Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXXIV   Die Butterschlange

Es war erst Mitte Dezember. Aber der Schnee fiel schon in schweren Flocken aus einem Himmel, den man nicht sah. Man konnte nicht einmal die oberen Stockwerke der Häuser deutlich erkennen. Das frostig-feuchte Grau, das von den Dächern herunterhing, drückte auf die Straßen und machte die Armut dieser elenden proletarischen Gegend noch augenscheinlicher. Die Armut der Läden mit den schäbigen, abgegriffenen Resten ihrer Vorräte. Und die Armut der Menschen, die mit grauen, vergrämten und mißmutigen Gesichtern an den Schaufenstern vorüberschlichen und kaum aufsahen, wenn sie von Bekannten gegrüßt wurden. Dieses Grüßen war schließlich auch nichts weiter als ein Leerlauf, ein Klappern der Gewohnheit. Im Grunde: wie gleichgültig ist heute jedem der andere geworden, der Nachbar, der Schulfreund, der frühere Arbeitsgenosse, der einstige Gesinnungsfreund; oft sogar schon der leibliche Bruder, die Schwester und selbst jenes Wesen, mit dem man, vielleicht vor drei Jahren noch, durch dick und dünn gegangen wäre. Und solch ein abscheuliches Schneewetter, wie es heute sich breitmachte, würde man, in der warmen Verbundenheit der Herzen, gar nicht bemerkt haben.

Der Schnee lag fußhoch auf der Straße. Aus dem blanken Weiß war in einer Stunde ein wäßriger Schmutz geworden, der in das löchrige Schuhwerk hineinquoll. Die Stadtverwaltung hätte die Säuberungskolonnen verzehnfachen müssen. Es war in den Kassen aber nicht einmal so viel Geld vorhanden, um den Arbeiterstamm der Straßenreinigung auf der Höhe von 1932 zu halten. Die Straßenreinigung hatte ja auch nichts mit der Wiederaufrüstung zu tun, für die alles Geld zusammengerafft und -gescharrt wurde. Schneepflüge sind keine Tanks und die Kehrichtwagen keine Munitionskolonnen. Die Sprengwagen keine Haubitzen und die Geräte der Arbeiter keine für die Front brauchbaren Mordinstrumente. Und hier die öden Straßen der Mietskasernen werden 470 bis zum Ende des »Tausendjährigen Reiches« nicht jene Viertel sein, wohin man die Fremden führen kann, die englischen Lords und die argentinischen Ochsenbarone, um ihnen den »blühenden Wohlstand im Garten der Swastika« zu demonstrieren. Dafür sind die Wilhelmstraße da, die Straße Unter den Linden, der Reichskanzlerplatz, der Kurfürstendamm, dafür gibt es Lustreisen auf den Havelseen und in den bayrischen Bergen. Und dann die Oper, mit Lohengrin auf der Bühne, Furtwängler am Dirigentenpult und die Logen voller Fastnachtsmasken und Lametta. Das Theater aber, das in der Brunnenstraße mit diesem tristen Schneewetter gastierte, brauchte keinen auf Rädern bewegten Schwan, keinen Brautchor, keinen König Heinrich und keine »orientalisch zersetzte« Ortrud.

Der Wind pfiff um die Ecken herum zu dem Gehust der Passanten in ihren dünnen Mänteln, zu dem Gekreisch der Straßenbahnwagen in den ausgeleierten Kurven der Gleise, zu dem Gewein der Kinder aus den Haustüren heraus: Hunger! Hunger!

Und der Schnee fiel und fiel auf eine vierfache Kette von Frauen, alte und junge, die sich in einer Länge von mehr als zweihundert Metern von der Straßenecke bis zu jenem Laden hinspannte, wo aus zwei Schaufenstern heraus ein gedrucktes Plakat mit der Inschrift glotzte: »Heute, auf Bedürftigkeitsschein, 100 Gramm Speisefett. Der Vorrat ist beschränkt!«

Die Frauen, die das Kopfende dieser Kette bildeten, standen schon seit acht Uhr in der Frühe hier. Jetzt ging es auf drei. Sieben Stunden schon, in löchrigen Schuhen, fadenscheinigen Kleidern, schlecht genährt und das Blut wäßrig und durchfroren, standen die Frauen vor diesem Laden, der ihnen 100 Gramm Fett versprach.

Um ein Uhr schon sollte die Austeilung beginnen, aber die dritte Nachmittagsstunde wird wahrscheinlich auch noch vorüberstreichen müssen, ehe die Tür sich öffnet. Die eisernen Gitter verschlossen immer noch den Eingang zum Buttergeschäft der Firma Freche.

Achthundert Frauen, den Bedürftigkeitsschein in der Tasche und ihr ganzes Denken auf das bißchen Fett konzentriert, warteten auf den Augenblick, da der Laden sich öffnete und die Verteilung beginnen konnte – und damit das Herandrängen und Geschiebe der durchfrorenen Körper.

Es war ausgeschlossen, daß alle von diesen achthundert Frauen, die hier warteten, froren, hofften, husteten und die feuchte Luft verspürten, als stünden sie bis zum Halse in einem schmutzigen Wassergraben, zu 471 der Ration kommen würden, die das Geschäft »ohne Gewähr« in Aussicht stellte. Und es war nicht so, daß die letzten der Kette, bei denen das Warten nicht viel mehr bedeutete als ein Glücksspiel mit unendlich vielen Nieten, sich zu spät auf den Weg gemacht hätten. Es hatte kaum eine halbe Stunde gedauert, da war die Kette geschlossen. Und diese lange Reihe würde noch ein ganzes Stück weiter gereicht haben, wenn die aberhundert Frauen sich noch hinzugesellt hätten, die dieses zusätzliche Fett zwar bitternotwendig brauchten, aber nicht mehr die 45 Pfennige dafür besaßen. Und dann alle die Frauen, die sich aus dem fest ineinander verknoteten Band, Leib an Leib und Atem in Atem, wieder hatten lösen müssen. Sie hatten bis zum Äußersten ausgehalten, ehe sie das Warten aufgaben. Sie hatten die Schmerzen und die Übelkeiten der dumpfen Müdigkeit im Gehirn verbissen mit dem Gedanken an die 100 Gramm Fett. Alles, was sich in ihrem Denken aufspannte, bewegte sich um dieses Fett. Denn was alles hing nicht ab davon! Für manchen das ganze Entweder-Oder des Lebens, mit einem letzten Aufflackern von Hoffnung, doch noch an dem Gashahn oder Strick vorüberzukommen, der Versuch wenigstens, mit diesem winzigen Nichts von Fett in den nächsten und übernächsten Tag hinüberzudämmern. Und erlebte man diesen Tag, dann war es eine gewonnene Schlacht.

Und dann wieder die Angst vor dem absoluten Nichts, wenn man leer zurückgehn müßte in die ungeheizte Stube, in das offene Geschwür des Hungers hinein . . . in das bluthustende Gewimmer der Kinder.

Das war oft nicht mehr auszuhalten!

Und doch hatten fast hundert Frauen vor der Zeit alle Hoffnungen aufgeben müssen. Weil die schmerzende Unruhe im Körper und die Unordnung der Nerven und Muskeln stärker waren als der Wille, auszuharren, geduldig zu warten, so wie die anderen Frauen, die sie jetzt hinter sich lassen mußten, dem Glück um eine kleine Spanne näher durch das Aufrücken nach der Spitze der Kette.

Seit acht Uhr in der Frühe stand auch Kathleen in der langen Kette der stumpf vor sich hinstierenden Frauen. Es wurde selten ein Wort gesprochen, denn jedes unnütze Wort hätte ablenken können von den um das Fett herumkreisenden Gedanken.

Es war genau das zehnte Glied, wo Kathleen ihren Warteplatz hatte. Sie stand ganz außen. Sie konnte die ganze Länge der Kette übersehn. Alle diese verhärmten Gesichter von Menschen zwischen Sechzehn und Sechzig. Alle aus dem gleichen grauen Stück Ton des Elends herausmodelliert mit scharfen, kantigen Zügen. 472

Es war eine klare und genaue Überlegung in Kathleen, mit dem Wort, worauf im Unterbewußtsein viele Frauen schon ungeduldig warteten, jetzt noch nicht zu beginnen. Das Wort, das die Müdigkeit hätte vergessen lassen und das sich Luft gemacht haben würde und beiseite geschoben alle diese Beklemmungen, die da waren: der unerträgliche Zustand des Wartens hier, der Mangel, die Armut, dieses Da-Sein in einer Zeit, die von goldenen Bergen aussagte, »aus dem Blut und Boden des Dritten Reiches heraufgewachsen als ein sichtbares Zeichen von Freiheit, Wohlstand und wahrer Volksgemeinschaft; einer für alle und alle für einen. Als göttliche Gipfelung aller Erlösung von Schande, Schmach, Juden und Bolschewiken, Minderwertigkeiten und Untermenschen«.

Niemand aber von den hier wartenden Frauen hatte bis heute auch nur das geringste verspürt von dem Erscheinen eines Wohlstandes und dem Sichtbarsein der wundertätigen goldenen Berge. Das Wunder war ihnen versprochen worden in allen Tonarten der Überredungskünste von zynisch-lächelnden Anreißern. Sie hatten vielleicht ein Jahr lang daran geglaubt, und dann hin und her geschwankt von einem Tag zum anderen, von einem Feuerwerk zum anderen, von einer Nationalfeier zur anderen. Und umnebelt von diesem ihnen aufgeschwätzten, eingehämmerten, eingeprügelten Glauben war es ihnen gar nicht mehr recht zum Bewußtsein gekommen, daß die Kleidung sich mehr und mehr abtrug, daß das Brot für das gleiche Geld immer weniger wog und ordinärer schmeckte, und daß das Fleisch nur noch aus Knochen und Fasern bestand und die Suppe nicht nahrhaft machte. Daß die Butter sich zu einer Sagengestalt verflüchtigte und daß das Ersatzfett aus Fisch, Nüssen, Beeren und Holz teurer und teurer wurde und schließlich aufhörte, eine beliebig kaufbare Menge zu sein. Daß es schon rationiert werden mußte wie die Kartoffeln, die Hülsenfrüchte, der Zucker, die Eier und die Teigwaren. Während an den Uniformen der Männer, die sich als die Gralshüter der goldenen Wunder aufspielten, die goldenen Litzen, Tressen, Raupen, Sterne und Schnüre immer schwerer wogen, die Gesichter in diesen Uniformen röter und dicker wurden und vor Wohlgenährtheit, Würde, Forsche und Brutalität jeden Augenblick mit einem stinkigen Knall herausplatzen konnten aus der menschenunähnlichen Haut und dem schmierigen, reptilhaften Innen.

Und daß viele von diesen auf 100 Gramm Fett wartenden Frauen keine Männer oder Brüder mehr hatten, die einen Wochenlohn nach Hause brachten. Weil diese Männer eben nicht mehr da waren als Mann in den frostigen Stuben; den Kindern ein Vater, der mit ihnen 473 spielt und über ihr Haar hinstreicht. Und der Frau ein Mann, an den sie sich halten kann, daß er für das Notwendigste im Haus sorge. Daß er ein gutes Wort auf den Lippen hat, und für die Nacht das, was das Bitterste von allen Bitterkeiten vergessen läßt, eine Stunde oder zwei. Diese Männer waren nicht mehr da, nicht einmal der Geruch von ihnen. Nur das peinvolle und mit Ängsten aller Art sich immer wieder quälende Bewußtsein der Frauen, daß ihre Männer irgendwo in den Moorlöchern lagen, mit zerschundenen Gliedern, mit den tiefen Wunden der ihnen ausgeprügelten Gefühle für das Schöne und Wilde in der Welt, umschauert vom Stumpfsinn, mit dem sie jetzt leben mußten und sich des Unmenschlichen dieses Zustandes immer weniger bewußt wurden, so gründlich hatte man sie »fertig gemacht«. Klappernde Gespenster ihres einst Gewesenen, und jetzt nur noch Schemen jener Dinge, die einen Menschen erst menschlich machen, wenn er tief atmen darf im Bewußtsein seiner Kräfte, der Freiheit und der Gedanken um die Sicherung der Freiheit. Hier aber, in dem unmenschlichen Da-Sein eines Moorsklaven, waren sie auch dazu noch verdammt, sich als »Untermenschen« zu plakatieren; zum Vergnügen jener Bestien mit Ordensstern und Nilpferdpeitsche. Wehrlose Opfer nichtswürdiger Rachegelüste und satanischer Quälerei.

Das alles bohrte, stach, zerrte und wühlte wieder einmal in den Frauen, obwohl es ihnen schon eine Gewohnheit geworden war wie einem Schwindsüchtigen das Bewußtsein der Unheilbarkeit. Es war auch bei ihnen, fast schon so wie bei ihren Männern, ein Dahinsiechen in unabwendbarer und vielleicht noch nicht einmal bis zum Letzten ausgebluteter Zerlassenheit. Ein Zustand, der zugleich auch mit der beklemmenden Sorge um das Dach über dem Kopf und das tägliche Brot den Rest der verhaltenen Nachdenklichkeiten verschüttete und nur noch diese Gier nach den 100 Gramm Fett auf Bedürftigkeitsschein bewegte. Um die Bedürftigkeit für solch einen Schein nachweisen zu können; wieviel Wege hatten sie machen müssen, von Büro zu Büro, treppauf, treppab, stundenlang, tagelang, wochenlang, von einer Demütigung zur anderen, durch einen Sumpf von Brutalität und Frechheiten hindurch, angeschrien, beschimpft und unsittlich attackiert. Sie haben sich vor Kreaturen demütigen müssen, die nicht mehr des Anspuckens wert waren. Sie haben Leute um Beistand bitten müssen, denen sie in früheren Tagen in einem weiten Bogen ausgewichen sind. Sie haben Pfaffen und fromme Schwestern in Anspruch nehmen müssen, nur um überhaupt in eine Amtsstelle hineingelassen zu werden. Unzählige 474 Formulare haben sie ausfüllen müssen und Verhöre über sich ergehen lassen, als stünden sie im Verdacht, vielfache Raubmörder zu sein.

Oft bekamen sie diesen Schein nur unter Vorbehalt, jeden Tag konnte die »Vergünstigung widerrufen werden«. Konnten sie in eine Strafe genommen werden und irgendwohin verschickt, Zwangsarbeit zu leisten. Und die Kinder in eine Erziehungsanstalt gesteckt.

»Wer bedürftig ist, das bestimmen wir!« So lauteten die Parolen auf den Ämtern. Wer vor Hunger umfiel, der hatte sich diesen Hunger nur eingebildet, der markierte diesen Hunger nur, aus Heimtücke, um den Staat, in dem es keinen Hunger gab, zu mißkreditieren. So hieß es in den Lokalnachrichten der naziotischen Blätter.

Den Bedürftigkeitsschein mußten die Frauen als eine Gnade auffassen, eine unverdiente. Die hier standen, hatten das Papier in der Tasche. Sie hielten es so fest wie einen Geldschein, der einst den Wochenlohn des Mannes ausmachte. Und heute gab es für solch einen Geldschein, wenn ihn noch jemand verdiente, nicht einmal den Fetzen Tuch, die Blöße damit zu bedecken, in der sie hier froren, von früh um acht an, in löchrigen Schuhen voller Wasser, in dem unaufhörlichen Geriesel der feuchten, schweren Flocken.

Sie hatten den Bedürftigkeitsschein in der Tasche. Sie kannten von ihm nur die Vorderseite: das Hakenkreuz in der linken Ecke und die Kontrollnummer in der rechten. Und darunter die fünf Zeilen Strafandrohung für mißbräuchliche Benutzung der Bescheinigung über die Bedürftigkeit. Sie hatten vielleicht nicht einmal diese fünf Zeilen gelesen, denn diese Buchstaben hatten ja nichts mit der für sich allein stehenden Ziffer 100 (Gramm) zu tun. Sie wollten nichts mehr von diesen ewigen Drohungen wissen: Verboten! Verboten! Verboten!

Und schon gar nichts von den großspurigen Zeilen in gotischer Schrift auf der Rückseite des Scheines, um das Bild von Hitler herum. Immer und überall dieses Bild von Hitler, das den Platz aller anderen Bilder aufgefressen hatte, als gäbe es jetzt nur dieses Gesicht in der Welt. Das Bild war überall da, wohin die Augen gerade blickten. Man hätte mit diesem in die Zeit hineingehagelten Bild die Straßen bis zur Hölle pflastern und das ewig offen klaffende Maul des Trommlers damit zustopfen können und mit all diesen Bildern nicht eine von den Tränen der hungernden, frierenden und verwaisten Kinder zu trocknen vermögen.

Die Frauen sahen das Bild nicht mehr an. Das Bild, das sie sich früher einmal von Hitler gemacht hatten, als er den Menschen mehr 475 versprach als Jesus den armen Leuten, die sich am Fuß des Berges um ihn scharten. Dieses Bild, das sie heute auf den Tod nicht mehr ansehen konnten, weil es nicht mehr das Bild war, das sie sich einst von ihm gemacht hatten in den Stunden der Verwirrung. Er ist nie dieses Bild gewesen. Er hat sich mit viel List und Tücke zu diesem Bild gemacht. Und jetzt war nur die Tücke noch da und der Betrug.

Deshalb hatten die Frauen die Schrift, die das Bild umkränzte, nicht entziffern wollen. Die Schrift in ihrer heute kaum noch lesbaren, verschnörkelten, den Runen nachgebildeten Form gehörte zu dem Bild. Bild und Schrift waren eins: List, Tücke und Betrug.

Die Frauen hatten genug an der Ziffer 100. Das war das Wesentliche an dem Schein. Und darum hielten sie ihn fest bis zu dem Augenblick, wo der Umtausch stattfand: Schein gegen Fett, Ziffer gegen Gewicht. Bedürftigkeitsbescheinigung für eine unverschuldete Armut. Und wenn es der einen alten, sechzigjährigen Frau, die neben Kathleen stand, nicht eingefallen wäre, daß sie noch einmal nachsehen wollte, ob sie den Schein auch richtig in der Tasche stecken hatte, zwischen dem zerknitterten Brief, den der Sohn aus dem Moorlager geschrieben hatte und der offenen Mahnkarte vom Hauswirt, die rückständige Miete zu bezahlen, dann wäre das Wort, auf das Kathleen gewartet hatte mit der gleichen Geduld wie alle diese Frauen hier auf die zusätzlichen 100 Gramm Fett, viel zu spät laut geworden.

Jetzt aber war es da. In dem Augenblick, als die alte Frau den Schein aus der Tasche herauskramte und mit den schwachen, von Wind und Wetter geröteten Augen zu entziffern suchte, ob sie auch den richtigen Schein in der Hand habe, den mit der Ziffer 100 und nicht den anderen mit der Ziffer 32, denn soviel in Mark betrug die Schuld der rückständigen Miete. Und weil sie es mit ihren vor Schmerzen tränenden Augen nicht konnte, reichte sie Kathleen den Schein hin, und zwar die Rückseite von diesem Schein, die verschnörkelte Schrift mit dem Bild Hitlers. Und sie sagte zu Kathleen: »Ach, junge Frau, lesen Sie doch mal, ob das wohl richtig ist.«

Kathleen las so laut, daß die vorderen und hinteren sechs Reihen gut verstehen konnten: »Im nationalsozialistischen Staat gibt es keinen Hunger mehr, niemand wird frieren oder gar ohne Obdach sein, wenn jeder an seinem Platz, wo ihn Gott hingestellt hat, die Hände fleißig rührt und nicht müßig zusieht, wie andere die Hände rühren.«

Die alte Frau hob den Kopf und sah Kathleen ganz entgeistert an. Und als Kathleen ihr den Schein zurückreichen wollte, wehrte sie mit 476 beiden Händen ab: »Wenn das, was Sie jetzt vorgelesen haben, in dem Schein drinsteht, dann ist es nicht mein Schein. Den muß ein Fremder mir in die Tasche gesteckt haben.«

»Nehmen Sie nur den Schein, Mutter, es ist schon der richtige, und er gehört Ihnen. Denn ohne diesen Schein bekommen Sie nicht die 100 Gramm Fett.«

»Es steht aber doch nichts drin von Fett. Es steht nur von Hunger etwas da. Und hungern tun wir doch schon genug.«

»Für den Hunger, Mutter, sind die zusätzlichen 100 Gramm Fett bestimmt. Vorn das Fett und hinten der Hunger. Vorn der liebe Gott und hinten der Teufel.«

»Es steht also doch etwas von Fett in dem Schein? Dann geben Sie mir den Schein wieder zurück. Es wird jetzt wohl doch der richtige sein. Nur vom Hunger, verstehn Sie, davon will ich nichts mehr wissen. Viel zu viel weiß ich schon von ihm.«

»Auch wir wissen genug davon!« mischte sich eine Frau ein, die hinter Kathleen stand. »Wir rühren fleißig die Hände, Blutblasen und Schwielen hören nicht mehr auf. Und doch müssen wir hungern.«

»Und trotzdem wir die Knochen rühren und immer noch mehr dafür hungern müssen, sieht man müßige Hände, die sich vor Fett nicht mehr rühren können«, antwortete Kathleen.

»Zum Beispiel der General mit den vielen Orden. Und an einem jeglichen Tag eine neue Uniform, weil er aus der alten immer wieder herausplatzt vor Fett«, zischte eine knochige Frau mit einem grünen, schon halb verwesten Gesicht. »Wenn hier der Laden nicht bald aufgemacht wird, muß ich mich langlegen. Ich kann nicht mehr stehn.«

»Ich werde Ihnen meinen Platz abtreten, vielleicht können Sie hier ein wenig besser stehn, die Erde ist trocken.« Und schon schob Kathleen sich drei Reihen weiter nach hinten und ließ die Frau nach vorn. Und die Nachbarin links in der Reihe, die jetzt neben Kathleen stand, meinte mit boshafter Betonung: »Sie scheinen das Fett wohl nicht nötig zu haben, Fräulein? Sie kassieren wohl Winterhilfe? Ja . . . dann braucht man auch kein zusätzliches Fett. Dann kann man sich sogar jeden Tag einen Sonntagsbraten ins Haus kommen lassen. Und im Auto spazierenfahren mit dem Herrn Bräutigam. Ist es ein Brauner oder ein Schwarzer? Nehmen Sie Schwarz, die haben mehr Pinke-Pinke!«

»Wenn man einen Schwarzen zum Freund hat, braucht man gewiß nicht hier im Schnee herumstehn so wie Sie und ich und die andern 477 alle, die hier auf das bißchen Fett warten. Dann kann man sogar in ein vornehmes Theater gehn und sich von oben bis unten mit Brillanten vollkleckern und dicke rote Backen haben, so wie dem General seine Emmi.«

»Die . . . die . . .? Die hat ihre Fettlebe nicht allein von der Winterhilfe, Fräulein! Was die verbraucht, das wird unseren Männern vom Lohn abgezogen. Vier Mark sechzig Abzüge hat mein Oller jetzt in der Woche.«

»Und mir haben sie die Rente um neun Mark gekürzt«, knurrte ein alter Mann, ein Kriegsinvalide. (Es standen nämlich auch einige Männer unter den vielen Frauen, ein Dutzend vielleicht, aber alle waren so hinfällig und klapprig wie dieser Mann hier, der nur ein halbes Gesicht hatte; die andere Hälfte war eine Maske aus einem toten, unbeweglichen Stück Fleisch, mit einem Glasauge.) »Und ich habe wegen der Rente mehr als zwanzig Briefe geschrieben; sogar an den Herrn Hitler einen: daß es ein großes Unrecht sei, einen alten Krieger um seine paar Groschen zu bestehlen.«

»Dafür haben Sie ja auch vorne im Dreck liegen dürfen, Mann! Und nicht mit Bierseideln und Stuhlbeinen um sich geschlagen. Wären Sie ein Saalkämpfer gewesen oder gar ein Fememörder . . . vielleicht hätten Sie heute einen Posten als Bürgermeister oder Polizeipräsident. Und die Rente würde sich wahrscheinlich verhundertfacht haben.«

»Raufbolde sind das alle da oben, durch die Bank. Und wenn sie es nicht wären, wie würden sie sich sonst so lange halten können? Nur mit dem Knüppel wird noch regiert. Und das wollen nun feine Leute sein und keine Scheidemänner!«

Durch alle Reihen hindurch lief jetzt diese Unruhe, die sich Luft machte, die den Mund immer voller nahm und auspackte. Und jeder wußte etwas anderes von diesen Bonzen zu erzählen, von ihren Ungeheuerlichkeiten, ihren Frechheiten, ihrem herausfordernden Auftreten, ihrem Lotter- und Schlemmerleben.

Und noch viel mehr wußten jetzt mit einem Male die in eine murrende Bewegung hineingeratenen Frauen von der eigenen Not, die täglich immer spürbarer wurde, zu erzählen, von dem Nichts, das sie darstellten, diese nicht gleichgeschalteten »Volksgenossen«, die im Schnee herumstanden, froren, zitterten und husteten und auf die 100 Gramm Fett warteten.

Kathleen hatte sich wieder ein Stück weiter nach hinten geschoben. Sie stand ganz außen, fast an der Bordschwelle des Gehsteiges. Und als ein SA-Mann vorüberkam und es sehr eilig zu haben schien, um 478 aus dem Bereich dieser fauchenden Schlange herauszukommen, hielt ihn Kathleen am Rockärmel fest. Und sie nahm ihn so, wie man diese Kerle heute nehmen muß: »Sie, Herr General, Sie sind doch gewiß einer von der wirklichen Volksgemeinschaft. Sagen Sie uns doch mal bitte, wie lange wir hier noch stehn sollen? Glauben Sie, daß es dem Hitler recht ist, daß wir hier in Wind und Wetter so stehn müssen?«

»Wahrscheinlich wird die Butter noch unterwegs sein. Bei diesem Mistwetter kommen die Lieferautos schlecht durch.«

»Was? Butter sagen Sie? Davon ist gar nicht die Rede. Gibt es überhaupt noch Butter? Zusätzliches Fett soll es für uns geben. Seit acht Uhr in der Früh warten wir schon darauf. Sie natürlich haben schon Ihr Fett. Können Sie jetzt nicht mal ein bißchen Druck dahinter machen, meinetwegen auch mit Stahlruten und Gummiknüppeln? Wir wollen endlich zu unserem Fett kommen.«

»Det Fett haben wir schon lange; unser Fett, vastehste? Auch det mit dem Jummischlauch und Bunker!« schrie eine Frau aus der hinteren Reihe.

Und der SA-Soldat antwortete: »Auch bei uns im Sturm wird das Fett immer knapper, Leute. Wir schmieren längst schon Marmelade.«

»Heldenbutter meinste woll? Det is Krieg. Aus dem einen Dreck heraus, in den andern wieder rein. Schöne Helden seid ihr mir!«

»Wenn das Vaterland in Gefahr ist und uns ruft . . . natürlich ziehn wir wieder in den Krieg.«

»Nun halte aber mal die gute Luft an, Emil!« rief der Kriegsinvalide. »Du hast dich damals, als wir die Rübe hinhalten mußten, schön zu drücken verstanden!«

Der SA-Soldat, dem das Grauhaar aus der engen Affenmütze herausquoll, tastete sich verlegen am Koppel herum. Er wußte genau, wenn er hier mit nationalen Redensarten ausfällig werden würde, dann bekäme er von den Frauen eine Antwort, die ihm für eine ganze Weile in den Ohren hängenbliebe.

Und er sah sich jetzt nach rückwärts um, und als er die Luft rein fand, sagte er zu Kathleen, die ihn noch immer am Ärmel festhielt: »Man macht ja bloß noch so mit. Daß es oben schon stinkt, wissen wir genauso wie ihr. Und wenn euer Gemecker noch eine Weile so andauert, dann wird der Krieg wohl auch bald kommen. Denn Fett ist im Land nicht mehr, und was aus dem Ausland noch kommt, wird auch immer weniger. Deshalb soll der Krieg das Fett bringen, von dort her, wo es die Leute im Überfluß haben. Mehr will ich nicht gesagt haben. Und nun darfst 479 du mich auch wieder loslassen, Puppe. Ich werde vorne im Laden mal nachfragen, woran das eigentlich liegt, daß die Rationen noch nicht verteilt werden.«

»Schaff die Butterfräuleins man gleich nach Oranienburg in den Bunker; die Verteilung machen wir dann unter uns ab«, rief eine Frau, die sich ein paar alte Säcke um die Füße gebunden hatte. Und gleich hinterher schrillte noch eine andere Stimme: »Vergiß nicht, auch den Anstreicher gleich mitzunehmen nach Oranienburg!«

Und als Kathleen endlich den Uniformärmel losließ, warf sich der SA-Mann in die Brust und marschierte nach vorn. Und die Frauen riefen ihm nach: »Besorge dir einen langen Strick, Emil, und such dir auch beizeiten die Laterne aus, nachher, wenn das große Aufwaschen da ist, könnten sie alle besetzt sein.«

»Soviel Stricke wird es gar nicht geben, wenn wir anfangen werden mit dem Hängen, alle zusammen, diese braunen Schweinsköppe!« Und die Frau, die dies schrie mit einer schon nicht mehr menschlichen Stimme, mußte sich an der Wand festhalten. Der ausgemergelte Körper hielt die Balance nicht mehr. Ihr Gesicht bestand nur noch aus dem verzerrten, wahnsinnig schreienden Mund.

Der SA-Mann aber schoß am Laden vorbei und war im Nu um die Ecke. Vor dem Zigarrengeschäft blieb er stehn und holte tief Atem, wobei er die Oberlippe bis zur Nase hochzog und die schwarzen Zahnstümpfe entblößte. Und eine ganze Weile lang schüttelte er den Kopf, mehr über sich selber als über das Geschimpfe der Frauen, und nahm sich vor, solch eine Butterschlange nicht mehr zu passieren. Am Ende konnte das doch noch lebensgefährlich sein.

An der anderen Straßenecke tauchte dann und wann ein Schutzmann auf. Er stellte fest, daß die Frauen in der vorgeschriebenen Reihenordnung auf dem Gehsteig standen, geduldig wie eine Herde. Was aber immer lauter wurde von Reihe zu Reihe, das hörte er nicht; das wollte er nicht hören, das hatte er schon oft genug hören müssen. Es war ja auch nicht so, daß jemand eine Ansprache hielt und die anderen zuhörten. Das Murren und laute Schimpfen war in der ganzen Schlange gleich stark lebendig. Und Kathleen sorgte ständig für neue Stichworte. Sie schob sich immer weiter nach hinten zurück. Denn sie brauchte nicht auf den Augenblick zu warten, wenn der Laden sich öffnete und die Scheine gegen Fett eingetauscht wurden. Sie hätte auch nie solch einen Bedürftigkeitsschein bekommen, denn auf den Polizeirevieren und Wohlfahrtsämtern lagen ihre Personalien vervielfältigt mit dem 480 Vermerk »Hetzer«. Sie hatte hier nichts anderes zu tun, als die Erregung in die Masse hineinzutragen. Das, was bei den Frauen innen bohrte und wühlte, so herauszuholen, daß es Wort wurde. Sie war einer der ersten illegalen Kämpfer, die in dieser Weise arbeiteten. Die diesen hungernden, frierenden und vom hoffnungslosen Warten auf bessere Tage schon ganz stumpf gewordenen Frauen das graue, nichtsnutzige Elend ihres Daseins wieder in das Bewußtsein zurückriefen und sie wachhielten in diesem Zustand der Opposition. In das Bewußtsein hineingehämmert auch die Erkenntnis dessen, wessen Wesens sie waren. Proletarier. Die unterste, die am meisten ausgebeutete Klasse der kapitalistischen Welt, die von der wirtschaftlichen Krise und Unordnung immer am heftigsten durchschüttelte Volksschicht.

Es kam Kathleen nicht sosehr darauf an, bloß die wache Unruhe in die Frauen hineinzubringen. Es kam ihr darauf an, aus solchen murrenden Ansammlungen eine vorwärts rollende Bewegung zu machen. Über diesen Laden, wenn er sich endlich geöffnet und die zusätzlichen Fettrationen ausgeteilt hat, weit hinaus. In die Stuben hinein. In das Gedächtnis der vielen hinein, die schon verlernt hatten zu glauben, daß die proletarische Masse jemals wieder in Bewegung kommt.

Die Fabriken hinter dieser Elendsstraße im schmutzigen Schnee pfiffen den Fünfuhr-Feierabend. Und in diesem Augenblick öffnete sich auch der Laden. Sofort waren zwei Schutzleute zur Stelle, die sich am Eingang aufpflanzten und aufpaßten, daß nicht mehr als acht Frauen zugleich das Geschäftslokal betraten.

Das Murren in der Kette hatte aufgehört. Jetzt dachte jeder nur an die 100 Gramm Fett. Und in Gedanken teilte er sie ein für alle die Tage, die zwischen der nächsten Fettausgabe lagen. Es blieb bitterwenig kleben an den einzelnen Mahlzeiten, die mit diesem Fett nahrhaft gemacht werden sollten.

Kathleen löste sich jetzt von der Schlange. Ihre Arbeit war beendet. Sie hatte mit dem Wort, das wirken sollte, gewuchert. Der Wind trieb ihr den Schnee ins Gesicht, als sie um die nächste Ecke bog, wo die Straße leer lag wie ein ausgetrockneter tiefer Wassergraben. Wo es aus den brüchigen und schwarzen Häuserwänden herausquoll wie das Geknarz von uralten Fröschen, die noch im Winterschlaf liegen, aber schon die rinnenden Säfte des Frühlings wittern.

Kathleen wischte sich die Nässe aus dem Gesicht. Ein SS-Soldat höherer Charge blieb vor Kathleen stehn und feixte blond und lüstern in ihr Gesicht hinein. Sie sagte: »Besetzt!« Und lief in den nächsten Hausflur. 481

 


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