Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXXI   Emigrantenliteratur

Liesa Schimmel, Alma und Frau Doktor Grätz fuhren nach Rangsdorf hinaus zu Robert Steg. Es war ein Samstagnachmittag, die Vorortbahn war überfüllt. Wer nicht unbedingt in der Stadt bleiben mußte, suchte die stillsten Winkel in der Mark auf, allein schon, um diesen lärmenden Betrieb der Fahnenparaden aus den Augen und den Ohren zu bekommen. Die Demonstrationsmärsche rissen gar nicht mehr ab, obwohl doch kein plausibler Grund mehr vorlag, den Bürgern immer wieder und ohne Ende klarmachen zu müssen, wer in Deutschland jetzt die Macht hatte. Diese Macht war so fühlbar vorhanden, daß selbst die Steine schon verspürten, was sich abspielte, womit gespielt wurde und wer die Spieler waren. Denn auch die Steine hatten Kenntnis davon zu nehmen, was im Dritten Reich Großes geschah, von den Prunkbauten für die Bonzokratie bis zu den Hafthäusern. In den Bunkern sogen sie die Schreie der gefolterten und der in den Tod Getriebenen auf, füllten sich an damit und schrien es durch die Nächte denen in die Ohren, die noch Ohren zum Hören hatten.

Von diesem in den Nächten aufgefangenen Geschrei waren die Gesichter der Menschen voll, die sich hier in dem Eisenbahnabteil gegenüber saßen; die drei Frauen, die zusammengehörten, und die drei anderen Personen: ein junges Paar, dessen Hände sich dauernd berührten, in einer ganz unerotischen Zärtlichkeit, das sah man, und dazu die Mutter, entweder die des jungen Mannes oder der jungen Frau. Und es waren schon vier Stationen vorübergeflogen, ohne daß ein Wort gefallen war, denn man hätte doch wenigstens vom Wetter sprechen können, von dem jungen Grün, das mit aller Macht aus Strauchwerk und Baum herausbrach. Es ging auf Pfingsten zu, und in den Gärten der Laubenkolonien, an denen man vorüberfuhr, blühten die gelben Narzissen, die Anemonen, ein paar verspätete Obstbäume noch, und dort, wo die Sonne unbehindert hintreffen konnte, auch schon der Flieder. 414

Man sah nur hinaus mit einem schnell streifenden Blick, man stieß seinen Nachbar an, und in der Bewegung und im Ausdruck der Augen lag das, wozu man ihn aufforderte, teilzunehmen. Oder sich darüber mit zu wundern, wenn man etwas nicht gleich begriff und auch nicht für möglich gehalten hätte, daß es heute noch eine Erscheinung sein durfte. Eine, die von jedem, der mit der Bahn diese Strecke fuhr, gesehen werden mußte. Das war zum Beispiel der hohe Bretterzaun, der ein Fabrikgelände vom Schienenweg abtrennte, kaum sechs Meter von den vorüberfahrenden Zügen entfernt. Und man fuhr eine ganze Weile daran vorüber, denn das Fabrikterrain war mindestens dreihundert Meter breit. Und auf der ganzen Breitseite des hellgestrichenen Zaunes zog sich die teerschwarze Riesenschrift hin: »Rettet Thälmann! Rettet Ossietzky!«

Man hörte aus dem Nebenabteil einen Mann, der erzählte, ohne eine besondere Bewegung in der Stimme: »Das sticht den Leuten nun schon vierzehn Tage ununterbrochen in die Augen.« Er meinte sicher die Inschrift damit. Denn man mußte sie sehen, ob man wollte oder den Kopf schief hielt, bloß, um vor den anderen so zu erscheinen, als interessiere man sich nicht für solch einen Aufruf, vielmehr für die Reklame einer Schokoladenfirma an einer der Wandflächen im Abteil. Dafür aber antwortete eine andere Stimme: »Auf einem Gaskessel in der Jungfernheide stand es auch in meterhohen Buchstaben: ›Thälmann in Ketten; Proletarier, denkt daran!‹«

Und jetzt ließ auch der junge Mann die Hand seiner Begleiterin und drückte sie. Und so verständigten sie sich beide über das, was man von dem Inhalt des Schriftbandes zu denken hatte. Daß man den Mut der Männer, als sie den riesig langen Zaun bepinselten, vielleicht in einer einzigen Nachtstunde, bewundern müsse. Den Mut angesichts der Gefahr und den unerschütterlichen Glauben an die Idee, die hier hell leuchtend zum Ausdruck kam. Diese Männer, von denen es vor einem Jahr hieß, sie seien ausgerottet, total und für die Ewigkeit. Heute behauptete man das wohl nicht mehr so felsenfest. Nur noch ganz nebenbei, in den offiziellen Reden, sprach man davon, daß der Marxismus in Deutschland völlig bedeutungslos sei, die verkrochene Angelegenheit einer irrsinnigen Sekte. Man wußte es natürlich, daß niemand mehr daran glaubte, was offiziell verlautbart wurde; ob es sich nun um den Marxismus handelte, um den unbedingten Friedenswillen des Führers oder um die Behauptung, Deutschland sei unabhängig von fremden Rohstoffen.

Im Nebenabteil hatte dieser Zwischenfall mit dem Schriftband am 415 Zaun und wohl auch die Stimme, die den Eindruck hatte laut werden lassen, daß man etwas riskieren dürfe, schließlich die Zungen gelöst. Und man sprach jetzt davon, daß die zweite Maifeier auf dem Tempelhofer Feld nicht halb so großartig aufgezogen gewesen sei, wie es immerhin die erste war, wo man ein Feuerwerk für dreißigtausend in die Luft hatte jagen können, schön zum Ansehen.

Und es antwortete dem Sprecher jemand, der sich genau darüber klar sein mußte, daß er etwas wagte: »Es sind diesmal auch keine Gewerkschaften mehr dagewesen, die man noch hätte gleichschalten und ausplündern können, nach dem Verpuffen der Raketen.«

Nur einen Augenblick dachte Liesa Schimmel daran, ob es vielleicht nicht doch ein Lockspitzel sei, der in dem Nebenabteil jetzt so rüstig das Wort führte. Aber dann hörte sie auch noch einen anderen sprechen: »Du hättest zum Begräbnis von Franz ruhig mitgehn können. Allein von unserer Bude waren achtzig Kumpels gekommen. Und der Filialbetrieb Brunnenstraße hatte sogar über hundert Mann geschickt. Niemand brauchte seine Papiere zu zeigen. An die Kranzschleifen, da wollten die Braunen ja zuerst ran mit der Schere, denn die Texte paßten ihnen nicht. Aber sie haben nicht geschnitten. Wir waren über fünfhundert und die SA-Kolonne vielleicht vierzig Mann. Ich glaube, man hätte sogar die Internationale singen können, wenn die auf den Kirchhof hingepaßt hätte. Ein paar Worte aber hat ein Genosse riskiert, als er an der offenen Gruft stand und mit jeder Handvoll Erde sprach: ›Du starbst für uns, das soll dir nicht vergessen werden! Was du begonnen hast, werden wir in deinem Sinn vollenden! Wir werden siegen oder mit dir hier unten ruhen. Nach uns die Söhne, die endlich frei sein werden in einer freien und einigen Welt!‹ Und dann haben wir gesungen: ›Ich hatt' einen Kameraden‹. Und es haben sogar einige von den SA-Leuten mitgesungen, in unserem Sinne, nicht anders.«

Liesa Schimmel hatte Alma fortwährend angestoßen und ihr zugeplinkt. Und sie hätte zu gerne den Kopf in das andere Abteil hineingesteckt, um zu erfahren, was das wohl für Männer seien. Den Stimmen nach waren es nicht mehr junge Menschen. Und dieser Jüngling hier im Abteil flüsterte seiner Begleiterin etwas ins Ohr, und sie nickte und lächelte ihn an. Und mit einem Male war aus dem Flüstern doch noch eine Stimme geworden, die auch die anderen hören konnten: »Von den 1134 Wahlberechtigten bei uns stimmten 1060 ab. Der NSBO-Leiter bekam 420 Stimmen, 542 waren dagegen, der Rest ungültig. Das hätte man vor einem Jahr wohl nicht für möglich gehalten.« 416

Das Mädchen (oder die junge Frau) nickte zuerst, und dann brachte sie vorsichtig auch einen Ton heraus: »Laß dich bloß nicht erwischen, Max!«

In Dahlewitz stiegen sie aus. Und mit ihnen auch die Männer aus dem Nebenabteil. Es schienen alles Arbeiter zu sein, Leute zwischen Vierzig und Sechzig, mit scharf herausgemeißelten Gesichtern und Augen, die wahrhaftig nicht bedrückt in die Welt hinaussahen.

Alma, die dem hinteren Abteil am nächsten auf der Bank saß, steckte den Kopf hinein und sah, daß noch zwei Leute dort saßen. Und als Anni Grätz etwas fragen wollte, nickte Alma.

Liesa Schimmel frug: »Habt ihr vorhin die beiden jungen Leute beobachtet, wie die einander verstanden haben, ohne daß ein Wort zwischen ihnen laut zu werden brauchte?«

»Das kann man zu den positiven Dingen dieser sonst ganz und gar unproduktiven Zeit zählen«, antwortete Anni Grätz. »Der Mensch hat jetzt endlich gemerkt, daß einer auf den anderen angewiesen ist, wenn etwas getragen werden muß, das auf einer Schulter allein keinen Raum hat. Und man geht jetzt nicht mehr seines Weges, wenn einer daliegt voller Schwären oder gar in seinem Blut.«

»Ja . . . es hat sehr lange gedauert. Denn zuerst hatte man Angst, stehnzubleiben und sich zu kümmern«, erwiderte Alma. »Man warte ab, bis es Nacht war. Und dann ging man auch noch erst zweimal, dreimal vorüber, ehe man sich bückte. Ist einem inzwischen nun der Mut gewachsen oder ist man schon so abgestumpft dem gegenüber, was einem geschehen könnte, wenn man seine Menschenpflicht erfüllt?«

»Beides wird richtig sein, wenn ich zum Beispiel an meinen Vater denke«, sagte Liesa Schimmel. »Zuerst, als man ihn belehren wollte, es hieße jetzt nicht mehr deutschnational, sondern nationalsozialistisch, wirkte das so abschreckend auf ihn, daß er monatelang nicht mehr über politische Fragen sprach. Und kam es doch einmal an ihn heran, dann sagte er nicht ja und nicht nein. Und an unseren Jungens, so lange sie noch im Hause waren, ging er vorüber, als wären sie Luft für ihn. Nun müßt ihr ihn heute aber mal hören. Nicht etwa, daß er sich radikal gewandelt hätte, dafür ist er wohl schon zu alt. Aber er ist bei dem geblieben, worin er aufgewachsen ist, er hat sich noch tiefer verwurzelt darin. Und immer noch stellt er seinen Bismarck dem Hitler gegenüber, und er hat es jetzt natürlich leicht, recht zu behalten, nicht nur bei seinen wenigen engeren Freunden. Auf dieses Rechthaben pocht er ganz energisch. Und es sind nicht wenige in unserem Viertel, die mit meinem Vater 417 den gleichen Weg gehn. Sie sind gewiß nicht für uns. Sie sind aber gegen die heutige Mißwirtschaft, und das ist doch auch in einem gewissen Maß ein Gewinn für uns. Die Front der Hitlergegner verbreitert sich mehr und mehr.«

»Ein Zählgewinn, Liesa«, erwiderte Anni Grätz. »Zahlen, aber sichtbar noch kein Kräfte-Zuwachs. Die Mittelständler sind noch lange nicht so weit, denen muß es erst ganz grob kommen.«

Sie waren jetzt am Ziel, und Robert Steg stand auf dem Bahnsteig. Sie hatten ihn schon entdeckt, ehe der Zug hielt. Er sah gebräunt aus, als wäre man schon mitten im Hochsommer. Und daß er hier draußen auch ein wenig schlanker geworden war, machte seine Figur beweglicher und jünger aussehend.

Er begrüßte die drei Wochenendler mit einer fast knabenhaft ausgelassenen Froheit. Und auf dem sandigen Weg zu seinem Landhaus führte er bald die eine, bald die andere der drei Frauen. Jede mußte ihm von dem Erlebnis des Schriftbandes erzählen, von dessen Existenz er schon von anderer Seite erfahren hatte.

Der Garten lag jetzt vor ihnen, und jetzt erst kam Robert Steg mit dem großen Geheimnis heraus, das er eigentlich schon auf dem Bahnsteig hatte lüften wollen: »Ich habe Besuch aus Holland. Ein Vetter von meiner Frau. Ihr werdet platzen, wenn ihr hört, wie gut der Junge orientiert ist, und wen alles er nicht kennt von den Emigranten.«

Das Fremdenzimmer, mit seinem weiten Blick über den See und die Kiefernforste, war groß genug, daß sie alle drei dort nächtigen konnten. Es standen zwei Betten und eine Couch, nebenan eine kleine Badestube, was wollte man noch mehr?

Die Hausfrau, Carola Steg, war noch nicht zu sehen. Sie hatte wohl noch mit dem Kaffee zu tun. Und während die drei Frauen sich umzogen und säuberten, deckte Robert Steg auf der Veranda den Tisch, der Holländer half ihm dabei. Liesa Schimmel war neugierig. Sie beugte sich aus dem Fenster und stellte fest, daß der Fremde ein Mann in den besten Jahren sei; mit dem entsprechenden halbkahlen Kopf und etwas Bauch. Über diese Feststellung lachten sie alle drei wie halbflügge Pensionsmädchen, nur Alma schämte sich gleich darauf.

Das Haus Robert Stegs lag von der um diese Zeit ziemlich belebten Chaussee einen halben Kilometer entfernt. Rundherum ein Garten, andere, aber noch nicht bebaute, Grundstücke grenzten an. Ein Ort, von einem Fremden nicht so leicht aufzufinden. Hier war man vor Horchern an der Wand in jedem Fall sicher. Und bei den Rangsdörfern 418 galt Robert Steg als ein »Halbverrückter«, als ein Mann, der Bücher schrieb, die aber niemand verstehen konnte.

Gleich in den ersten Tagen nach der »Machtergreifung« hatte sich allerdings die hiesige Ortsgruppe der NSDAP zu einer Haussuchung eingestellt. Und als die vier braunen Musketiere die vielen Bücher an den Wänden sahen, schien es ihnen ratsamer zu sein, mit dem Herausnehmen lieber erst gar nicht anzufangen. Robert Steg zeigte ihnen eine mit Holzschnitten von Cranach geschmückte Lutherbibel von 1560, in einem gelben, mit Messingbeschlägen versehenen Schweinslederband. Und während sie darin herumblätterten und die altertümliche Schrift zu entziffern suchten, hielt Steg ihnen die Zigarrenkiste hin und schenkte einen Schnaps aus. Und zeigte ihnen zwischendurch auch noch Goethes »Hermann und Dorothea« in der Ausgabe mit den Bildern von Ludwig Richter. Und als sie schließlich nach Schriften von Karl Marx fragten, da zeigte er ihnen auch die erste, zweibändige Ausgabe vom »Kapital«. Und es meinte der eine von den Braunhemden, ein biederer Landbäckermeister, das sei doch wohl nicht der Bolschewik Marx. Und Robert Steg antwortete treuherzig: »Das stimmt, meine Herren, denn um 1860 herum wußte man bekanntlich noch nichts von Bolschewismus.« Und damit war die Haussuchung zur beiderseitigen Zufriedenheit beendet. Seitdem hat sich niemand mehr sehen lassen von dieser Ortsgruppe.

Das erzählte Robert Steg, als sie schon am Kaffeetisch saßen, und er erzählte es eigentlich nur für Liesa Schimmel, die anderen beiden Frauen und der Holländer wußten es schon.

Was jetzt erzählt wurde, bewegte sich zunächst im Privaten. Alma und Anni waren seit Ostern nicht mehr hier draußen gewesen. Nun aber sollte es so sein, daß sie regelmäßig alle vierzehn Tage kommen sollten, auch Liesa Schimmel. Der Holländer, er hieß Jaap Amersfoort, bedauerte, daß der Doktor Grätz nicht mitgekommen war, man habe in Amsterdam häufig von ihm gesprochen, auch in Paris sei sein Name ein paarmal genannt worden, natürlich immer nur dort, wo man ganz unter sich war. Man sei genau orientiert über seine Arbeit in der illegalen Bewegung.

Anni Grätz war zuerst sehr erschrocken; sie meinte: »Die Spitzeltätigkeit ist doch enorm. Wäre es nicht richtiger, man ginge mit der Nennung von Namen vorsichtiger um, auch in Räumen, wo Horcher an der Wand nicht zu befürchten sind? Hier ist es ja auch nur ein kleiner Kreis, wo Indiskretionen überhaupt nicht möglich werden können, und doch existieren keine wirklichen Namen, nicht einmal Ziffern.«

Jaap Amersfoort konnte Anni Grätz bald beruhigen mit Einzelheiten, 419 die er von seinen deutschen Freunden in der Emigration als Augen- und Ohrenzeuge erfahren hatte, und Robert Steg tat noch einiges aus seinem Wissen hinzu.

Carola brachte die Kinder, die bis jetzt mit dem Mädchen am See gewesen waren, zu Bett. Die Tischgesellschaft flanierte derweile im Garten herum, und Robert Steg demonstrierte an Beeten, Stauden und Sträuchern seine landwirtschaftlichen Kenntnisse und Fertigkeiten. Er lebte heute als ein ohne Pension aus dem Amt gejagter Obermagistratsrat a. D. und nicht gleichgeschalteter Schriftsteller sozusagen von der Luft und von den Lilien auf dem Felde, denn in Deutschland durfte kein Artikel, kein Buch von ihm erscheinen.

Er lachte darüber, als dem Gespräch diese Wendung gegeben war und wollte damit beweisen, daß er nicht darauf wartete, in Gnaden wieder aufgenommen zu werden. Und damit setzte man sich wieder auf die Veranda. Das Mädchen aus dem Dorf war nur tagsüber im Haus beschäftigt. Jetzt war man wirklich und tatsächlich ganz unter sich.

Es soll zwar nicht sein, daß man im Hause eines Schriftstellers von Literatur spricht. Man sprach auch nicht von Robert Stegs bisherigen Büchern oder von seinen neuen Arbeiten. Man wollte aber von Jaap Amersfoort hören, was die emigrierten Schriftsteller so trieben und was man andererseits draußen von den Schriftstellern dachte, die hiergeblieben waren und sich gleichgeschaltet hatten, freiwillig oder unter Drohung und Zwang, und jetzt den Veitstanz um den braunen Götzen mitmachten.

»Ja . . .«, antwortete Jaap Amersfoort, »zunächst einmal geht es den meisten von euren Leuten schlechter noch als schlecht. Das haben sie gewiß auch nicht anders erwartet. Emigration ist keine vom Staat finanzierte Propagandareise und schon gar nicht eine Sommerfrische. Wer in einem fremden Land für dessen Zeitungen und Zeitschriften schreiben will, muß in der Landessprache verflucht sattelfest sein. Ja, er soll sogar die ansässigen Kollegen womöglich auch noch ausstechen durch Originalität der Einfälle und der Technik. Deutsch geschriebene Feuilletons von einem Übersetzer erst zurechtschustern lassen, das ist ein zeitraubender und kostspieliger Umweg. Und es langt auch nur für zwei, höchstens drei Mal. Dann ist der Reiz der Neuheit abgeblaßt. Ich wüßte tatsächlich nur einen Fall zu nennen, wo Autor und Übersetzer auch heute noch funktionieren und beide dabei auf ihre Kosten kommen. Diese Einheit jedoch waren sie schon vor der Etablierung des Dritten Reiches, wenn auch nicht in einem so ausschließlichen Maß.« 420

»Die Emigration hat aber doch eigene Zeitschriften«, warf Anni Grätz ein. »Dann und wann bekommt man hier ein Heft in die Hände. Ich habe erst vorgestern vier Nummern der ›Neuen Weltbühne‹ erwischen können. Man hat uns die ›Sammlung‹ gebracht, die ›Internationale Literatur‹, das ›Neue Tagebuch‹. Aber das ist ja nur ein Bruchteil, wir möchten alles und regelmäßig lesen.«

»Es ist staunenswert, daß Sie das erreichte, was Sie eben aufzählten. Der Strom in den unterirdischen Kanälen funktioniert also. Wenn es natürlich auch nicht Mengen sind, die durchkommen. Allerdings wird die breite Masse wohl nicht erfaßt werden davon. Und das ist schade.«

»Das kann ich nicht beurteilen, Herr Amersfoort, ob es Mengen sind«, fuhr Anni Grätz fort. »Von dem aber, was für mich sichtbar vorliegt, kann ich behaupten, und Frau Alma wird es mir gern bestätigen, daß ein einziges Exemplar dieser Schriften oft durch Hunderte von Händen geht. Und daß jeder in diesen Blättern abgedruckte Artikel mit einer Aufmerksamkeit und Intensität gelesen wird, wie man früher nie diese Artikel, Berichte oder Feuilletons gelesen hätte, und wäre der Verfasser der liebe Gott gewesen. Und wenn ich noch hinzusetze, daß man ganze Artikel oft auswendig lernt und dann mündlich weitergibt, werden Sie wohl einen ungefähren Begriff wenigstens von dem bekommen, wie die Wirkungen beschaffen sind, die von diesen kleinen Mengen ausgehn. Die ganze illegale Betätigung, soweit sie in unseren eigenen Zeitschriften ihren Ausdruck findet, wäre ohne die aktuellen Artikel der Emigrantenzeitschriften bei weitem nicht so vielgestaltig. Fragen Sie Liesa; wir stehlen nach Strich und Faden. Einzelheiten erfahren wir hier genug, uns fehlen aber die großen Übersichten, die Summierungen, die Schlüsse. Und das vermittelt uns eben die Publizistik der Emigration. Wir wissen, was in den Kellern der SA-Kasernen und der bewußten Einrichtung in der Prinz-Albrecht-Straße, in den Polizeigefängnissen und im Columbia-Haus vor sich geht. Von denen, die das Tageslicht noch einmal zu sehen bekommen. Das ganze Ausmaß jedoch des Terrors, das haben wir erst von den Männern erfahren, die sich nach draußen haben retten können. Und mit diesem Tatsachenmaterial wuchern wir. Nein, ich wollte jetzt auch nicht in das rein Politische hineinkommen, obwohl das ja unsere vornehmlichste Sorge überall und immer sein soll. Ganz gewiß: wir leben Tag und Nacht damit. Und wir leben eigentlich nur noch dafür, jeder in seinem Pflichtkreis. Und wenn ich Ihnen jetzt einen Arbeiter vorführen würde, einen von unseren proletarischen Kameraden, dann erst bekämen Sie einen Begriff von der fanatischen Intensität der 421 illegalen Arbeit. Die nicht nur aufklärt, sondern auch handelt. Wir Intellektuellen sind ja nur Anrainer und haben es oft sehr schwer, daß man uns einbezieht in die Aktionen. Als Ärztin habe ich das Glück, den an und für sich schon sehr mißtrauischen Menschen näherzukommen. Oft aber habe ich doch das Gefühl, daß ich als Fremdkörper empfunden und betrachtet werde. Da darf man dann nicht leicht verletzbar sein und sich etwas einbilden auf das bißchen Mehr-Wissen, über das man verfügt. Ich sage es noch einmal: es ist schade, daß Sie nicht wenigstens unseren Freund Lück kennengelernt haben.«

»Sei beruhigt, Anni«, sagte Robert Steg, »ich habe gestern nacht Franz Lück hiergehabt. Die Wirkung auf Jaap Amersfoort war so, daß er nachher zu mir sagte: Wenn ihr diesen Kampf nicht gewinnt, dann ist Deutschland beim besten Willen nicht mehr zu helfen. Verstehst du? Das ist der Eindruck gewesen.«

»Ich kann Ihnen nur sagen, liebe Frau Doktor, viele Wochen noch werde ich daran zu knabbern haben. Ich weiß jetzt erst, was im deutschen Proletariat und den ihm benachbarten und mit ihm einigen Schichten vor sich geht. Das zu erfahren und zu erleben hat meine Aufgabe überhaupt erst lohnend gemacht. Ich glaube, daß ich damit und mit dem, was ich im rheinischen Kohlenrevier schon erlebte, anständig werde wuchern können. Vielleicht glauben dann gewisse Stellen bei uns, auf die es ankommt, mir mehr als den Emigranten, deren Äußerungen sie oft als zu subjektiv geurteilt beiseite schieben oder doch nur halb werten. Ich werde übermorgen noch einen anderen Mann aus der Bewegung sprechen, den Franz Lück mir zuführen wird.«

»Wie lange denken Sie noch hierzubleiben?« fragte Liesa Schimmel.

»Wenn Sie in vierzehn Tagen noch einmal herauskommen, bin ich wieder hier. Inzwischen will ich für ein paar Tage nach Prag und Wien.«

»Sehen Sie, Mister Amersfoort, das wollte ich noch sagen: Auch die Prager deutschsprachige Presse erhalten wir mit ziemlicher Regelmäßigkeit. Manchen deutschen Schriftsteller finden wir dort wieder, von dem wir annahmen, er sei überfällig. Jetzt aber wollen wir endlich von Ihnen wissen, in welcher Form draußen sich das Rein-Literarische bewegt. Auch wir wollen heute unseren Sonntag haben, das heißt: die Ruhe, ein Buch zu lesen. Und weil hier über die Bücher, die wir lesen möchten, gesprochen wird, frage ich: Welche Bücher werden geschrieben? Wie ist es mit der Qualität beschaffen, und wie werden diese Bücher von der ausländischen Kritik aufgenommen? Ich frage auch deshalb, weil Bücher uns seltener zu Gesicht kommen. Das, was wir in den 422 Zeitschriften angezeigt finden, macht allerdings nicht immer einen hervorragenden Eindruck auf uns.«

»Wollen Sie mir, werte Frau Doktor Grätz, zuvor eine Gegenfrage gestatten. Es läßt sich dann wesentlich leichter über das von Ihnen angeschnittene Thema debattieren. Wer, Ihrer Ansicht nach, schreibt heute in Deutschland noch ein belangvolles Buch? Sind die großen Autoren, die einst Deutschlands Literatur repräsentierten, nicht alle in der Emigration? Ich habe mich mit Robert Steg bereits darüber ausgesprochen. In einem gewissen Grade ist er ja Partei, schaltet also aus. Sie aber werden, glaube ich, unparteiisch urteilen. Ich werde Ihnen nun, damit wir keine großen Umwege zu machen brauchen, eine Stelle aus der ›Sammlung‹ vorlesen, es ist die zuletzt erschienene Nummer, die Sie noch nicht hier haben können, eine Stimme aus der Emigration über die in Deutschland verbliebenen Schriftsteller. Hören Sie: ›Es hat vor Hitler ein Dutzend literarische Richtungen nebeneinander in Deutschland gegeben, heute gibt es nur eine: den Byzantinismus. Es ist die niedrigste Form der geistigen Sklaverei. Kein Schriftsteller darf einen freien Gedanken äußern. Kein Schriftsteller darf sich auf einen anderen Schriftsteller als Hitler beziehen. Hitler aber bezieht seine Aussprüche von Rosenberg. Rosenberg bezieht seine Aussprüche aus Die Weisen von Zion. Davon lebt die deutsche Literatur.‹«

»Nein!« unterbrach ihn Alma. »So allgemein darf man die Dinge nun doch nicht nehmen, selbst wenn man damit einen polemisch-propagandistischen Zweck verfolgt, nebenbei auch noch private Verärgerungen mit einfließen läßt und sich der gleichen Mittel bedient, wie sie Herr Goebbels sich aus dem Handgelenk schüttelt.«

»Gestatten Sie mir bitte, daß ich noch eine andere Stelle aus diesem Aufsatz von Hermann Kesten über die deutsche Literatur vorlese?«

»Entschuldigen Sie bitte, daß ich unterbrochen habe!«

»Bitte, bitte! Und nun weiter. ›Literarisches Programm also: Adolf Hitler. Unter diesem Programm, unter dem Namen dieses Autors, der über das deutsche Volk, nicht aber über die deutsche Sprache Gewalt hat, schreiben Binding, Blunck, Bruno Brehm, Hans Carossa, Dwinger, Hans Grimm, Johst, Kolbenheyer, Max Mell, Agnes Miegel, Wilhelm Schäfer, Ina Seidel, Hermann Stehr, Emil Strauß und Ernst Wiechert. Es mögen bedeutende Talente darunter sein (was ich nicht glaube). Sie sind verdammt zu lügen; sie sind verurteilt, wie Hitler zu schreiben. Sie sind verkauft und verraten.‹« Jaap Amersfoort klappte das Heft zu und sah Alma an, als wolle er zunächst einmal von ihr speziell eine Äußerung 423 zu den vorgelesenen Sätzen erfahren. Denn daß sie ihn unterbrochen hatte, schien darauf hinzudeuten, daß sie am stärksten reagierte.

»Sie sehen mich an, Herr Amersfoort. Sie halten mich wohl für eine streitsüchtige Person? Eine Streitfrage haben Sie natürlich aufgeworfen. Und es kommt noch hinzu, daß ich diesen Herrn Kesten persönlich kenne; wir trafen ihn einmal in einer Gesellschaft bei dem Verleger Kiepenheuer, zu dessen Geschäftshaus er ja in einer bestimmten Beziehung stand. Und ich kenne andererseits auch einige der von ihm genannten Autoren persönlich. Wir brauchen uns also mit Einzelheiten nicht mehr aufzuhalten.

Wenn Herr Kesten glaubt, den Dichtern Ernst Wiechert und Hermann Stehr sowie der Ina Seidel den Rang eines bedeutenden Talentes absprechen zu müssen, so hat das für mich den gleichen Wert, wie wenn ich von Goebbels höre, der Euringer sei das neue große, in die Zukunft weisende deutsche Genie. Herr Goebbels will nicht objektiv sein. Herr Kesten will auch nicht objektiv sein. Vielleicht sagte er sich: In solchen Fällen, wo ich eine gute Figur zu machen habe bei denen, für deren Brot ich jetzt heulen muß, gibt es keine Objektivität mehr. Nur Fetzen, die fliegen.

Es gibt eine Objektivität, aus der heraus man zu einem gerechten Urteil kommen kann, man muß es nur wollen. Und diese Objektivität kann es nicht zulassen, daß man Hans Carossa, zum Beispiel, auf den Unkrauthaufen wirft, nicht glaubt, daß man ihn als Talent werten muß. Was heißt hier überhaupt Talent? Ein vollkommen verschobener Begriff. Ich kann bei einem Anfänger von Talent sprechen. Nicht aber bei fertigen Künstlern, wie Hermann Stehr oder Emil Strauß. Von diesen Dichtern liegen fertige und rundherum kritisierte dichterische Leistungen vor. Es wäre vor zwei Jahren noch selbst Herrn Kesten nicht eingefallen, diese Leistungen zu bloßen Talentproben herabzumindern. Aber lassen wir hier den Streit um Wertungen auf der Stufe des absolut Künstlerischen. Was mich außerordentlich deprimiert, ist die andere Fragestellung, die Herr Kesten ventiliert und dazu die Behauptung wie ein Feuerzeug aus der Tasche zieht und den Docht brennen läßt, daß alle in Deutschland verbliebenen Schriftsteller verdammt seien, zu lügen, verurteilt, wie Hitler zu schreiben.

Für solch eine üble Schurkerei und Verleugnung ihrer künstlerischen Grundsätze haben sich Ernst Wiechert, Hermann Stehr, Wilhelm Schmidtbonn und die Ina Seidel nicht hergegeben. Und man kann es auch nicht von Walter Bauer sagen, der jenes erschütternde Buch über 424 die Leunawerke geschrieben hat, ja nicht einmal von Hans Henny Jahnn und Georg Kaiser. Das sind alles Schriftsteller, die geblieben sind, die das Gleichschaltungsformular unterzeichnet haben und Hitler damit Sieg-Heil wünschten. Ich sehe das Unterschreiben als eine Angelegenheit der privaten Gesinnung an, mein Erschrecken darüber war das einer Trauer über den Verlust einer Freundschaft, und das Unwerturteil trifft ausschließlich den Menschen, nicht den Künstler. Denn ich kenne kein Buch, keinen Aufsatz der Autoren, woraus man den Schluß ziehen könnte, sie seien in dem lügnerischen Geist und dem barbarischen Stil Hitlers geschrieben. Es werden bei den meisten sehr gewichtige Gründe privater Natur gewesen sein, vielleicht Einwirkungen des Zwanges, diesen Schein der Anerkennung Hitlers als »Führer« zu unterschreiben. Von einem dieser genannten Schriftsteller weiß ich es, wer und was ihn zwang. Jedenfalls schloß die Unterschrift nicht das unbedingte Ja-Sagen an dem ein, was von Hitler und seinem Klüngel ausgeht. Es ist ein billiger Hochmut, den Herr Kesten äußert. Wenn er noch Max Barthel genannt hätte, dem vom Verlagshaus Kiepenheuer das bedeutende Talent zugesprochen wurde, in den Waschzetteln. Oder wenn er an Gottfried Benn erinnert hätte, einen Schriftsteller, den er vor kurzer Zeit noch mit allen Mitteln propagandistischer Finesse förderte und dem deutschen Volk als ein Genie hinstellte, das nur alle tausend Jahre einmal sterngeboren körperlich wird . . . ja, dann wäre jede seiner Behauptungen ein Treffer gewesen. Denn bei diesem Barthel und noch mehr bei diesem Benn kann man in der Tat und mit vollem Recht von Lüge und Minderung der künstlerischen Elemente sprechen, seitdem sie der Swastika nachliefen, um ihr Privates in Sicherheit zu bringen. So weit reicht aber nicht einmal die Subjektivität des Herrn Kesten, der es übrigens früher nicht verwinden konnte, daß ihm bei dem Start der Bronnen, Fallada, Ernst von Salomon und Billinger ein flinkerer Geschäftemacher zuvorgekommen war.

Das ist das Ärgerliche an solchen Aufsätzen, denn sie ahmen die Methode nach, die Goebbels handhabt und die wir verabscheuen und anprangern. Es stimmt wirklich nicht. daß die Dichter, deren künstlerische Fähigkeiten Herr Kesten minderte. und die ich meinerseits sehr hoch schätze, verdrehen und verdummen. Sie schreiben gewiß nicht gegen Hitler. Sie haben aber auch nicht gegen Hermann Müller, Brüning und Hindenburg geschrieben. Ganz gewiß aber schreiben sie nicht für Hitler; das soll im allerweitesten Sinne aufzufassen sein. Sie schreiben natürlich an den politischen Bewegungen dieser Zeit vorbei und lenken 425 ab, könnte man mißbilligend sagen, von den gräßlichen Dingen, die geschehn. Sie halten sich an das Allgemein-Menschliche, das jenseits der Fahnenaufzüge dahinkümmert. Sie behindern uns aber nicht, sie besudeln uns nicht: das bedeutet für uns hier schon sehr viel. Sie lieben Deutschland, aber nicht den Unfug, der heute mit Deutschland getrieben wird. Und sie würden in einer anderen Landschaft nicht seßhaft werden können, als Künstler vielleicht zugrunde gehn. Ich kann es mir vorstellen, die Geschichte hat Beispiele dafür.«

»Ich glaube, Alma, daß du ein wichtiges Moment vergessen hast«, warf Anni Grätz ein. »Nämlich das Vorhandensein einer zwar schon geschriebenen, aber noch nicht gedruckten Literatur, die an den Zeitgeschehnissen nicht vorübergeht, die vielmehr Stellung nimmt, und zwar eine ganz entschiedene. Es ist möglich, Herr Amersfoort, daß Sie solche Bücher einmal kennenlernen werden, wenn Sie sich von Franz Lück oder Hillmann weiterführen lassen. Allerdings sind es keine bereits abgestempelten Autoren, sie haben noch keine bestimmte ›Marke‹. Es sind vorzugsweise Menschen, die über Nacht die Spur und den persönlichen Mut zu ihrer Begabung gefunden haben. Es fehlt ihnen nur der breite Weg in die Öffentlichkeit, die Möglichkeit der Drucklegung und des Vertriebes. Das Ausland wäre in diesem Fall ein zu weiter Umweg und Herr Kesten wohl auch nicht der geeignete Beurteiler. Vor allem: wir hätten nichts davon, flöge solch eine Ringeltaube im Ausland auf. So, wie wir ja auch nicht viel von den Büchern haben, die in der Emigration geschrieben wurden.

Sehen Sie: Ich lese hier im Aprilheft der ›Sammlung‹ ein Verzeichnis der im Querido Verlag erschienenen Bücher der emigrierten deutschen Schriftsteller. Hier ist Döblin: Babylonische Wanderung, Emil Ludwig: Der Nil, Joseph Roth: Tarabas, Arnold Zweig: Spielzeug der Zeit. Haben Sie diese Bücher gelesen? Was sagen diese Bücher von den Geschehnissen im heutigen Deutschland? Werden der Welt die Augen geöffnet? Sind die Stimmen, die sich doch in aller Freiheit formen und entwickeln konnten, so gewaltig, daß sie bis in den letzten Winkel der Welt hinein erschallen und gehört werden? Die Dichter haben mehr als ein Jahr Zeit gehabt, sich vorzubereiten. Ich möchte jetzt aus den Werken herauslesen, wie sie diese Zeit ausgenützt haben.«

»Sie nannten ein paar Bücher, deren Titel Ihnen dieses Heft hier vermittelt hat. Betrachten Sie bitte die Autoren und deren neue Publikationen, die ich Ihnen jetzt nenne, nur als eine quantitative Ergänzung und nicht Wertung: Max Brod: Die Frau, die nicht enttäuscht, Gina 426 Kaus: Die Schwestern Klee, Adrienne Thomas: Dreiviertel Neugier, Stefan Zweig: Erasmus von Rotterdam.

Ich habe nur die bekannteren Namen genannt, uns bekannt, jenseits der deutschen Grenzen. Namen, denen man in unseren Literaturberichten eine Bedeutung zugemessen hatte, lange vor den Geschehnissen von heute. Leute, von denen man annehmen mußte, daß sie sich ihrer Verpflichtung bewußt seien. Zeichen und Wunder haben wir gewiß nicht erwartet. Ich muß Ihnen aber ganz offen gestehn, daß auch unsere Erwartungen sich nicht erfüllt haben. Wir wollten gewiß keine von Blut und Dreck, Todesgeschreien und Leichenhaufen nur so strotzenden Zeitgemälde. Darüber, was in Deutschland an Grauenhaftem geschah und täglich noch weiter geschieht, haben uns die Tageszeitungen und Journale der deutschen Emigranten nicht im unklaren gelassen und Einblicke in authentische Dokumente verschafft. Hinzu kamen auch noch die Tatsachenberichte im ›Braunbuch‹ und ähnlichen politischen Zweckschriften. Was wir von den emigrierten deutschen Schriftstellern aber erfahren wollten, war mehr. Und was unter diesem Mehr zu verstehn ist, hat einer meiner Freunde, einer der angesehensten Kritiker unseres Landes, an einer hervorragenden Stelle öffentlich geäußert. Ich kann Ihnen hier nur einige Sätze, die mir im Gedächtnis haftengeblieben sind, wiedergeben. Sie treffen den Kern. Sie geben eine Antwort auf das, was Sie über die Literatur der deutschen emigrierten Schriftsteller von mir zu erfahren begehrten: ›Als die deutsche offizielle Literatur sich infolge der nationalen Revolution planmäßig auf die nationalen Werte zurückzog und die europäischen Strömungen ebenso planmäßig boykottiert wurden, da war die Sache der deutschen Emigrations-Literatur auch unsere Sache. Obwohl die Verwandtschaft zwischen den Schriftstellern der deutschen Emigration und ihren europäischen Kollegen ziemlich unabhängig von rein literarischen Maßstäben entstand. Wir haben darum auch nicht erst abgewartet, bis die Emigranten zu produzieren anfingen. Wir durften vorher schon ganz offen sagen und schreiben, die Emigration sei uns wichtiger als das literarische Geschäft des Herrn Goebbels. Und wir hatten uns die Freiheit vorbehalten, unser Verhältnis zu jedem einzelnen Emigrantenbuch in seiner Eigenschaft als literarisches Phänomen zu begründen. Die deutsche Literatur vor der nationalen Revolution war in manchen Hinsichten eine Literaten-Literatur. Man soll das offen sagen. Nur so kann man zu einem besseren Verständnis der heutigen Emigrationsliteratur gelangen. Daß die Emigranten besser schreiben als die Dunkelmänner der Reichskulturkammer, beweist also 427 nicht die Superiorität der Emigranten; es beweist nur ihre größere Anpassungsfähigkeit. Die wirkliche Emigrationsliteratur ist noch ungeheuer klein. Und zwar deshalb, weil die Majorität der bei den holländischen, französischen, tschechischen und schweizerischen Verlegern erschienenen Bücher sich gar nicht wesentlich von der vorhitleristischen Produktion unterscheidet. Manchmal hat man den Eindruck, daß der Betrieb einfach fortgesetzt wird; was früher Kiepenheuer und Fischer waren, sind heute Querido und Allert de Lange. In der Wahl der Motive macht sich freilich die neue Situation bemerkbar. Aber Motive entscheiden nicht über den Wert einer Literatur. Ich habe in den Emigrantenbüchern tatsächlich auch ehrliche Empörung gefunden. Und ehrliche Empörung ist mir schon lieber als glatte Literatur. Die Emigrantenliteratur soll mehr sein als eine Fortsetzung. Sie soll den Mut haben, ihre europäische Aufgabe zu verstehn. Sie soll die Genialität der großen Persönlichkeit als Maßstab wählen . . .‹

Diese Stimme meines Freundes ist nicht immer und nicht überall so verstanden worden, wie es in ihrer Absicht lag, sich zu äußern. Aber diese eine Stimme war die Stimme vieler. Und nicht allein nur die der ausländischen Beobachter der deutschen Emigrantenliteratur. Sie war die Ansicht auch vieler Emigranten, die ich sprach. Manche freilich drückten sich bedeutend drastischer aus und oft sehr grob.«

»Mein lieber Amersfoort, ich muß dir heute noch einmal und jetzt nicht mehr unter vier Augen erklären, daß ich, als ich ein paar von den hier genannten Werken in die Hand bekam, die Bände mit Herzklopfen aufschnitt und mich Hals über Kopf an die Lektüre gemacht habe. Aber nach den ersten Seiten schon bin ich aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr herausgekommen. Ich hatte mir, als ich die Titel betrachtete, nämlich eingebildet, es liege hier eine ähnliche Tarnung vor wie beim Braunbuch; mein Exemplar war außen aufgemacht als ein Band Goethe. Nein, diese Bücher der schönen Literatur waren so echt wie der Inhalt. Und in dieser Echtheit habe ich mich nicht zurechtfinden können. Ebensowenig, wie ich mir die unsäglich passive Haltung erklären konnte. Zum Teufel, man treibt doch keinen Mißbrauch mit seiner Freiheit! Und hier in diesen Büchern wurde wahrhaftig Schindluder mit der Freiheit getrieben. Die meisten der Autoren sind doch nach allen Seiten hin frei. Wir hier haben keine Seite, von der man sagen könnte: sie führe in die Freiheit. Uns ist nur das Unterirdische der Illegalität gegeben, ein dauerndes Sichbewegen auf einer Falltür. Was unten uns erwartet . . . das soll hier nicht erörtert werden. 428

Wenn diese freien Menschen, mit Rücksichtnahme auf in Deutschland noch ansässige Verwandtschaften, vorsichtig zu Werke gehn mußten, dann hätte die Vorsicht sich auf den Namenswechsel beschränken sollen, und sie hätten um den heißen Brei, den man auszulöffeln verpflichtet war, sich nicht herumdrücken dürfen.

Für das, was ich schreibe und unter Todesgefahr ins Ausland expediere, existiert nicht mehr der Name Robert Steg als Markenschutz und Reklamezeichen. Ich pfeife darauf, mag er in Amerika auch ›gut sein für zweihunderttausend Dollar‹. Ich halte mich an das Werk. Das Werk ist das Primäre. Die Wirkung, die von ihm ausgeht, ist nichts anderes als die von mir gewollte Spannung, mich so und nicht anders zu äußern. Hätte ich mit meinem Namen Handel und Wucher treiben wollen, es wäre mir leichter und einfacher geworden zu leben; leichter jedenfalls, als es hier die Umstände zulassen. Und es stand mir auch absolut nichts im Wege, eine offene Tür nach Holland oder Frankreich zu finden. Ich konnte in Stockholm bleiben, als ich vor einem halben Jahr mich dort besuchsweise aufhielt. Und hier auf dem Tisch lag sogar eine Freipassage nach Australien.

Ich bin geblieben. Es hat mich zu keiner Stunde noch gereut, daß ich den Entschluß faßte zu bleiben. Und daß die Lockung, eine reinere Luft zu atmen und geistig und körperlich in Sicherheit zu sein, sich erst gar nicht verdichten konnte zu einem entscheidenden Dreh. Herr Kesten, der über uns ein summarisches Urteil fällte, ohne sich die Mühe zu geben, nachzuspüren, ob die Gebliebenen durch die Bank fanatische Anbeter der Swastika geworden sind, soll mich also getrost denen zuzählen, die verdummen und lügen. Und mag er an den Knöpfen seiner Weste abzählen, ob ich auch fürderhin noch zu den bedeutenden Talenten gehören darf, zu denen er sich hinaufgespiegelt hat, oder zu der anderen Spezies, zu den Fallsüchtigen, die sich zu den frechsten Halbtalenten korrumpieren ließen.

Man soll mich aber auch nicht den Carossa, Stehr und Strauß zuzählen. Ich will nicht sein einer von den Stillen im Lande; denn ich war nie still. Die deutsche Seele ist mir kein moralischer und schon gar nicht ein künstlerischer Wertbegriff. Dieser merkantile Abfall der ›Blauen Blume‹ ist schon lange vor Hitler zu einem dürren Stiel abgegriffen gewesen und neuerdings zu einem Folterinstrument umgeformt.

Der Schrei aber, den die dicksten Mauern der Bunker nicht zu ersticken vermögen, der ist mir zu einem Begriff von Sein oder Nichtsein geworden. Dieser Schrei steckt mir im Gehirn wie ein Eiterpflock. Dieser 429 Schrei reißt an meinen Nerven. Dieser Schrei läßt mich nicht mehr los, und würde ich mich sonstwohin vor ihm verkriechen.

Ich kenne die Mentalität der holländischen und schweizerischen Verleger nicht. Ich stelle mir aber vor, Geschäftsleute werden es in jedem Fall sein. Das wäre an sich kein Vorwurf, der ausdrücken soll, daß ein übler Geruch von den Verlegern ausgeht. Ich kenne die Leute nicht, wiewohl ich die Lektoren kenne. Ich kann deshalb auch nicht einmal mutmaßen, inwiefern die Verleger auf die Autoren eingewirkt haben. Man kennt aber von hier aus, aus dem Vergangenen, den Willen solcher Leute, die Literatur zu konfektionieren. Man will, von bekannten Zuschneidern gefingert, eine Stange voll Ware auf Lager haben und halten, entsprechend der Mode auf den internationalen Märkten. Dort heißt der augenblickliche Barometerstand: ›Nur keine Greuel‹. Aber Geschichten, die in alle Sprachen der Welt übersetzt und von der Frau Babbitt mit dem gleichen Heißhunger verschlungen werden können wie von der Señorita Gomez und der Madame Cormeilles. Kurzum: Konfektion!

Es wäre böse und von niederschmetternder Wirkung, ginge die von solchen Verlegern (oder deren Lektoren) in die Welt geschickte Literatur der deutschen Emigranten den Weg aller Konfektion. Der Eindruck, den wir bis heute empfingen, abgesehen von ein paar Werken, die sich mit den inneren Zuständen von Deutschland befassen, ist ein fataler. Vielleicht ändert sich die Situation mit einem Schlage und von Grund auf, wenn ein neuer Verleger auftaucht, der etwas riskiert, der sich meinetwegen auch nur bloß einbildet, daß er eine Aufgabe zu erfüllen habe. Und die Schriftsteller werden sich inzwischen innerlich haben sammeln können und in dem neuen Zustand der Heimatlosigkeit, der dauernden Bespitzelung und des Alleinseins in ihrem Wirklichen, zurechtgefunden. Wir haben uns auch erst finden müssen und sind monatelang mit einem Kopf herumgelaufen, der an alles andere dachte, nur nicht an das Schreiben. Eher schon an das Drucken. Und wir druckten schließlich auch. Die Handzettel, die dabei herauskamen, sahen nicht schön aus. Die Leute aber haben sie gelesen. Und es waren immer nur ein paar Worte, meist klassische, von Heine, Hölderlin, Lessing und Börne. Von Börne, zum Beispiel, haben wir diese Sätze gedruckt:

Was andere tun für die Tyrannei,
das sollen wir nicht für die Freiheit tun?
Lernen wir begreifen, daß die Tyrannen
nur solche Waffen fürchten,
die sie selbst gebrauchen . . . 430

Viele von unseren nichtschreibenden Kameraden meinten: Für die politische Agitation unbrauchbar, weil nicht direkt genug; aber mal etwas anderes. Man kann diese kleinen roten, blauen und grünen Blätter heute noch, nach einem Jahr, in manchen Wagen der Vorortbahnen kleben sehn. Und auch bemerken, daß man den schon fast verblichenen Text immer noch entziffert. Wir wollten damals auch gar nicht mehr, als daß die Passanten aufmerksam werden und lesen sollten. Und sich dann ihr Teil dabei denken, jeder in seiner Weise.

Ich sagte, daß man hier viele Wochen und Monate lang mit einem dicken Kopf herumgelaufen ist und das Schreiben sonstwohin gewünscht hat. Und so mögen viele von den über die Grenze gegangenen Schriftstellern auch in der Emigration herumgelaufen sein und laufen wahrscheinlich auch heute noch so herum, weil sie zunächst einmal dafür sorgen mußten, den Hunger zu stillen und das Dach über dem Kopf sich zu schaffen. Und wenn sie sich auf ihre vier Buchstaben einmal werden setzen dürfen und die Kraft noch haben, den aufgespeicherten Spannungen Luft zu schaffen, dann wird es gewiß nicht in der Weise geschehn, daß man aus alten Schwarten die längst gründlich ausgeschlachteten Männer der Historie herausklaubt und ihnen einen neuen Anstrich gibt. Was Schiller oder Shakespeare in die fünf Akte eines Dramas hineinpreßten, das soll man nicht zu einem dickleibigen Roman auseinanderzerren. Die meisten Schriftsteller, die sich sehr schnell in der Emigration zurechtgefunden hatten, haben das aber getan, ohne daß das Bettelsuppen-Elend sie dazu gezwungen hätte. Sicher aber die kommerzielle Verpflichtung, die alte, bewährte Hausmarke nicht durch sogenannte Greuel problematisch zu machen oder gar durch eine andere zu ersetzen.

Wer die Haltung des anderen Teils der emigrierten Schriftsteller kennenlernen will, und ich spreche hier ausschließlich von denen, die nicht in der Sowjetunion ein neues Wirkungsfeld gefunden haben, dem soll Kenntnis von einem Brief gegeben werden, den mir ein bislang noch nicht als Emigrations-Dichter bekanntgewordener, aber in den Literaturgeschichten der Vorhitler-Zeit schon vorhandener Autor geschrieben hat. Von diesem Mann, der drei abgelehnte Bücher im Rucksack stecken hat, konnte man bisher glauben, auch er drücke sich um Pflichten herum oder sei halb und halb schon bekehrt zu der Hakenkreuzlerei. Dieser Brief von einem Mann, dessen Betrachtung über die Emigrations-Literatur noch ein bedeutendes Stück weiter reicht als die Kritik, die ein uns wohlwollender Ausländer verlautbaren ließ, wird sicher nicht 431 der einzige seiner Art sein. Und dieser Mann, dessen Bücher ignoriert werden von diesen Kesten und Genossen, wird zu jenem Dutzend Autoren zählen, denen zuletzt nichts anderes übrigbleibt, als ein Ende zu machen; mit dem Leben und mit dem Dienst am Werk, von zwei Seiten dazu getrieben.« Er ging in das Nebenzimmer und kramte im Schreibtisch herum.

Carola benutzte diese Pause und mischte in der Küche eine erfrischende Limonade. Liesa Schimmel war ihr dabei behilflich. Sie preßte die Frucht, sie schleppte Gläser, Teller, Bestecks und Gebäck herbei und tat so, als sei sie hier zu Hause. Carola zeigte stolz auf einen Bauern-Topfkuchen: »Der ist mir heute früh ins Haus geschickt worden. Wir wissen nicht von wem. Es liegt auch kein äußerer Anlaß vor. Aber das geht nun schon ein paar Monate so; mal kommt ein Stück Schinken, mal Speck und Gepökeltes und ein anderes Mal ein Sack Kartoffeln. Dies hier mit dem Sonntagskuchen hat sich schon ein dutzendmal wiederholt. Dabei wissen doch die Leute weiß Gott nichts von uns.«

»Wer heute etwas wissen will, und es brauchen nicht immer nur Spitzel zu sein, der findet auch die Möglichkeit, das zu erfahren, was er gern wissen möchte«, erwiderte Alma. »Ich weiß zum Beispiel von Hillmann, daß er nicht nur bei euch hier genächtigt hat, er hat im Dorf auch noch andere Stellen gefunden, sich unsichtbar zu machen.«

»Wir wundern uns ja auch jeden Tag neu, daß man uns jetzt ganz ungeschoren läßt. Ob es daran liegt, daß viele Leute von hier nur der aufgezwungenen Uniform nach Nazis sind und wenn auch keine ausgesprochenen Antifaschisten, so doch Gegner des Regimes? Es ist mit den Kleinbauern eine ganz besondere Sache. Das eigene Haus und das Stückchen Land gibt ihnen eine gewisse Ruhe, die Dinge, die sich außerhalb ihres Anwesens abspielen, nicht hitzig zu nehmen. Sie leiden keine Not, die Produkte werden ihnen sozusagen aus der Hand gerissen, und die Zeit, die sie sich mit dem Betrachten der Vorgänge auf den Lebensmittelmärkten lassen, könnte man beinahe so ausdeuten, als stünde der große Schrecken uns erst noch bevor.«

Robert Steg hatte den Brief endlich gefunden. Nach der eingenommenen Erfrischung waren die Nerven wieder etwas beruhigt. Aus dem Garten herauf wehte ein von Klee und Grasblüte gewürzter Wind. Der See scholl voller Rufe. Ein paar tausend Menschen säumten mit ihren Zelten die weitgespannten Ufer.

»Eine fette Weide für unsere Arbeit, dieser See«, bemerkte Liesa Schimmel. »Hier kommen wir an Leute heran, die sonst nicht so leicht 432 zu fassen sind. Ich bin mit Franz Lück in diesem Jahr mindestens schon fünfmal dort gewesen. Und es hat sich gelohnt.«

»Die Jungens sind auch heute auf dem Posten, verlaß dich darauf!« Robert Steg hatte mit einem Male du zu ihr gesagt. Sie bekam davon einen roten Kopf. »Der Tobak jedoch, der dort am See geraucht wird, schmeckt allerdings weniger nach Literatur als dieser hier, der in den Urwäldern am Alto Paraná gewachsen ist. Er wird euch nicht allzusehr das Blut in Wallung bringen, hoffe ich.« Und er las: »Spräche man lediglich von der in den Tageszeitungen oft bekundeten antifaschistischen Gesinnung, von dem europäischen Geist in dieser Gesinnung und den rein artistischen Leistungen der emigrierten Schriftsteller . . . dann zweifelsohne äußert sich in den Publikationen, die uns nicht entgehen, eine deutlich erkennbare Gegenströmung. Ein Wirbel, der den Schmutzschaum und die Großsprecherei, die aus dem offiziellen Hitlerreich immer wieder herausblubbern, abfängt und auseinandertreibt. Das ist immerhin eine Wertstufe in der sonst grauenhaften Öde dieser Emigration. Eine Tröstung.

Was die Emigrations-Literatur uns bislang aber schuldig blieb, das ist die Aussage über das Erlebnis dieser Emigration. Und man muß, ob man will oder nicht, die Frage stellen: In welcher Seligkeitsetappe der Emigration leben denn eigentlich diese Leute, die in ihrem Schriftwerk sich so äußern, als schrieben wir das Jahr 1926? In dieser von einer merkwürdigen Lähmung des Geistes befallenen Zeit, als man von Hitler noch aussagte: Den Narren kann man doch nicht ernst nehmen! Den kann man bestenfalls dem Weissenberg, dem Käseheilkundigen, oder dem Naturapostel Gustaf Nagel zurechnen. Dieser Braunauer Kinderluftballon, dieser mit einem Siegfried-Komplex behaftete Schmierenkomödiant wird an dem Prellbock der allgemeinen Lächerlichkeit sich bald den Kopf einrennen und hinfort jene Häuschen anstreichen, die gleich neben dem Misthaufen stehn.

Wo, in den bisher erschienenen Schriften der deutschen Emigranten, ist die Erscheinung in aller Deutlichkeit gestaltet, die an den Begriff Emigration geknüpft ist? An diese Emigration, die von Tausenden von Intellektuellen in der krassesten Form des Elends und der Erniedrigung erduldet werden muß, von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr immer grauenhafter, dem ganz einfachen Entweder-Oder immer näher und näher. Weil die Umwelt mittlerweile schon abgestumpft ist, weil das Elend des Emigranten sich zu einem Dauerzustand herausbildet. Während das erwachte, nationale Deutschland sich, wie 433 man es in den ausländischen Blättern häufig genug vorgesetzt bekommt, zu einem in der Welt einzig dastehenden Musterland entwickelt.

Es soll hier nicht untersucht werden, ob diese Deutschland hochlobenden, oft anbetenden Stimmen gekauft sind oder in einem blinden Glauben solchermaßen krähen. Sie sind da und in den Ländern, wo man sie hört, angesehen und als Autoritäten geschätzt. Man soll das nicht mit Geringschätzung oder gar Ironie beiseite schieben.

Wo ist das Erlebnis dieser emigrierten Menschen, die ungewöhnliche Intensität ihrer seelischen und körperlichen Umformung, von einem emigrierten Schriftsteller aufgegriffen worden als eine positive geistige Ergriffenheit und zur literarischen Form verdichtet?

Als eine bewußte Flucht aus der Wirklichkeit, auch aus der privaten, erscheinen die meisten schöngeistigen Schriften dieser Emigration. Kein Victor Hugo, kein Georg Büchner, kein Heinrich Heine!

Aber selbst, wenn wir von der wahrhaftigen Enthüllung der Gegenwart im literarischen Kunstwerk absehen, bleibt immer noch das offen, wofür die Emigrationsliteratur, mit ganz wenigen Ausnahmen, auch diese Antwort noch schuldig geblieben ist, nämlich: das erfahrene Erlebnis der neuen Umgebung, umgestaltet zu einem Werk über die Wesenheit von Menschen und Landschaft der Gegend, deren erdverbundener Bürger der Emigrant nicht sein kann und in seiner Generation auch nicht werden wird, aber doch ein Siedler in dem, was dieses fremde Land in seinen Tiefen und Breiten ausmacht.

Und wenn man als gegeben voraussetzen muß, daß allein schon die Einwirkung der psychischen Belastung auf den Emigranten ihn hellhöriger machte, seinen Blick schärfte und sein kritisches Vermögen mit neuen Erkenntnissen anreicherte, dann kann ihm der Mensch der neuen Umgebung, die Landschaft und der wechselseitige Betrieb von dem einen zum anderen, nicht Hekuba geblieben sein. Dann kann und darf er sich nicht einspinnen wollen in Akten und Fakten einer längst verschütteten Epoche, die zu genießen ein Fressen für erlebnislose, für saturierte, ruhig in ihrem Fett schmorende Zeiten sein kann. Aber das dürfte nicht Geltung haben in einem Augenblick, wo es jedem unter den Fingernägeln brennen sollte, für oder gegen den Ansturm der faschistischen Flutwelle tätig zu sein.

Es leben schreibende Emigranten in Skandinavien, in der Schweiz, in Frankreich, in England, in Nord- und Südamerika, in China und 434 Australien. Geschieht nichts in diesen Ländern, erlebniswert genug, um damit zu ringen? So aufreizend, daß die äußeren und inneren Gesichte sich zum Bild, durch das besondere Temperament eines Emigranten gesehen, verdichten? Ist das Schicksal der Emigranten in diesen Ländern ein so fabelhaft glückhaftes? Und ist der aus der Heimat verjagte, verfemte und zu einem Stück Mist degradierte Mensch an sich keine Figur, problematisch und tragisch genug, um ihn für alle Zeiten zu einem Stein, der im Wege liegt, zu gestalten?

Das sind Dinge, die sich in dem Werk Heinrich Heines erfüllt und ihm seine Besonderheit und Einmaligkeit gegeben haben. Und die sich in dem neuen Werk ganz weniger, von der Gunst des Welt-Büchermarktes nicht getragener Emigranten auch wieder zu vollziehen scheinen. Wir wollen nicht ungerecht sein und schon nach so kurzer Zeit des Bestehns der Emigrantenliteratur das Fazit ziehen: Hoffnungslos! Obwohl die innere Empörung, die absolute Spannung, das Unmittelbare oft von entscheidender Bedeutung für die künftigen Wege, für die neuerliche Richtung sein können, die der exilierte Autor einschlagen muß, um sich vor sich selber und vor der Welt zu rechtfertigen als ein Mensch, der, als er über die Grenze ging, eine Verpflichtung auf sich genommen hat. Aber wenn die deutsche Emigrationsliteratur sich nicht bald in das ihr Gemäße hineindreht, wenn sie die Nabelbetrachtung der Götter der Griechen und die jesuitischen Zweckberichte spanischer Conquistadores aus den Urwäldern des Amazonas immer noch für wichtiger hält als die trockenen Geschichten aus der Verbannung oder die ekelhaften Greuel aus dem Land der Bunker und Judenpogrome, dann wird sie kaum noch als eine spezifische Besonderheit in der europäischen Literatur angesehen werden können, dann wird man sie, obwohl sie vorgibt, Maß und Wert zu wollen, im Sinne des Weltbürgers Goethe, nicht viel anders werten müssen als das, was auf dem Jahrmarkt der Literatur unter der Marke Unterhaltung angepriesen und verschlissen wird. Wir wollen und wir müssen hoffen, daß in den kommenden Betriebsjahren eine entscheidende Wendung sich vollzieht, daß die Cliquen doch noch umlernen und nicht hindernd als Mauer davorstehen, wenn die Talente durchzubrechen versuchen. Schriftsteller, an denen der große Umbruch nicht als eine Art Börsenkrach vorübergegangen ist, und die die Emigration nicht betrachten als einen Wechsel von Hotelzimmer zu Hotelzimmer, mit vollen Bücherkisten und von Dünkel und Hochmut getrübten Hornbrillen . . . !«

Es dauerte eine geraume Zeit, bis die Erregung, in die die Gesellschaft 435 durch diese »sich endlich Luft machenden Worte« eines literarischen Außenseiters geraten war, wieder abklang. Niemand aber schien Lust zu haben, eine Diskussion über dieses schwierige Thema zu entfesseln. Nur Robert Steg sagte, als er den Brief wieder zusammenfaltete: »Ja, das ist schon so . . .« 436

 


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