Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XIV   Tumbichs Uhr ist abgelaufen

Der Graf hatte den Befehl gegeben, ohne Aufenthalt bis nach Baruth durchzufahren. In Königs Wusterhausen aber ging einem Reifen die Luft aus. Und schräg gegenüber der Stelle, wo sie das Rad wechselten, ganz aufgeregt über diesen fatalen Zwischenfall, lag eine Kneipe. Früher Vereinslokal der Arbeitersportler.

Jedesmal, wenn die Tür aufging, schlug ein schwerer grauer Dampf heraus. Und Tumbich hob den Kopf, witterte in der Luft herum, nahm die Nase voll und sagte zu seinen Kameraden: »Ich stelle fest, daß das Auto uns angehalten hat und wir nicht das Auto, – das für den Fall, daß der Graf meckern sollte. Und weil wir jetzt nun einmal hier sind: es riecht nach Wurstsuppe! Jungens, es ist schon lange her, daß ich eine frische Blutwurst geschmeckt habe. Ich halte mich jetzt an den Appetit auf Blutwurst. Auch dürstet mich nach einem Bier. Wir haben noch eine lange Reise vor uns und vielleicht eine schwierige Arbeit.«

Sie waren, außer dem Chauffeur, ihrer drei – SA-Soldaten in langen Stiefeln und grauen Mänteln. Und sie rochen jetzt alle vier in der Luft herum und hatten Appetit auf Wurstsuppe und Bier. Für die Panne war niemand verantwortlich. Die Kneipe hatte schon immer an dieser Straßenseite gestanden. Und Berlin war weit und der Graf noch ein gutes Stück weiter, bei seiner kleinen Freundschaft nämlich, die ganze liebe Nacht.

Ein sprühfeiner, nichtsnutziger Regen nieselte herab. Die Nässe fror durch die Mäntel hindurch, und die Wärme aus dem Lokal schlug bis auf die Straße hinaus. Es roch immer schärfer nach der gewürzten Brühe. Und Tumbich sagte: »Zehn Minuten wollen wir noch zugeben, damit aus dem Schrecken eine Fettlebe wird.«

Und er und der Chauffeur machten den Anfang. Karl Schimmel und Hannes Boldt sollten solange im Wagen zurückbleiben und dann den zweiten Gang nach der Kneipe machen. Der Wagen war ein schwerer, 164 dunkelgrün lackierter Mercedes-Compressor mit Nickelbeschlag, und innen die Polster waren aus weinrotem Saffian, daunengefüttert. Dieser Luxuswagen stammte aus einem Raubzug der Staffel Tumbich bei einem jüdischen Bankier in Wannsee.

Auf den Vordersitzen lag ein grauer Leinensack. Es war eine Bewegung darin wie das rhythmische Auf und Nieder von Atemzügen. Und während Tumbich, der über die Straße stapfte, als übe er Parademarsch, die Pistole wieder in das Futteral gesteckt hatte, hielten Schimmel und Boldt ihre Waffen schußbereit. Sie hatten die Rücklehnen der Vordersitze zwischen sich und dem Sack. Das Klopfen des Herzens aber drang durch die Polsterung, und Schimmel verspürte es bis in die Kniescheiben hinein. Er zog die Beine zurück und schüttelte sich.

Hannes Boldt fragte ihn: »Du kannst wohl nicht die Zeit abwarten? Wenn du gehen willst und dir von Tumbich einen Anhauch holen . . . meinetwegen geh. Mit diesem Dreckhaufen hier werde ich wohl auch noch alleine fertig. Und wenn er sich etwa entzaubern sollte . . . dann werdet ihr ja die Pistole knallen hören.«

»Weshalb soll ich den Verrückten unnütz reizen? Tumbich hat befohlen, daß wir hierbleiben sollen . . . schön, bleiben wir hier!«

»Ich dachte nur, weil du schon Unruhe in den Beinen hattest. Und außerdem kann uns der Tumbich goar nix! Das Wort hat er gebrochen und nicht wir.«

»Diesem Kerl hier schlägt das Herz, daß man es durch den ganzen Wagen hört. Das nämlich hat mich vorhin so erschrocken.«

»Es wird nachher so laut schlagen, daß du dir die Ohren wirst zuhalten wollen. Bei Anfängern soll das häufig vorkommen.«

»Anfänger . . .? Das kommt bei mir wohl nicht in Betracht, Hannes! Du bist doch nur ein halbes Jahr länger bei der Formation. Ich will dir aber ganz offen sagen: so sauwohl wie dir ist es mir nicht bei diesem Geschäft.«

»Ein Jude! Ein krummer Jude! Das ist doch noch weniger als ein Schwein, dem man eins auf den Brägen gibt, ehe es an die Wurscht geht. Und wenn es gar noch ein polnischer Jude ist und solch ein feuerroter Hetzer . . . du, dann fällt der Klaps auf den Brägen unter allen Umständen aus, dann werden die Därme aus dem lebendigen Leibe herausgehaspelt und ihm um den Hals gedreht. Solche Geschäfte, die lernen sich sehr schnell. Das geht ab, wie wenn man sich hinter einen Strauch hockt und einen netten, runden Kaktus hinpflanzt. Und wenn du ihn los bist, diesen Kaktus . . . dann ist dir sauwohl zumute. – Du mußt dafür sorgen, Karl, daß du mehr im Bulettenkeller beschäftigt wirst. Damit du dich an den 165 Blut- und Fleischgeruch endlich gewöhnst. Und wenn du den Bogen heraushast, wird auch der zweite Stern am Kragen nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sieh mal, dein Bruder August, der hat ihn schon längst. Der ist fleißiger gewesen. Der hat drauflos gedroschen wie Blücher mit Heil und Hitler für das Vaterland.«

»Ich habe auf dem Paukboden manches Schlachtfest mitgemacht. Es ist doch etwas anderes, wenn man jemand vor sich hat, der auch keinen Spaß versteht, in jedem Fall aber kein Wehrloser ist, der auf dem Bock liegt und zappelt.«

»Das Zappeln, das ist erst die richtige Musik, die einen warm macht. Warte mal ab: in der nächsten Woche tust du in meiner Kolonne Dienst. Ich werde dir Extrastunden geben.«

»Dienst ist Dienst!«

»Na also, Männe!«

»Außerdienstlich darf man sich aber doch Gedanken machen über den Betrieb im Dienst?«

»Nee, das gerade darf man nicht. Ein Soldat, der denkt, ist kein Soldat. Der Soldat empfängt Befehle, von ganz oben herunter bis tief nach unten. Die gewisse Hühnerleiter, verstehst du? Das Denken, das überlasse man ruhig den Professoren. Vom vielen Denken sind sie nämlich auch so grau und verstaubt geworden, wie sie aussehen. Wir aber sind dazu da, zu blühen und zu gedeihen. Und uns auszuleben für Deutschlands Größe, Ehre und Ruhm.«

»Auch wenn ich die Gedanken abstelle . . . nachher sind sie doch wieder da; man braucht nur die Augen zuzumachen. Ich habe früher nie so häßlich geträumt.«

»Du mußt dir einen kleinen Hampelmann anschaffen; ganz gleich, ob es eine Sie oder ein Er ist. Nur strampeln können muß das Gestell. Und dir das überschüssige Zeug herausholen aus dem Gefühl.«

»Man hat ja nie Zeit dafür.«

»Man nimmt sich einfach die Zeit. Ich nehme sie mir heute nacht auch. Ich fahre mit euch nicht zurück, komme morgen früh nach mit der Bahn. Tumbich wird wohl das Ding beim Grafen schon alleine schaukeln können.«

»Du willst dortbleiben?«

»Ein Abwaschen, Männe!«

»Wie meinst du?«

»Erst der Jude Erde zu Erde. Und dann das Kußvergnügen bei der alten Liebe. Das zusammen ergibt einen guten Schlaf.« 166

»Ach so . . . deshalb hast du diesen komischen Begräbnisplatz ausgesucht?«

»Komisch? Das war früher mein Tanzplatz, verstehst du? Mondschein und Maiblumen. Manchmal auch ein Kuckuck dazu, wenn es anfing, hell zu werden. Und Margarete hatte ein wundervolles weißes Fell, wie eine Elfe. Das alles ergab zusammen die deutsche Romantik, so wie wir sie uns in der Literaturstunde auf dem Gymnasium vorgestellt haben. Heute freilich hat Margarete Hängepietzen und eine gepolsterte Unterlage. Aber sie kommt!«

»In den Wald? Ich hatte schon Furcht, daß wir uns da nicht zurechtfinden werden.«

»Du . . . mit verbundenen Augen finde ich mich durch die dichteste Schonung hindurch. Ganz früher hat man dort Krähennester ausgehoben und Jagd auf wilde Karnickel gemacht. Heute soll man die jüdischen Säue dort aussetzen. Der Graf war mal draußen bei uns, als er sich verkriechen mußte vor der Genossenschaftsmeute des Herrn Severing. Daher die Erinnerung an Hannes Boldt und die Försterei und den Fichtenwald.«

Tumbich und der Chauffeur kamen aus der Kneipe zurück. Der eine hielt zwei Literkrüge Bier in der Hand, der andere die warmen Würste. Und mit der einen freien Hand machte Tumbich die Wagentür auf :«Ich habe euch den Weg abgenommen, wenn ihr nichts dagegen habt. In der Kneipe stinkt es nach Proleten. Sie haben uns nach Strich und Faden beschielt. Es ist nicht nötig, daß ihr euch auch noch von diesen Käsegesichtern anrotzen laßt. Los, sauft euch die Hucke voll. Die Wurscht könnt ihr nachher verputzen. In der Tasche habe ich die Brötchen dazu.«

Sie tranken die Töpfe leer, und der Chauffeur trug sie wieder in das Lokal zurück. Tumbich gab jedem zwei Brötchen und schob Karl Schimmel aus dem Wagen hinaus: »Mach, daß du wieder nach vorn kommst. Und wenn es dich frieren sollte . . . dann stoß den Fahrer mal an. Der Cognac, den er bei sich führt, ist Klasse!«

Karl Schimmel wartete, bis der Chauffeur zurückkam, ließ ihn ans Steuer und setzte sich daneben. Der Wagen rollte um die Ecke, ein paar holprige Straßen flogen vorüber. Von den Giebelfenstern der niedrigen Häuser hingen die Fahnen bis zur Erde herunter; der Nebel nahm ihnen jede Farbe. In der Windstille standen sie wie schwarze Pfeiler vor den Wänden.

Es regnete stärker. Die Scheiben hatten schräge, aus Perlen zusammengesetzte Streifen. Tumbich und Hannes Boldt qualmten eine 167 Zigarette nach der anderen. Sie mußten schließlich das Fenster an der Seite, wo der Regen nicht so hart schlug, ein Stück herunterlassen. Aus dem Sack heraus kam ein dumpfes Geräusch. Tumbich schlug ein paarmal mit der Faust zu. Und Hannes Boldt brummte: »Es stinkt zum Kotzen!« Und Tumbich antwortete: »Dann kotz doch! Aber auf den Juden!« Und Hannes sagte weiter: »Der hat sich wahrscheinlich die Hosen vollgeschlabbert. Sonst könnte es nicht so stinken.«

Tumbich reckte sich auf und roch: »Wenn das Schwein sich hier so aufgeführt hat, dann soll er den Dreck auch fressen, ehe die Erde und die Wurzeln ihm schmecken werden.«

Oft hatte der Regenschlag einen Ton, als würde jemand andauernd Sand gegen die Scheiben werfen. Und Tumbich holte die flache Cognacflasche aus der Gesäßtasche. Es gluckste eine ganze Weile in seinen Hals hinunter. Hannes Boldt nahm nur einen kleinen Schluck. Dann und wann kam der Wagen ins Schleudern, und die beiden Körper flogen zusammen. Und Tumbich brummte: »Bei mir hängste aber mit deinen freundlichen Annäherungen!«

Hannes Boldt sah zum Fenster hinaus, als er die Lichter einer Ortschaft auftauchen sah. Der Chauffeur hatte den richtigen Querweg genommen, ohne daß Hannes ihm Bescheid gegeben hatte. Der Wagen fuhr jetzt auf die Parallelstraße zu und nahm die gerade Strecke nach Baruth. Sie hatten den Umweg gemacht, um in jedem Fall die Spur zu tarnen. Beim Reifenwechsel hatte auch das Nummernschild eine kleine Änderung erfahren: Aus 37264 war 39204 geworden.

»Also noch zehn, zwölf Minuten, mein Lieber, dann haben wir das Forsthaus erreicht. Und nach dem gibt es ein paar Hundert Meter einen ganz schauerlichen Weg. Aber gleich ist dann auch die Schonung da. Mit dem Regen scheint es jetzt aufgehört zu haben.«

»Den stinkigen Sack wird der Chauffeur sich wohl am besten auf den Ast nehmen und bis zur Hütte tragen? Oder willst du?«

»Ich . . .? Dir haben sie wohl?! Soll der Chauffeur sich abbuckeln. Und auch erst an Ort und Stelle darf der Jude sehend werden. Dann wird er vielleicht merken, wie man vom Hellen mit einem Male ins Schwarze kommt durch Heil Hitler!«

»Das ist nicht dein bester Witz gewesen, den du da gemacht hast, Hannes. Wenn du dich nachher bei der alten Feld-und-Wiesen-Liebe nicht mehr anstrengst, blamierst du unsere Firma.«

Es war jetzt zu merken, daß der holprige Feldweg unter dem Wagen lag. Die Räder mußten tüchtige Sprünge machen. Der graue Sack, quer 168 auf den beiden Vordersitzen, sprang im gleichen Tempo mit. Und immer war ein Geräusch dabei, wie wenn aus einem kleinen Loch in einem Ball Luft herausströmt.

Mit einem plötzlichen Ruck hielt der Wagen. Der graue Sack schnellte hoch und fiel, halb festgeklemmt, auf die Erde. Tumbich bog sich nach vorn, die Hand mit der Pistole ausgestreckt. Es rührte sich aber nichts. Und Hannes Boldt sagte: »Wenn der Misthund, der verfluchte, sich das Genick gebrochen hat, müssen wir selber den Spaten nehmen. Schöne Bescherung!«

Der Regen hatte aufgehört. Die zerrissenen Wolken verspürten schon den Mond. In Pausen wurden sie heller und dunkler. Es war eine Birkenallee, die den Kiefernforst links und rechts vom Weg einsäumte. Die glatten weißen Stämme gespensterten herum wie ein Haufen hochgestellter Knochen.

Der Chauffeur war schon vom Wagen herunter und ließ Wasser. Und auch Karl Schimmel stieg ab und stellte sich daneben. Tumbich blieb sitzen, bis Karl fertig war und dann den Wagenschlag öffnete. Und als Tumbich dann auf der ziemlich trockenen Erde stand, entsann er sich der Cognacflasche und gab ihr den Rest. Hannes Boldt zog den Spaten aus dem Wagen und wartete, bis der Chauffeur den grauen Sack auf dem Buckel hatte. Dann ging er voran; die anderen folgten dichtauf, Tumbich, mit der Pistole in der Hand, bildete den Schluß.

Als sie den freien Platz (ein viertel Morgen im Geviert, und in der Mitte die zerfallene Jagdhütte) erreichten, hatte der Mond sich Luft verschafft und schaukelte wie ein weißes Boot auf den Wellen zwischen den beglänzten Wolken herum. Der Wind schüttelte die jungen Kiefern. Die schweren Tropfen aus den Spinngeweben polterten ins Gras hinunter.

Der Chauffeur trug den grauen Sack noch immer auf dem Buckel, als Tumbich und Hannes schon die Stelle aussuchten, wo ihnen die Erde weich genug schien, schnell eine Grube zu machen. Ein altes, längst wieder zugeschüttetes und schon mit Gras bewachsenes Wurzelloch hielt Hannes Boldt für ein Grab geeignet. Er stieß den Spaten hinein, und darauf gingen sie zehn Schritte wieder zurück.

Tumbich fuhr den Chauffeur an: »Mensch, schmeiß das Mistpaket doch endlich hin! Habe ich dir befohlen, daß du mit dem Sack so lange herummarschieren sollst?«

Der Chauffeur ließ den Sack fallen, er plumpste in das Kraut, als wäre er mit Treber gefüllt. Hannes Boldt zog das Messer aus der Scheide und schnitt den Sack der Länge nach auf. Der mit Lederriemen 169 zusammengeschnürte dunkle Körper eines Menschen wurde jetzt sichtbar. Tumbich versetzte ihm mit der Stiefelspitze einen Stoß, so daß das Gesicht im Herumrollen nach oben kam. Der Mond begrellte es. Über Mund und Augen liefen schmale weiße Bänder. Hannes Boldt schnitt nun auch die Riemen durch, die Arme des Entfesselten fielen herunter, als hätten sie sich, schon verwest, vom Körper gelöst.

»Hoffentlich lebt das Schwein noch«, meckerte Tumbich und bückte sich zu dem zuckenden Körper hinab. Und gleich darauf stieß er ihn ein paarmal heftig in die Seite. Die Arme verkrampften sich auf der Brust, und die Beine hoben sich in den Knien.

»Hei lewet noch!« schrie Tumbich. »Dein Glück, Jude, daß du hier noch einmal tanzen darfst, auf dieser heiligen märkischen Erde, ehe der Teufel dich in alle vier Winde pustet. – Hebt ihn jetzt mal hoch, Jungens, damit wir sehen, ob die krummen Eisbeine wieder das Gleichgewicht haben.«

Der Chauffeur und Karl Schimmel packten den Mann an, hoben ihn hoch und stellten ihn auf die Beine. Das rechte Knie sackte sofort wieder ein. Die beiden SA-Männer griffen schnell zu und stützten ihn. Hannes Boldt riß vom Mund und von den Augen die Leukoplast-Streifen herunter, mit einem so brutalen und jähen Ruck, daß die Augenbrauen mitgingen. Aus dem Mund, der heftig blutete, kam ein Gurgeln, Worte, die nicht zu verstehen waren.

Auf einen Wink von Tumbich führten die beiden Soldaten den Mann zu der Stelle, wo in der Erde der Spaten stak.

Die zehn Schritte Bewegung hatten dem Delinquenten den Krampf aus den Gliedern genommen. Er hob ein wenig den Kopf empor und sah nach dem Mond. Das Blut aus dem Mund rann ihm den Hals herab. Der Chauffeur und Karl Schimmel ließen ihn jetzt los. Er versuchte, die Arme zu recken – schlaff fielen sie wieder zurück.

Tumbich stellte sich dicht vor den Mann hin: »Du siehst hier einen Spaten stehn, Jude. Vielleicht hast du solch ein Ding noch nie mit deinen Geld zusammenscharrenden Händen berührt. Aber jetzt wirst du damit dein Himmelbett graben. Und wenn du es gegraben hast, drei Vaterunser beten. Auf Jiddisch, verstehst du? Das Heilige Vaterunser auf Jiddisch, so, wie man in der Grenadierstraße den Schacher mit alten Hosen macht. – So . . . und nun erzähle mir mal, du koscheres Schwein: Wie ist das mit dem Hellsehen? Fährst du wieder zurück in Abrahams Schoß, oder werden Brennesseln aus deinen stinkigen Gedärmen herauswachsen?« 170

Der Mann sah Tumbich unentwegt in die Augen; große, unheimlich offene Augen. Und mit einem Male fuhr es aus dem blutenden Mund heraus: »Ja . . . du bist dabei gewesen . . . du hast die Zündwolle unter die Pulte geworfen. Du bist der Brandstifter! Und es wird auch nur ein blutiger Fetzen von dir übrigbleiben . . .«

Als Tumbich die Faust hob und dem Hellseher mit dem Knauf der Pistole ins Gesicht schlagen wollte, duckte sich der Mann und sprang einen Schritt seitwärts. In diesem Augenblick feuerte Hannes Boldt die Pistole ab.

Drei Kugeln trafen den Kopf, zwei die Schulter. Durch den Körper, der auf dem grasigen Boden hin und her rollte, ging ein schlagartiges Zucken. Tumbich riß den Spaten aus der Erde und schlug auf den Toten so lange ein, bis eine formlose Fleischmasse im Kraut herumklebte. Der Chauffeur und Hannes Boldt sprangen hinzu und rissen Tumbich den Spaten weg. Sie mußten den wild um sich schlagenden Truppführer festhalten. Er hatte grünen Schaum vor dem Mund, und die Pupillen seiner Augen standen schief.

Eine ganze Weile mußten sie ihn so halten, und sie hatten eine schwere Last mit ihm. Karl Schimmel stand ein Stück abseits; er hatte sich übergeben müssen.

Als der Anfall endlich vorüber war und der von epileptischen Krämpfen verbogene Körper ins Gleichgewicht sich zurückdehnte, war Tumbich so erschöpft, daß sie ihn ins Gras setzen mußten. Der Chauffeur wischte ihm den Schaum vom Mund und flößte ihm ein paar Tropfen Cognac ein. Und auch Karl Schimmel mußte einen Schluck nehmen. Er war so grün im Gesicht wie die fiedrigen Blätter der Farnstauden.

Hannes Boldt sagte zum Chauffeur: »Tu mir den Gefallen und mach jetzt schnell das Loch, damit wir von hier wegkommen.«

Tumbich röchelte und stöhnte. Der Chauffeur hatte sich die Lederjacke ausgezogen und machte mit wuchtigen Grabstößen das Loch. Dann zerrte er mit dem Spaten den Fleischklumpen in die Grube, warf den grauen Sack hinterher und schüttete Erde hinzu. Hannes Boldt half ihm beim Festtreten. Zuletzt legten sie Äste von einem Haselnußstrauch darauf.

Auf der Lichtung, an der alten Jagdhütte vorüber, jagte eine Wildsau mit einem Dutzend Frischlingen durch das Kraut. Tumbich erschrak und warf sich lang auf die Erde. Sie hoben ihn auf und mußten ihn den ganzen Weg bis zum Auto zurückführen. Erst als er im Wagen saß und die weichen Polster unter sich verspürte und die Zigarette schmeckte, die 171 Karl Schimmel ihm anbrennen mußte, wurde er ruhiger, und gleich darauf fing er auch schon wieder an, den Vorgesetzten zu markieren. Hannes Boldt aber zischte ihm ins Gesicht: »Du hältst jetzt das Maul, verstanden? Sonst wird dafür gesorgt, daß der Graf einen anderen Begriff von dir bekommt!«

Tumbich biß die Zähne zusammen, daß die Kiefer knackten. Ein wahnsinniger Schmerz stieg in sein Gehirn hoch, und damit betäubte er einen Wutanfall über den Rüffel, der ihm hier von einem Untergebenen aufgezwungen wurde.

»Ich bleibe jetzt hier«, sagte Hannes Boldt. »Den Umweg braucht ihr nicht zu machen. Ihr könnt die Chaussee geradeaus fahren. In zwei und einer halben Stunde müßt ihr in Berlin sein, wenn ihr gehörig Dampf macht.« Karl Schimmel gab er einen Wink, daß er sich wieder nach vorn zum Chauffeur setzen solle, und zu Tumbich sagte er: »Für dich wäre es besser, wenn du dich langstreckst und die Augen zumachst.«

»In Ordnung, die Scheiben sollen klirren, so viel Holz wird Tumbich sägen!« Und mit einem Male fing er laut zu lachen an. Hannes Boldt schlug die Wagentür schnell zu, und der Chauffeur gab Gas. In fünf Minuten war der Wagen wieder auf der glatten, harten Chaussee.

Bald rasselten scharfe Schlaftöne durch den Wagen. Karl Schimmel kurbelte die Verbindungsscheibe hoch und überredete den Chauffeur, wieder den Weg zu fahren, den sie gekommen waren. Und der Chauffeur antwortete: »Das sowieso!«

Nach einer Weile sagte Karl Schimmel: »Ich kann nicht verstehen, weshalb man hier dieses Theater mit dem Juden aufgeführt hat. Das wäre in der Stadt doch viel einfacher und kürzer gegangen. So wie es bei den vielen anderen gemacht worden ist, die ausgerottet werden sollten.«

»Natürlich hätte man das machen können. Aber . . . der Jude sollte sehr heimlich beseitigt werden. Und es war ja auch vorgesehen, daß er sich das Gehirn zerknallen sollte, vor uns als Zeugen. Es sind da nämlich ein paar prominente Leute, die wollen nicht, daß aus der Sache eine lange Merde gemacht wird. Was dahintersteckt, der Teufel soll's wissen! Vielleicht wußte der Jude manches, was er nicht wissen durfte. Jetzt wird der Tumbich dem Grafen wohl einen anständigen Bären aufbinden müssen. Und wenn wir gefragt werden . . . daß der Jude erledigt ist, das kann man mit guten Gewissen ja sagen. Mehr möchte ich aber nicht wissen.«

Sie passierten wieder die Kneipe in Königs Wusterhausen. Und hielten an, schlossen die Wagentür ab und ließen Tumbich weiterschnarchen. Sie saßen eine geschlagene Stunde beim Bier und aßen und rauchten. 172 Und es schien, als wollten sie die Nähe des Grauenhaften damit wegwischen. Sie sprachen auch wenig miteinander. Der Chauffeur glotzte oft vor sich hin wie ein Halbirrer. Sie sahen nicht die beiden Leute, von denen sie eine Zeitlang beobachtet wurden. Sie merkten auch nicht, wie die Leute mit einem Male verschwanden. Und hatten keine Ahnung davon, daß diese Leute an der anderen Ecke der Straße einen schnellen Sportwagen ankurbelten und über die Chaussee nach Berlin rasten.

Als der Chauffeur und Karl Schimmel das Lokal verließen, ein wenig mitgenommen von dem hastig getrunkenen Bier, sagte der Chauffeur: »Na . . . in einer halben Stunde haben wir Johannisthal. Und dann wird mir ein Stein weniger auf der Brust liegen. Aber wie ich diesen Verrückten nachher aus dem Wagen herauskriegen werde . . . diese Frage ist noch nicht gelöst.«

»Ich werde den Tobsuchtsanfall so bald nicht vergessen! Ein sonderbarer Mensch. Mir ist er schon immer unheimlich gewesen!«

»Ein Verrückter! Tropenkoller sagt man dazu, wenn es bei ihm spinnt. Vielleicht kommt er aus Afrika. Da haben sich viele den Knacks geholt. Früher hat man solche Leute für ein paar Wochen in die Anstalt gesteckt. Heute läßt man sie sich austoben.«

»Dir gefällt wohl manches nicht, was heute in der Welt geschieht?«

»In der Welt . . .? Ja . . . nur die Dinge nicht bei ihrem richtigen Namen nennen!«

»Habe ich was gesagt?«

»Wir haben beide nichts gesagt.«

Und erst nach einer Weile wieder sagte Karl Schimmel: »Der Tumbich schnarcht immer noch. Ich möchte gern wissen, ob er morgen früh noch etwas davon weiß, was diese Nacht passiert ist?«

Der Chauffeur gab ihm keine Antwort mehr. Und Karl Schimmel dachte sich eine eigene Antwort hinzu: Wenn ich mir nachher irgendein Hurenstück auflese . . . vielleicht nimmt mir das den Ekel. Und er versuchte, sich an die Stelle der Frau zu versetzen, die sich vor ihm ausziehen wird. Und welchen Ekel sie von sich abschütteln muß, wenn die fremden Arme ihr Fleisch umklammern und das Blut nichts anderes will als den Exzeß. Nachher die Zigarette und das Gefühl, sich gereinigt zu haben von einer Schmutzerei . . .

Aus dem Gesicht, das Karl Schimmel sich zu der Frau vorstellte, wurde schließlich das bekümmerte Gesicht seiner Mutter. Er machte eine jähe Handbewegung durch die Luft, und aus dem Magen stieg ihm die Säure hoch. 173

Das Auto fuhr jetzt durch ein Stück Wald. Der Mond schien herab und blendete. Der Chauffeur vergaß, die Scheinwerfer auszuschalten. Ein dünnes Drahtseil spannte sich von Baum zu Baum über die Chaussee. Der schwere Wagen sauste hinein und überschlug sich zweimal.

Ein Auto mit hellen Scheinwerfern, das von der entgegengesetzten Seite kam, stoppte. Ein Mann sprang heraus, sah das zerschmetterte Auto, einen menschlichen Körper daneben, fuhr nach Johannisthal zurück und alarmierte die Rettungswache.

Als die ankam und die Sanitäter die Unfallstelle absuchten, stellte der Arzt den Tod von Tumbich und dem Chauffeur fest. Karl Schimmel war mit einem Schock und schweren Hautabschürfungen davongekommen. 174

 


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