Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIX   Du mußt mir glauben . . .

Sie hatten gerade die letzten Exemplare der neuen Nummer von »Auf der Wacht« ausgedruckt. Franz Lück packte die ungefalzten Bogen in den Rucksack und wartete in der dunklen Werkstatt auf Liesa Schimmel. Die wollte nur noch schnell nach oben springen und sich umziehn. Der Vater hatte heute wieder seinen Stammtischabend und war schon um sieben aus dem Betrieb gegangen. Dieser frühe Aufbruch des alten Herrn war Liesa sehr gelegen gekommen, weil man mit der Restauflage der illegalen Zeitung endlich reinen Tisch machen konnte. Die nächste Nummer sollte schon in dem neuen Lokal gedruckt werden. Darüber war Franz Lück froher noch als Liesa. Es hatte ihm immer bitter im Blut gelegen, daß man dem alten Schimmel fünf Monate lang ein Risiko hatte aufhalsen müssen, von dem er nichts wußte, ja nicht einmal etwas ahnte. Und an dem er auch nicht den geringsten Anteil haben durfte, dafür aber die ewige Gefahr im Haus. Und wenn es geplatzt wäre . . . das große Erschrecken, das ihn wahrscheinlich zermalmt hätte, würde ihm niemand geglaubt haben. Und es hätte ihn gewiß auch nicht verschont vor all den grauenhaften Torturen, der beispiellosen Grausamkeit eines Dauerverhörs in den Folterzellen der Gestapo. Und schließlich war diese Lösung mit dem neuen Lokal auch für Liesa besser. Denn jetzt hatte sie nur für sich allein einzustehn. Das väterliche Haus blieb in Zukunft rein.

Als Liesa endlich kam und Franz herausließ aus der Werkstatt, sagte er, als sie über den Hof gingen: »Wir werden heute wieder den Argentiner und Kathleen bei Schliepers treffen. Und Kathleen will uns von dem Abenteuer erzählen, das sie mit einem Ingenieur hatte, der die Terroristengruppe unter den Studenten leitet.«

Liesa sperrte jetzt das Tor auf und ließ Franz Lück zuerst auf die Straße hinaustreten und wartete noch eine Weile, ehe sie hinter sich abschloß. In dem Augenblick, als sie den Schlüssel herauszog und Franz Lück nacheilen wollte, lief sie ihrem Bruder Karl in die Arme. Es war ein 371 Glück, daß er heute das braune Hemd nicht anhatte, denn sonst wären sie alle beide womöglich, sie und Franz Lück, in eine Dummheit hineingerutscht. Liesa aber hatte sich schnell wieder gefaßt und rief zu Franz hinüber, der vor dem Schaufenster eines Zigarrenladens stehengeblieben war: »Gehn Sie bitte schon vor und sagen Sie Müller: ich hätte Sie geschickt und käme in wenigen Minuten nach.«

Mit Müller meinte sie die Kellerwirtschaft in der Feurigstraße. Franz wußte Bescheid und stiefelte los.

Zu ihrem Bruder Karl sagte Liesa, der vor ihr stehenblieb: »Wenn du Mutter besuchen willst: sie schläft schon. Und ob sie sich überhaupt freut, wenn sie dich sieht, möchte ich bezweifeln.«

»Ist Vater wenigstens zu Hause?«

»Auch nicht.« Und als sie Miene machte zu gehn, hielt Karl sie an der Schulter fest: »Hast du fünf oder besser zehn Minuten Zeit, mich anzuhören?«

»Was könnte von dir zu hören sein, Karl?«

»Etwas, was dich immerhin interessieren würde.«

»Mich? Du weißt doch, daß es mir hochkommt, wenn ich euch bloß sehe in diesem braunen Hemd.«

»Du siehst Gespenster; ich habe kein braunes Hemd an.«

»Zufällig hast du heute keins an. Ich meine eigentlich ja auch nicht das Hemd, sondern den braunen Unrat in deinem Gehirn.«

»Das mag sein, daß das dich stört. Ich muß dich aber sprechen. Und wenn ich dich sehr bitte . . .?«

Sie sah in sein Gesicht hinein. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und die Backenknochen traten scharf heraus. Er sah gealtert aus, leidend und verkommen.

»Oder hast du Angst . . . Liesa?«

»Wovor Angst?«

»Daß ich den jungen Mann kenne, der mit dir aus dem Tor herauskam und mit dem Rucksack verschwand.«

Ein paar Sekunden lang durchfuhr es ihren Körper von oben bis unter heiß und kalt. Und dann fragte sie: »So . . . den kennst du auch? Von der Schule wahrscheinlich, wie?«

»Wir haben ihn in der Kartothek, Liesa!«

»Mich wohl auch schon?«

»Wenn es nach deinem Bruder August gegangen wäre . . . ja!«

»Du willst August bei mir anschwärzen?«

»August kann nicht mehr angeschwärzt werden.« 372

»Nanu? Wie ist das zu verstehn?«

»Das kann man hier auf der Straße nicht auseinanderklauben.«

»Gut; dann komm. Mach es aber kurz.«

Sie gingen über den Hof. Liesa schloß die Werkstatt auf und knipste Licht, allerdings nur die kleine grüne Lampe über dem Pult. Sie schob Karl einen Stuhl hin und stellte sich mit dem Rücken gegen das Fenster.

Karl fing an: »Also du wunderst dich, daß ich heute in Räuberzivil komme?«

»Die Spitzel gehn alle in Zivil.«

»Ach so . . . für solch einen hältst du mich schon?«

»Bei Hitler ist alles möglich; auch daß ein Bruder seine eigene Schwester in das Columbiahaus einliefert. Alles schon dagewesen, mein lieber Karl! Aber auch das schon, daß eine Schwester den Bruder über den Haufen geschossen hat.«

»Dazu werde ich dir keine Ursache geben, Liesa. Ich bin fertig!«

»So ungefähr siehst du auch aus. Womit aber bist du fertig?«

»Mit der nationalsozialistischen Bewegung und mit allem, was aus ihr geworden ist.«

»Du erinnerst dich zurück und glaubst womöglich, es wäre früher anders gewesen. Nein! Im Anfang war der Schwindel.«

»Doch, es ist alles anders geworden, als es vor fünf Jahren aussah.«

»Ja . . . das hat sehr lange gedauert, bist du endlich dahintergekommen bist. Und hinter was eigentlich bist du gekommen? Du hast die Macht angebetet und an sie geglaubt. Jetzt habt ihr doch die Macht. Und du . . . dem Rang nach wirst du wohl inzwischen Hauptmann geworden sein, das soll heute eine sehr angesehene und einflußreiche Stellung bedeuten. Ein blitzschnelles Avancement, bei den Preußen wärst du immer noch Leutnant.«

»Mir ist nicht zum Flachsen, Liesa! Ich habe das Hundeelend bis in den großen Zeh hinunter.«

»Also du kommst nicht wegen Franz? Franz Lück heißt der Mann, der eben mit dem Rucksack ging. Und mein Freund ist er.«

»Ich komme nebenbei auch wegen Franz.«

»Also doch . . .«

»Es sind zehn, zwölf Geheime hinter ihm her.«

»Du . . . das wissen wir.«

»Es wird nicht lange dauern, dann sucht man ihn auch hier . . . bei Vater. Und dann . . . Liesa?«

»Das ist jetzt vorbei, hier findet ihn niemand mehr.« 373

»Um so besser, Liesa; für dich und für Vater. Und auch für mich.«

»Für dich?«

»Ja, ich wollte Vater bitten, daß er mich für acht Tage wieder hier wohnen läßt.«

»Weshalb nur für acht Tage? Soll das eine Wache sein?«

»Ich werde dann woanders wohnen. Heute aber bin ich für acht Tage krank geschrieben und vom Dienst dispensiert. Wenn die acht Tage herum sind, ist es für mich auch mit der SA und der ganzen Hitlerei vorbei.«

»Wie stellst du dir das vor? Man läßt keinen laufen, der gewisse Attacken mitgemacht hat.«

»Es hängt nicht davon ab, ob man mich laufen oder die Feme walten läßt . . . ich allein entscheide über das Weitere.«

»Ich bin gespannt; es muß dir schon etwas ganz Ungewöhnliches zugestoßen sein.«

»Du weißt, daß die nationale Idee mich angezogen hat wie ein Magnet, und daß ich besessen war von diesem neudeutschen Sozialismus. Tag und Nacht habe ich damit gerungen, ehe ich mich entschied. Alle glühten wir damals, die wir jung waren, etwas gelernt hatten und müßiggehen mußten. Es dachte niemand von uns an billige Versorgung, an einen privaten Nutzen für Nichtstun. Wir sangen: Deutschland! Wir wußten, warum wir es sangen. Wir glaubten an eine Wiedergeburt Deutschlands. Und kämpften für dieses neue Deutschland.«

»Auf den Straßen der Arbeiter und Juden mit Stahlruten und Schlagringen. Helden des neuen Deutschland!«

»Es kommt nicht darauf an, wo der Feind sich verschanzt hat. Wir sahen den Feind dort, wo man unserem Glauben sich entgegenstellte. Der Glaube an das neue Deutschland trieb uns, den Feind zu vernichten.«

»Der Glaube, in dem du auch heute noch lebst?«

»Der Glaube an Deutschland, ja. Aber nicht mehr an Hitler.«

»Seit wann ist Hitler nicht mehr das Dritte Reich?«

»Das Dritte Reich ist nicht mehr Deutschland.«

»Du spekulierst, mein Junge. Du suchst Chancen, den Rückzug früher anzutreten als deine Kameraden. Du hast wohl Angst vor der Laterne? Es wird nicht mehr übrigbleiben von euch als Staub.«

»Ich habe eine Pistole.«

»Und . . .?«

»Und auch Kugeln. Aber die letzte erst für mich; nicht die erste.«

»Schön. Angenommen, du bist ehrlich entzaubert. Wie stellst du dir das fernere Leben vor? Mit der Parole Deutschland ist außerhalb eurer 374 Reihen kein Geschäft zu machen. Ihr habt dieses Wort Deutschland unnützlich im Munde geführt und den vaterländischen Gedanken in Dreck und Blut erstickt.«

»Das hätten die Kommunisten, wären sie an die Macht gekommen, wahrscheinlich auch. Du brauchst nur an das Beispiel Rußland zu denken. Große Ideen sind nicht mit schönen Redensarten durchzusetzen. Mir ist eine bestimmte Stelle offizieller Äußerung in der Sowjetpresse noch in der Erinnerung, über das Strafgericht anläßlich des Attentats auf Kirow. Die kennst du wahrscheinlich nicht. So etwas wird euch wahrscheinlich vorenthalten.«

»Laß dir gesagt sein: uns wird nichts vorenthalten. Wir wissen um die Wahrheit.«

»Dies aber doch; hör mal zu: ›Man kann der Überzeugung sein, daß keine Regierung berechtigt ist, Menschen zu töten. Aber hätte die Tscheka nicht die Feinde der Revolution vernichtet, dann wären heute nicht die Bolschewiki an der Macht, und anstatt all der wirtschaftlichen und sozialen und kulturellen Errungenschaften in der Sowjetunion gäbe es heute auch dort nur einen von der Weltwirtschaftskrise heimgesuchten Kapitalismus.‹«

»Das ist alt. Was hat das mit dem Mord an Kirow zu tun?«

»Das kommt jetzt. Du hast mich unterbrochen. Hör: ›In den beiden Wochen, die auf Kirows Tod folgten, wurden einhundertunddrei Exekutionen vorgenommen. Alle Hingerichteten hatten sich schon vor der Ermordung in Haft befunden. Keiner von ihnen stand mit dem Mord in Verbindung. Es steht aber fest, daß die Mehrzahl der Betroffenen fremde Spione waren, die illegal die Sowjetgrenze überschritten hatten, um hier Mordanschläge auf Sowjetführer durchzuführen. Die Hinrichtung der hundertdrei sollte gewisse Gruppen abschrecken, die in- und außerhalb der Sowjetunion bestehen. Wäre die Ermordung Kirows nicht mit Repressivmaßnahmen beantwortet worden, dann hätten antibolschewistische Zirkel dieses zweifellos als Ermutigung angesehen und ihre terroristische Aktivität auf Sowjetboden verstärkt.‹«

»Wozu, mein lieber Bruder, hast du das auswendig gelernt?«

»Um dir bei passender Gelegenheit zu beweisen, daß alles Jacke wie Hose ist. Wer die Macht hat, nimmt sich auch das Recht, die Macht gegen das Recht auszuspielen.«

»Und nun denkst du an das Beispiel Rußland in einem negativen Sinn?«

»Durchaus nicht; wir haben gelernt davon.« 375

»Du sprichst von der Methode? Oder von der Idee?«

»Ich will nicht mehr eine Idee verteidigen, die verfälscht worden ist von Nutznießern. Die Gemeinzweck sagen und Selbstzweck meinen.«

»Du glaubst also immerhin noch an eine Möglichkeit der Bereinigung, heute, zehn Monate nach dem 30. Juni?«

»Der hatte mit Reinigung nichts zu tun.«

»Ich glaubte, du wolltest diesen Massenmord verteidigen mit dem Hinweis auf die Exekution der hundertdrei in Rußland?«

»Der 30. Juni 1934 in Deutschland hatte mit Reinigung und auch mit Repressalien nichts zu tun.«

»Sondern?«

»Mit der Beiseiteschaffung unbequem gewordener Personen.«

»Unbequem geworden, weil sie an die Erfüllung feierlich gegebener Versprechen fortwährend erinnerten?«

»Irrtum! Weil sie zuviel wußten, deshalb mußten sie beseitigt werden.«

»Einige von den vierzehnhundert, aber doch nicht alle.«

»Man machte, weil es unerwarteterweise so gut klappte, ein allgemeines Aufwaschen daraus. Neid, Mißgunst, private Feindschaften . . . das alles tobte sich aus. Man griff auch daneben. Es sind auch Verwechslungen vorgekommen. Man verschonte auch den Knecht vom Herrn nicht und schlachtete beide zugleich ab, den Herrn und den Knecht. Den Gruppenführer Fiedler und deinen Bruder August.«

»Wie . . . unseren August?«

»Jawohl . . . unseren Bruder August.«

»Am 30. Juni?« Es stieg in Liesa eine plötzliche Weichheit hoch. Sie biß aber die Zähne zusammen und senkte den Kopf. Und verspürte, wie ein paar Tropfen auf den Boden fielen. Vier, fünf schwarze runde Flecken auf dem Boden wie große blanke Nägelköpfe.

»Man weint ihm immerhin eine Träne nach . . .«, flüsterte Karl.

Liesa straffte sich und warf den Kopf wieder hoch. Sie wagte aber nicht, sich über die Augen zu fahren. Er sollte es nicht sehn. Er konnte es auch nur geahnt haben, daß es ihr hochgekommen war. Er sah jedoch die feuchten Wimpern, sie flimmerten im Licht.

»Ich hätte August eher für einen Streber gehalten«, sagte Liesa schließlich.

»Er war der Adjutant Fiedlers. Ein Sprungbrett, diese gewissermaßen bevorzugte Stelle.«

»Nur der Adjutant war er?« 376

»Ja. Denn Fiedler war einer der wenigen, die Frauen und nicht Jünglinge verbrauchten.«

»Dummkopf! Ich habe nie angenommen, daß unser August für Männer zu haben war. Er war Adjutant, also auch der Mitwisser, vielleicht sogar Mittäter in der Brandnacht des Reichstages. Das meinte ich.«

»Zu den zehn, die die Zündmasse legten, gehörte er.«

»Na also! Dann pfiff die Kugel, die ihn umlegte, doch daher.«

»Vielleicht verdächtigst du auch mich?«

»Dich? Nein, Karl.«

»Weil du mir soviel nicht zutraust?«

»Die Leute, die für die Brandstiftung ausgesucht wurden, durften kein Gesicht haben, das aussieht, als denke es über alles nach. August war sechzehn Jahre alt und schlug den Schlachthühnern und Enten die Köpfe ab. Du warst achtzehn und hast immer noch weggesehn, wenn es blutete. Du hast mit Zinnsoldaten gespielt. Das hat dich zu den Braunen hingezogen. Alles andere ist Selbstbetrug gewesen.«

»Vielleicht . . . Liesa . . .«

»Wenn du morgen oder übermorgen mit Vater über August sprichst, dann sage ihm bitte schonungslos die volle Wahrheit. Mir würde er sie nicht glauben.«

»Ich werde ihm die Wahrheit sagen und nicht nur die über August.«

»Du willst also acht Tage hier im Hause bleiben und dich erholen? Was dann aber, Karl?«

»Die Lüge vernichten!«

»Ich habe geglaubt, etwas klarer würdest du doch sehen können.«

»Wie meinst du das?«

»Du hast nichts zugelernt.«

»Ich habe umgelernt.«

»Jetzt Schwarze Front? Das würde zu dir passen.«

»Das ist auch . . . Jacke wie Hose. Ob Hitler mit der Großindustrie und der Reichswehr oder ein Mann namens Strasser.«

»Bilde dir nur ja nicht ein, bei uns mit offenen Armen aufgenommen zu werden. Ich soll wohl den Vermittler spielen? Den zuverlässigen Bürgen? Ich nehme an, so hast du dir die Sache gedacht?«

»Es gibt eine Front in Deutschland, dort schießt man nicht mit Flugblättern von den Dächern herab. Dort hat man andere Geräte als Katapulte. Wenn es dort knallt, fliegen die Fetzen.«

»Davon hast du schon einen Begriff bekommen? Es reizt dich das Abenteuerliche?« 377

»Als wir den Juden Hanussen totschlugen, den Hellseher, ihn einscharrten und wieder zurückfuhren . . . bei Johannisthal sauste das Auto in ein quer über die Chaussee gespanntes Seil. Tumbich und der Chauffeur waren Brei. Ich konnte wieder aufstehn und begriff. Ich überschätzte die Wirkung dieser terroristischen Tat nicht. Ich überraschte aber die gleichen Männer bei einem anderen Werk und ließ sie nicht hochgehn, sondern half mit. Das war die Umkehr. Und das ist jetzt die Front, in die ich mich einfüge.«

»Ich bin aus Prinzip gegen Terrorakte. Vor allem gegen politisch organisierte. Dir aber bleibt vielleicht nur dieser Ausweg, mitzutun. Ich kann und will dich nicht zurückhalten.«

»Du verachtest mich immer noch, Schwester?«

»Wenn du mich verhaftet hättest . . . dann nicht.«

»Diese Sprache verstehe ich nicht, Liesa. Und in solchen Gedankengängen kann ich mich nicht zurechtfinden. Ich bin für das Entweder-Oder.«

»Ich sagte dir ja: es steht dir nichts im Wege von mir aus.«

»Vielleicht aber ergeben sich Möglichkeiten, dir nützlich zu sein.«

»Ich werde dich nicht darum bitten. Es kann aber sein, daß ich dich anhöre, wenn du uns etwas zu berichten hast. Sind wir uns nun einig?«

Er schüttelte den Kopf und sah Liesa unverwandt an. Und sagte:

»Einig . . . das wird wohl noch ein sehr langer Weg sein . . .«

»Ich muß jetzt aber gehn, Karl.«

»Ich habe dir in aller Offenheit gesagt, was zu sagen war. Wenn du willst, gut, gehn wir. Mit Vater werde ich morgen vormittag sprechen. Er wird zu Hause sein?«

»Vater ist jetzt selten tagsüber zu Hause.«

»In der Mittagsstunde aber doch?!«

»Komm besser am Abend, dann wirst du mit ihm allein sein. Ich werde ausziehn.«

»Weil ich die paar Tage hier bei euch wohnen will?«

»Nein, überhaupt. Mir ist jetzt ganz klar geworden, daß ich allein sein muß.«

»Wo wird man dich treffen, falls es nötig ist?«

»Wer ist der Führer von der terroristischen Front?«

»Der Ingenieur Merzbach.«

»Der von der Waggonfabrik?«

»Ja . . . der . . .«

»Über den geben wir dir Nachricht.« 378

Sie gingen schweigend über den Hof. Liesa schloß das Tor ab, sah die Straße hinauf und hinunter und sagte dann zu Karl: »Komm. Und wohin willst du von hier?«

»Ich fahre mit der Bahn nach Halensee.«

Sie brachte ihn bis zum Bahnhof Schöneberg und wartete, bis er die Fahrkarten gelöst hatte und die Treppe zum Bahnsteig hinuntergehn wollte. Er drehte sich noch einmal um und streckte ihr die Hand hin. Sie zögerte ein paar Sekunden, und es würgte ein Ekel in ihrer Kehle. Sie schlug aber doch ein, sah ihn dabei aber nicht an.

Auf der Brücke wartete sie, bis der Zug einlief und Karl einstieg. Der Zug rollte wieder ab. Dann erst ging sie.

Von dem Budiker Müller erfuhr sie, daß Franz Lück schon eine ganze Weile wegwäre. Er habe zehn Minuten gewartet und hinterlassen: Rhabarber. Das war das Stichwort für die Laube von Schliepers. Liesa war froh, daß sie eine Weile allein sein konnte. Sie ging das ganze Stück bis zum Priesterweg zu Fuß und dachte lange darüber nach, ob es so richtig gewesen war, daß sie ihrem Bruder Karl die Hand gegeben hatte. Es klebte Blut an diesen Händen. Blut von einem Mann, der ihr nahegestanden hatte. Und jetzt bezog sie auch den Bruder August ein in das Nachdenken. Sie kam schließlich zu der Erkenntnis, daß dieser Tod, der ihn mitten aus dem naziotischen Taumel herausgeholt hatte, eine Gnade für ihn war. Heute Karl, in einem Jahr oder zwei würden wohl auch ihm die Augen aufgegangen sein. Und dann wäre nur übriggeblieben der Selbstschuß in die Schläfe. Sie kannte August durch und durch. Er war besessen von der Idee: Das neue Deutschland!

Es werden wohl noch viele an dieser niederträchtigen Idee zerbrechen müssen, wenn sie die Wahrheit erkannt haben werden, den Eigennutz der Leute, die Gemeinnutz sagen und das Morden und Stehlen darunter verstehn. Und es werden immer die jungen, die leicht entzündlichen, die gläubigen Menschen sein, die an der Enttäuschung zugrunde gehen.

Sie nahm sich vor, Franz Lück zunächst nichts von der Wandlung Karls zu erzählen. Sie wollte erst noch auf ein sichtbares Zeichen warten. Von der Arbeit des Ingenieurs Merzbach hatte sie vor ein paar Tagen Bravouröses erfahren.

Der Argentiner und Kathleen waren tatsächlich gekommen. Die Zeitungen lagen schon gefalzt und gebündelt. Um elf Uhr wollte Lina Schlieper das Paket mit dem Fahrrad zu Arthur Menges bringen, der sie in der Dorfstraße abpassen wollte. Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit. Und sie waren jetzt alle neugierig zu erfahren, wer der war, der 379 Liesa im Torweg angesprochen hatte. Franz Lück kannte wohl den Bruder August, aber nicht Karl. Er hatte nichts Aufregendes vermutet. Von der Ecke aus hatte er die beiden so lange beobachtet, bis Liesa das Tor aufsperrte. Dann war ihm klar, daß eine Gefahr nicht mehr bestand. So erzählte er es jetzt Liesa.

»Ja . . .«, antwortete Liesa. »Einen Schreck verspürte ich nur in der ersten Sekunde. Es war mein Bruder Karl. Daß er einmal auch ohne Braunhemd herumläuft, konnte ich nicht ahnen.«

»Aber er weiß genug von dir?« fragte Franz Lück.

»Er weiß manches. Und daran sah ich, wie verflucht leichtsinnig wir arbeiten.«

»Die brüderliche Liebe kam warnen?«

»Auch das. Keine Angst aber, Aktionen gegen uns sind nicht im Gange. Er hat Heimweh.«

»Auch das soll bei Mördern vorkommen.«

»Franz . . . wir wollen leiser sprechen.«

»Die Türen sind abgedichtet, Liesa.«

»Wir wollen leiser von einigen Mördern sprechen.«

»Von den verlorenen Söhnen . . . ich versteh jetzt.«

»Ich bin nicht der Vater des verlorenen Sohnes.«

»Die Tochter von dem Vater, Liesa! Das kommt nämlich auf das gleiche heraus.«

»Irrtum; in diesem Fall wenigstens.«

»Es geht mich nichts an, Liesa. Ich bin auch kein Prinzipienreiter.«

»Ganz so weit, wie du vermutest, ist es noch nicht, Franz. Schwamm darüber! Was gibt es hier bei euch Neues?«

Sie hatte sich mit dem letzten Satz an Kathleen gewandt. Und die sprudelte sofort los: »Du . . . es ist jetzt genau heraus, wer Tumbich zur Strecke gebracht hat. Es sind die gleichen Leute an der Arbeit gewesen, die vorgestern die Radioübertragung aus Freienwalde unterbrochen haben, als Hitler dort die von der marxistischen Regierung angelegten Schleusen einweihte und die Werkarbeit auf das Konto der nationalsozialistischen Wirtschaftsförderung schob. Man muß vom Glück verfolgt werden, um auch einmal andere Leute bei der Arbeit zu beobachten. Ich hatte das Glück. Und weil einer dabei war, den ich kannte, durfte ich sogar Schmiere stehn. Und nachher haben wir uns auf dem Stettiner Bahnhof ein bißchen ausgequatscht. Die Jungens sind tüchtig, muß man sagen. Ich hätte beinahe Lust, mitzumachen. Mein Herr Bräutigam aber sagt, er hätte noch viel größere Dinge mit 380 mir vor. Diese größeren Dinge kennt man ja, meist wird das Bett damit gemeint. Aber diesmal scheint ihm doch etwas anderes vorzuschweben. Nicht wahr, Tito?«

Ohne sich weiter zu genieren, wozu auch, knutschte sie den Argentiner ab. Es war eine derbzärtliche Liebkosung. Ihre Wangen waren von einer fliegenden Röte erhitzt. Sie lachte wie eine trillernde Klarinette, wie ein grunzendes Saxophon und bleckte dabei ihre großen, aber perlblank schimmernden Raubtierzähne.

Und jetzt fragte Liesa Schimmel: »War der Ingenieur dabei, Kathleen?«

»Du meinst, beim Stören des Gequassels von Hitler? Nein, der Chef nicht, aber seine Kolonne.«

»Woher weißt du denn, daß es die Kolonne vom Ingenieur Merzbach war?«

»Das hat nicht Kathleen, das habe ich spitz bekommen, Liesa«, verbesserte der Argentiner. »Denn der Bekannte von Kathleen, auf den sie sich berief, ist zunächst einmal ein Bekannter von mir. Und da die Leute mich dauernd bedrängen mitzumachen, erfährt man ja auch allerhand. Es ist in der Tat Merzbach, der die Kolonne organisiert hat und leitet. Um ein Haar wäre ihm eine ganz große Sache geglückt. Leider hat die Zündschnur einen Meter vor der Sprengkapsel versagt.«

»Leider hat der Mann sich auch aus der Waggonfabrik dünn gemacht«, sagte Franz Lück. »Er ist uns dort manchmal sehr nützlich gewesen.«

»Und nun kommt die schönste Sache, Liesa«, fingt der Argentiner wieder an. »Einer von euch beiden, du oder Kathleen, muß nächste Woche nach dem Wuppertal, Spezialsache.«

»Das ist wohl das große Ding, das du schon Kathleen versprochen hast, und nun gehst du damit hausieren?«

»Ich habe Kathleen nur das Eventuelle versprochen. Das letzte Wort darüber, wer hinfahren soll, hat Hillmann.«

»Wenn es keine Vergnügungsfahrt ist, werde ich gern fahren«, lachte Liesa Schimmel.

»Wenn es der Hillmann in der Hand hat, dann wird die Wahl wohl auf mich fallen. Ich kann schönere Augen machen als Liesa«, krähte darauf Kathleen und packte Liesa wie ein rauhbeiniger Tänzer und wirbelte sie ein paarmal in der Stube herum.

»Was habt ihr eigentlich? Ihr seid so aufgeräumt. Die Nacht vor dem Beil, wie?«

»Liesa, wenn jemand Geld hätte für ein paar Liter Bier, dann würde 381 ich sagen: Heute besaufen wir uns, und zwar so sternhagelvoll wie der Bankier Schröder, als Hitler endlich Reichskanzler wurde und aus schon befürchteten Verlustkonten doch noch dicke Gewinne wurden.«

»Franz, was meint der Argentiner eigentlich mit diesem Unfug?« wandte sich Liesa Schimmel an ihn. Sie konnte sich in diese aufgeräumte Stimmung gar nicht hineinfinden. Sie hatte den Kopf noch voll von der Auseinandersetzung mit Karl. Es war ihr doch arg an die Nerven gegangen; die Reaktion kam jetzt erst.

»Verrückt ist die Bande, übermütig, weil mal eine ausgefallene Sache auf den ersten Hieb hin gleich geklappt hat. Die technische Gruppe vom Argentiner hat sich einen Schwarzsender gebastelt. Tadellos installiert, das muß man wohl sagen. Nämlich auf einem Montagewagen der BVG. Und damit sind sie gestern nacht zwischen elf und zwölf losgefahren und haben von einer toten Ecke der Prenzlauer Allee zehn Minuten in die Tanzmusik der Radiostunde hineingefunkt. Und dann noch einmal von Pankow zehn Minuten. Das ist der ganze Tee dieser Ausgelassenheit.«

»Die Kontrolle hat ergeben, daß es ausgezeichnet gehört worden ist«, ergänzte der Argentiner. »Zuerst lief uns Blut und Wasser den Buckel herunter. Aber dann waren wir frech wie Rotz. Wir alle drei in Monteurkluft. Martin hat gesprochen, ich habe gesprochen. Das werden wir jetzt alle acht Tage einmal wiederholen.«

»Habt ihr denn jemand von der BVG dabei?«

»Klar, Liesa! Ohne diese beiden BVG-Leute, die wir nach und nach weich gemacht haben, wäre es doch nicht zu machen.«

»Dann ist es eine Sache und keine Spielerei. Es gibt überall noch Kameraden, die uns unterstützen, wenn wir nur etwas riskieren, das augenscheinliche Wirkungen hat.«

»Na siehst du . . . habe ich nicht recht mit dem Besaufen?«

Franz Lück brachte wieder den notwendigen Ernst in die Gesellschaft. Er sprach jetzt über ein paar wichtige Organisationsfragen. Man diskutierte hin und her, prüfte die geplanten Aktionen auf Zweckmäßigkeit hin und bedachte den Aufwand der Einsätze. Man wollte nicht mehr durch gewagte Kunststücke blenden, sondern die immer noch Zögernden fest anpacken und mitreißen.

Sie regten sich auf und regten sich wieder ab. Sie stritten so lange herum, bis sie mit Schrecken sahen, daß es wieder drei Uhr geworden war. 382

Der Argentiner und Kathleen blieben bei Schliepers. Ein Bett in der Kammer war noch frei. Dort konnte der Argentiner schlafen und Kathleen bei Lina.

Franz Lück wollte Liesa Schimmel durchaus nach Hause bringen, obwohl er sich vorgenommen hatte, in der Kolonie in einer leeren Laube zu nächtigen. Liesa aber redete auf ihn ein, daß es wohl sicherer wäre, wenn sie alleine ginge. »Man kann nicht wissen, Franz, vielleicht haben die Geheimen wieder Posten aufgestellt und kontrollieren jedes Fuhrwerk und jeden Einzelgänger. Und wozu sollst du den Weg auch hin und zurück machen? Ich fürchte mich nicht.«

Er begleitete sie aber doch noch ein Stück. An der Wegkreuzung blieb Liesa plötzlich stehn und sagte: »Franz, ich wollte dir noch sagen, beinahe hätte ich es vergessen: Du mußt bei meinem Vater die Brocken hinschmeißen. Du darfst nicht mehr kommen. Es hilft alles nichts, du stehst unter scharfer Bewachung. Mein Bruder hat nicht übertrieben, glaube ich. Schade, daß ich dir hier nicht alles genau erzählen kann. Aber das eine möchte ich dir wenigstens sagen, damit du siehst, daß es diesmal ernst ist: Ich werde morgen abend auch meine Sachen packen.«

»Ja . . . wo willst du denn hin?«

»Das muß eben noch überlegt werden.«

»Das müssen wir beide zusammen durchkauen, glaube ich. So einfach ist die Sache nun doch nicht.«

»Wenn ich nur wüßte, wo wir jetzt noch hingehn könnten . . .«

»Ich wüßte, wo. Du wirst aber vielleicht Angst haben.«

»Wovor mit einem Male sollte ich Angst haben, Franz?«

»Mit mir allein zu sein, denke ich.«

»Wenn man vernünftig ist . . .«

»Na ja . . .«

»Du wolltest doch hier in eine Laube? Sind wir dort allein?«

»Ganz allein. Ich schlafe schon in der vierten Nacht dort.«

»Dann komm. Aber höchstens noch eine Stunde habe ich Zeit.«

»Wie du willst, Liesa!« Sie gingen wieder ein ganzes Stück den Weg zurück, bis zu der Laube.

»Wem gehört das Grundstück?« fragte Liesa, als sie sich jetzt in dem sauberen, mit Geschmack eingerichteten Raum umsah.

»Einem SPD-Genossen, der Hals über Kopf nach Prag absausen mußte. Die Frau, die sich hier allein grault, möchte es vermieten, billig, zwanzig Mark den Monat.« 383

Er machte auf dem elektrischen Kocher noch schnell einen Kaffee. Und Liesa erzählte ihm jetzt die ganze Geschichte mit Karl und August. Die Wiederholung der Vorgänge nahm sie so mit, daß sie einen Weinkrampf bekam.

Es fing draußen schon an, schummerig zu werden, als Franz Lück Liesa wieder soweit beruhigt hatte, daß man das Nächstliegende besprechen konnte. Liesa war damit einverstanden, die Laube von der Frau für drei Monate zu mieten.

Sie saßen noch eine gute Viertelstunde zusammen auf der Couch, und Liesa hatte das Nachhausegehn vergessen. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt, und sie ließ es ruhig zu.

Sie sprachen jetzt eine ganze Weile schon kein Wort mehr. Nur das Blut wühlte in dem einen und in dem anderen und wollte zueinander. Sie quälte sich, ihr Atem jagte. Die Körper zitterten und wurden schweißig heiß. Schließlich berührte Liesa mit einer tastenden Bewegung seine Lippen. Und er umklammerte mit seiner harten Hand ihr Knie und hauchte in den Kuß hinein: »Du mußt mir glauben, Liesa . . . daß ich dich sehr lieb habe . . . nicht bloß wegen dies . . .«

Sie klammerte sich mit verzweifelter Kraft um seinen Hals, als wolle sie aufgehn mit ihm zu einem einzigen Wesen in diesem verschatteten Licht und den ersten Lockrufen der Vögel. Sie warf den Kopf weit nach hinten zurück, und ihre Stimme war nur noch ein Röcheln und kam wie von weit her: »Jetzt ist mir alles egal . . . Du . . . alles . . . küß mich . . . wilder . . . du . . .«

Seine heiße keuchende Brust lag jetzt auf ihren Brüsten. Und die Liebe, die aus diesen beiden gehetzten Menschen herausbrach in einer jähen und gierig klammernden Umarmung, schürzte den Knoten von Fleisch zu Fleisch und machte das Heimliche, das schon seit Wochen die Gefühle erregt hatte, zu einer glückhaften Erfüllung, zu dem letzten, von allen Widerständen befreiten Einssein. 384

 


 << zurück weiter >>