Arzt. »Das hat durchgehalten. Und die Schläge mit den Prügelinstrumenten haben nur einen Teil der Nerven demoliert. Das läßt immerhin Hoffnungen zu. Wir werden den Mann durchbringen. Sie werden ihn wiederbekommen. Ein wenig anders zwar, liebe Frau. Aber besser etwas als gar nichts.«

Am zwölften Tage nach diesem Besuch, als Narolt die Urkunde seiner Ernennung zum Abteilungsleiter erhielt, war es auch mit dem Herzen des Doktor Zibell zu Ende. 68

 


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