Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXIV   Sommerfrische in Olivos

Hans Feinhals hatte das Glück gehabt, einen bedeutenden Teil seines Vermögens in die Emigration hinüberretten zu können. Er war allerdings einer von den wenigen Leuten gewesen, die das Fanal des Reichstagsbrandes nicht erst abwarten mußten, um von der Naziotie den Begriff zu bekommen, daß sie mit dem Feuer nicht zu spielen gedenke, sondern es auflodern lassen würde, um das entsprechende Öl hineingießen zu können, das sie seit 1928 in ständiger Bereitschaft hielt.

Feinhals wurde also nur um den Teil seines Vermögens gebrandschatzt, den er noch nicht in Sicherheit hatte bringen können. Und auch das Plakat: »Achtung, Jude!« hatte er noch erleben dürfen.

Im April 1933 aber rauchte er seine schwarze Brasilzigarre schon in Amsterdam, schätzte den Betrieb ab, den die nachrückenden Leidensgenossen mit der Zeit machen würden, sah sich darauf ein paar Wochen London an und traf im Hydepark niemand, vor dem er sein Gesicht hätte wegdrehn müssen. Doch der dicke gelbe Nebel und die von Blut noch triefenden Beefs wollten sich seinen Lebensgewohnheiten nicht anpassen lassen, und so entschied er sich schließlich und endlich, obwohl ihm Rio de Janeiro vorgeschwebt hatte als eine Stadt, in der es sich leben ließe, drei Monate, sechs Monate, ein Jahr, für Buenos Aires. Von dieser Stadt wußte er zwar auch nicht mehr, als man von den argentinischen Briefmarken ablesen konnte: Generale und Denkmäler, Zuckerrohrplantagen und Bohrtürme, Ochsen especial und Hammel, die wie ungeschorene Pudel aussahen. Er hielt es für einen schlechten Börsenwitz, daß man auf der Calle Corrientes zuweilen auch ein spanisches Wort hören kann. Vom Jiddischen verstand er gerade so viel, wie man dazumal in Ruhleben oder Hoppegarten brauchte, um als »Einer vom Bau« zu gelten.

Er hat die Calle Corrientes und ihre Umliegenschaften bis heute auch noch nicht betreten. Dafür aber läßt er ein paar Tausend Pesos in einer 308 echt Offenbacher Lederwarenfabrik, die einem Tschechen gehört, »still arbeiten« und betrachtet durch entsprechende Gläser die Geschäfte in Mais und Weizen. In dem »besseren« Vorort Olivos bewohnt er ein von Palmen und Eukalypten, Araukarien und Bananenstauden dekoriertes Chalet. Schleierfische von bengalischen Farben und silberne Seepferdchen tummeln sich in einem von unten elektrisch beleuchteten Aquarium. Und Frau Almanora fühlt sich am Flügel, mit Brahms und Beethoven, wieder ganz wohl. Die beiden Töchter besuchen zwar nicht den Pestalozzi-Dang, sie wollen sich unter allen Umständen und schnell verhiesigen. Im Privaten aber leben sie immer noch in der Luft, die sich einstens zwischen »Abel mit der Mundharmonika« und »Kleiner Mann, was nun?« auf den Tennisplätzen Rot-Weiß und vor den Affenkäfigen im »Zoo« herumtrieb und in der Ahornallee zu Berlin-Westend den festen Wohnsitz hatte.

In der Villa Almanora zu Berlin-Westend zählten zur Familie etliche der schönsten jungen Liebermänner, in Geldeswert kaum noch abschätzbare Renoirs, garantiert waschechte van Goghs, dazu Gauguin, Degas, Matisse und James Ensor. Zuweilen konnte man dort auch das Vergnügen haben, mit Orlik zu speisen und von seinem Bleistift auch gleich verarbeitet zu werden. Viele Leute von Kunst und Wissenschaft saßen da, und von der jüngeren Literatur die Herren Birkenfeld und von Vegesack. Die dazugehörigen Kalbsschlegel und Kaiserschoten hatte Rollenhagen geliefert, die Eisbombe stammte aus dem Hause Hilprich. Oft gab es ganz bunte Abende, mit einem echten Willi Rosen am Flügel, mit Niggertänzen von Edwin Redslob und Konferenzen von Werner Finck mit Bezüglichkeiten auf Streicher und auf Severings Spezialtalent für Ruhe und Ordnung im Land.

Das wäre nun alles so schön gewesen; es wurde aber ein deutsches Märchen daraus, die übliche Einleitung zu solchen Märchen wenigstens. Ins Argentinische ist dieses Märchen der Emigration noch nicht übersetzt worden, wird sich wohl auch schwer machen lassen, denn hier heißt es nicht: Was und wer bist du gewesen, sondern: Wen wirst du morgen vorstellen?

Hans Feinhals lehnt es heute noch strikt ab, sich dieser kreolischen Maxime anzupassen. Er läßt sich auch den Emigranten nicht hinzurechnen; deren Blätter und sonstiges Schriftwerk liest er nicht. Und das Deutsch im »Argentinischen Tageblatt« lehnt er der vorwiegend akademischen Akzente wegen ab. Er ist aber auf die »Neue Zürcher« abonniert und liest dazu die »Deutsche La Plata Zeitung«. So, wie er 309 auch ehedem schon zum »Berliner Tageblatt« stets und fortlaufend den »Angriff« las und zur »Neuen Rundschau« die völkischen Quengeleien des Herrn Will Vesper. Von den Kräftekreisen beider Pole umspannt, bezog er aus der goldenen Mitte der Vernunft seine eigene gefestigte Weltanschauung, vor allem die Gewißheit, daß es der Spree nie und nimmer einfallen würde, ein Nebenfluß der Maas oder der Weichsel zu werden.

Bei einem Buchhändler, der deutschsprachige Gemischtwaren vertreibt, kam es endlich zu dem längst in der Luft liegenden Wiedersehn zwischen Hans Feinhals und Johann P. Langfoot. Sie sahen sich eine Weile gegenseitig von der Seite an, beide hatten sie an Gewicht und Haar abgenommen, die Hornbrille hatte sich auch eingestellt, obwohl sie hier jede Waschfrau trägt. Nur der Akzent Berlin Romanisches Café war im Palaver mit dem Buchhändler geblieben. Auf dieses vom Literaturwart angeschlagene Stichwort kam es schließlich zu jener Begrüßung, die nie ganz bei der Sache ist, weil alle Dinge doch nur den Lauf nehmen, den sie, von ihrer Natur aus, nehmen müssen: um eine Besorgung zu machen oder noch rechtzeitig ins Theater zu kommen. Zwei Jahre von Deutschland fort . . . das war in diesem Augenblick so, als sei der Auf- und Umbruch erst vorgestern abend um halber zehn bei einer Premiere von Bronnen im Staatstheater geschehen.

Nach ein paar Tagen saß man, unter Terebinthen und Mandarinenbäumen, auf der Terrasse der »Sommerwohnung« in Olivos bei Sauerkraut und Frankfurter Würstchen industria argentina. Und von der einst zahlreichen und viel beneideten Bilder-Familie derer um Renoir und Degas war nur noch ein mattblauer Don Giovanni von Slevogt vorhanden. Felix Holländers Sohn sollte in der Nähe, irgendwo in Chile, ein berühmter »Gaucho judio« sein. Wegen der enorm hohen Telefonspesen unterblieb der beabsichtigte Anruf. Man liebte es hier, ganz streng unter sich zu sein. Der Mond schaukelte wie ein indianisches Binsenboot der großen Lagune Titicaca auf einer grasgrünen Wolke. Das hätte der Orlik eigentlich zeichnen müssen: Die Palmen, den Mond und die Duftwolken von Glühkäfern und Jasmin. Hans aber las eine Buchbesprechung aus der Frankfurter Zeitung vor. Der Ton der hochlobenden Sätze hatte sich ein wenig nach nordischem Mythen-Belang verschoben, sonst war ja alles beim alten geblieben, nämlich die goethesche Sendung des Hans Carossa in den feldblumigen Mikrokosmos des Alltags hinein.

Das stimmte den Gastgeber so zufrieden und heiter, daß Frau 310 Almanora die Mondschein-Sonate, die sie am Abend vorher schon gespielt hatte, wiederholen mußte. Die Zigarren aus den Tabaken von Santos und dem Rio Beni schmeckten nach allen rinnenden und sich tausendfach verwandelnden Säften des Urwaldes.

Von Tabak und Ananas, blauen Faltern und argentinischen Tangos kam man auf den von Kasimir Edschmid entdeckten Inka Tupac Yupanqui zu sprechen. Eine hauchdünne, in Silber getriebene Maske, aufgefunden in den grünen Sicheldünen des Illimani, sollte porträtähnlich sein. Ein Kopf von solch einer übermäßigen Degeneration der menschlichen Form, als wären die letzten Ramses und die letzten Inkas Zwillingssöhne der Mamacilla von Tavantiusuyu gewesen.

Diese Maske – wenn man sie mit der äußersten Fingerspitze berührt, geht ein glashelles Klingen von ihr aus – hatte Feinhals bei einem Trödler auf der Calle Reconquista aufgestöbert. Nicht billig, wert aber war sie das Dreißigfache von dem, was man schließlich bewilligt hatte.

Um diese Maske herum, meinte Frau Almanora, müßte Johann P. Langfoot eigentlich eine dramatische Nachtszene in Blankversen schreiben. Tochter Ruth aber glaubte, daß es eher ein Thema sei für Hugo von Hofmannsthal, nicht mehr für den schon verstorbenen, aber für den künftigen. Denn nach Johst und Euringer, Becher und Brecht . . . was könnte in dem wiederkommenden Deutschland noch gesichtet werden? Die Emigration etwa?

Diese Emigration war kein gern beklopftes Thema in der »Sommerwohnung« von Olivos. Teils, weil sie der Situation doch gar nicht gewachsen war, was schon Tucholsky vorausgesagt hatte, teils, weil sie in der guten Gesellschaft der Stadt in keinem besonderen Geruch stand. Was sind das denn auch schon für Leute? Niemand von ihnen ist ein Star. Jeder will angestellt gewesen sein bei der »Ufa« oder mit Reinhardt Billard gespielt haben in Leopoldscron. Die meisten müssen sogar am Webstuhl stehn und die argentinische Kunstseidenweberei sechs Monate oder neun erlernen, ehe sie auf zwanzig Pesos Wochenlohn kommen. Wer ein politischer Clown war, darf Schuldirektor werden, und Johann P. Langfoot spielt Ziehharmonika in einem Boliche für die kroatischen Sackwirker. So schlägt man sich durch die neuen Verhältnisse, und wenn die Gesellschaft den »Lohengrin« hören will, muß sie sich extra den SA-Mann Lorenz kommen lassen. Gewiß, auch der Emil Ludwig und der Stefan Zweig ließen sich von der literarischen industria argentina rufen. Hatten sie aber Zeit gehabt, eine Minute 311 lang ruhig unter Palmen und Eukalypten zu sitzen und zu bemerken, daß der Mond in diesem Land, wenn er am Himmel als Sichel erscheint, verkehrt herum die Wolken befährt? Die Emigranten haben die Zeit und sehen es nicht. Sie bemerken lieber ein Match zwischen »Boca juniors« und »Racing« und spucken auch schon so wie die Hiesigen, das weiße Seidentüchel kokett aus der Gesäßtasche flattern lassend. Sie werden es auch noch ein Stück weiter bringen oder sie werden bleiben, was sie sind.

In diesem Hause in Olivos war immer eine auf Flaschen gezogene Luft vorhanden, eine Verdünnung von jener Sorte, wie man sie früher über Samstag und Sonntag fuderweise und naturell von den mecklenburgischen Seen bezog. Es drang kein animalischer Schrei von draußen herein. Die Zikaden zirpten, die Gefühle aber waren abgedichtet gegen Überlagerungen störender Nebenerscheinungen. Der Ochsenfrosch schrie sich heiser, und es zuckte nicht einmal in den Mundwinkeln von Feinhals.

Einmal aber gab es auch in dieser gut temperierten »Sommerwohnung« eine Haupt- und Staatserscheinung. Das geschah, als die »alte, liebe, nach Heimaterde und Roggenblüte duftende Cap Arcona« einfuhr und einen deutschen Gleichschalt-Dichter mitbrachte. Einen Kopf, den Meister Orlik mindestens zehnmal in sein Merkbuch aufgenommen hatte. Einen von der deutschen Judenschaft besonders hochgeschätzten »Magier der deutschen Seele«. Eine Seele, von der ein anderer urschriftlich gleichgeschalteter deutscher Schreiber in S. Fischers Legendensammlung einmal geschrieben hatte: »So wendet sich der Dichter in einem seltsamen hymnischen Aufschwung unser aller Zukunft entgegen. Er trägt Glauben und Ruhe durch alle zeitliche Not und Verwirrung, und es ist charakteristisch zu sehen, wie seine ganze künstlerische Kraft in diesen Monaten und Jahren um die Gestaltung seiner eigenen Vergangenheit kreist . . . Der Adept begriff: Die Welt ist rund, und vor Gottes Angesicht gibt es keine Unterschiede der Rassen, der Religionen und Hautfarben.«

Hans Feinhals schickte seine bekannte, von E. R. Weiß radierte, Visitenkarte und Frau Almanora einen Strauß zartester Teerosen »dem alten, lieben und bewährten Freund unseres Hauses« ins Hotel. Es war das vornehmste und dementsprechend auch teuerste der Stadt. Die Ochsenbarone gastierten dort, wenn der Tito Schipa oder der Gigli im Teatro Colón sangen. Die Besanzoni empfing dort, wenn sie, im Glanz ihrer Diamanten und der allseitig bestens bekannten Vogelstimme, auf 312 einen Sprung Rio de Janeiro mit Buenos Aires vertauschte. Der Conde Keyserling war dort auch einmal abgestiegen, in jenen liberalistischen Zeiten allerdings, als es ihm noch nicht verwehrt war, sich mythologisch in Totem, Phallos und das Kreuz des Südens, in Chimú, Gürteltierbraten und nach Pampatulpen duftende Cholas zu verlieben.

Was all diesen Herrschaften recht war, das mußte dem Gleichschalt-Dichter noch billiger sein. Er fuhr und lebte sein täglich sich neuverdichtendes Leben auf Staatskosten, Konto »Kraft durch Freude«, zu Propagandazwecken und um auszutilgen die schmachvollen Hinterlassenschaften der PEN-Brüder.

Dreimal achtzehn Stunden saß Feinhals aufnahmebereit am Schreibtisch, direkt neben dem Telefon. Drei siamesische Schleierschwänze und ein tragendes Mondfisch-Weibchen gingen darüber ein. Auf dem Notenpult aufgeschlagen welkten bekümmert die Ungarischen Tänze von Brahms, und die österreichische Köchin hatte ihre heißesten Tage im Jahr, obwohl Kälbernes und Schweinernes, die zartesten Gemüse des Tigre-Delta und sogar Lauch und Dill, Pimpernelle und Estragon auf Eis lagen.

Der Gleichschalt-Dichter empfing die arischen Nobilitäten der deutschen Kolonie und die Reporter auch jener Gazetten, die bei Goebbels in einem furchtbaren Geruch standen. Er empfing die Schwester-Oberin vom Mutterhaus der Santa Teresita und den jüdischen Dramatiker der südamerikanischen Lande. Er wurde von den hohen Herren der deutschen Botschaft im Speziellen begrüßt, obwohl das »akademische Deutsch« des »Argentinischen Tageblatts« seine Bücher als Stilübungen deklariert hatte. Die Winterhilfsleute gaben ihm ein bayrisches Nationalessen. Den Übersetzern, die nicht kamen, warf er Gangster-Manieren vor. Die Teerosen von Almanora schmückten den Busen von Thusnelda. Und von den »Halbaffen« dieses Landes wurden ihm täglich dreimal die Stiebel auf Hochglanz poliert.

Nichts von diesem sauer erschwitzten Glanz fiel auf das Haus unter Palmen und Eukalypten in Olivos. »Ob es am Ende nicht doch einen zweiten deutschen Dichter gleichen Namens gibt, so, wie es vier Manns in der Emigration gibt und drei Zweige?« sagten die Töchter und versuchten den in den Schläfen schon heftig erschütterten Vater zu trösten.

»Nein, es gibt nur den einen, und er wird überschüttet sein von Einladungen. Es war ein Fehler, daß du deine Karte zuerst geschickt hast, nun liegt sie zuunterst, und wir werden ihn erst haben, wenn er von 313 allen Seiten abgegriffen ist«, wagte Frau Almanora einzuwenden, als Feinhals auf den guten Wein zu sprechen kam, den man immer erst ausschenkt, wenn die anderen schon . . .

Tag für Tag wurde in der »Deutschen La Plata Zeitung« von der Herzlichkeit berichtet, mit der die deutsche Kolonie den Dichter zu dem Ihrigen machte. Und Feinhals las Zeile für Zeile laut vor, über die himmelblauen Fliesen der Terrasse tanzten die welken Blätter der Orangenblüte, und darunter zogen sich die Vorpostenbataillone der roten Ameisen zusammen. Sie witterten die feisten Schlegel und die würzigen Kräuter, die sich mittlerweile schon einen leichten Schimmel zugelegt hatten.

Feinhals sah die silberne Maske des Inka Tupac Yupanqui an. Unter den Augenhöhlen hatten sich Rostflecken gebildet gleich geronnenen, blutig geweinten Tränen. Er fand darin den gegenständlich gewordenen Ausdruck aller seiner seelischen Erschütterungen. Er war bis auf den Grund seines Ichs schon von halben Wahnvorstellungen dezimiert. Frau Almanora versuchte die Erschütterungen mit einem Lied von Heine-Schubert zuzudecken, mit ihren syrischen Augen schließlich und den Lippen der Sulamith, von welchen noch immer die fabelhaftesten Wirkungen ausgingen. Der Mond hing von dem untersten Fiederblatt einer Königspalme herab wie eine von weißen Würmern löchrig zernagte Grapefruit.

So hatte der Orlik auch einmal den Kopf des Dichters gemalt, rund, fleischig, von braungeschwänztem Gewürm zerlöchert; ein verfettetes Sieb, das keinen Gedanken mehr halten konnte. Von solchen bis ins leere Nichts hinein ausgebeutelten Gedanken fand Hans Feinhals doch noch ein paar Körner, die sich bei näherer Betrachtung aber als die Hinterlassenschaft der Würmer herausstellten. Durchgeschüttelt hatte sie die »Deutsche La Plata Zeitung«, als der Dichter die Bonarenser Fleischtöpfe längst ausgelöffelt hatte und seine Goebbels-Sprüche nunmehr den seit einem halben Menschenalter in der Provinz Entre Rios schon verhiesigten »Wolga-Deutschen« aufsagte.

Mit dem Wurmkot ließen sich die überheizten Zierfische nicht mehr ins Leben zurückrufen. Der blutige Rost auf der peruanischen Silbermaske hatte bereits das ganze Gesicht angefressen, eine rätselhafte, bei indianischen Antiquitäten aber häufig auftretende Leprose. Die Erreger waren, das entdeckte Feinhals schließlich nach wochenlanger Beobachtung, die nicht vom Darm aufgenommenen Unverdaulichkeiten der roten Ameise. Die ganze Sommerwohnung war jetzt voller Ameisen. 314

Der Dichter, der nicht gekommen war und Roggenfelder, deren Duft sich nicht hatte ausbreiten können, die ganze Gleichschaltung schließlich, die den deutschen Menschen in Stücke zerschlagen hatte, in hochkantige und abgeplattete Teile, wurden endlich als die Ursache der Ameisen-Invasion angesehen, die in ihrem zerstörerischen Werk vor dem inneren Frieden des Hauses nicht einmal Halt machte.

Almanora spielte wochenlang nicht mehr Brahms, die Töchter strichen anstatt »Dulce de leche« jetzt wieder Gänseschmalz auf die Brötchen, und der »Jüdische Hilfsverein« durfte zum ersten Mal über einhundert Pesos dankend quittieren.

Vielleicht wird Hans Feinhals im nächsten Jahr auch die Calle Corrientes aufsuchen und sich des großväterlichen Viertels Berlin-Hausvogtei-Platz erinnern. Vielleicht auch der Verwandtschaft mit einem gewissen Heinrich Heine.

Und als nach einigen Monaten wieder einmal eine Einladung fällig war zum Abendbrot mit Sauerkraut und Frankfurter und Langfoot, der sich mit der Fahrzeit um eine Viertelstunde verrechnet hatte, den Tisch noch nicht gedeckt, Feinhals aber in der Hängematte unter den beiden Königspalmen fand, fragte ihn der Hausherr, ohne daß er einen Blick von den aufgeschlagenen Seiten der Zeitschrift ließ: »Halten Sie diese Rede für echt? Glauben Sie, daß sie wirklich so gesprochen worden ist, Wort für Wort? Wer ist das überhaupt, dieser Wiechert? Weshalb hat Sami Fischer seine Bücher nicht verlegt?«

»Weil ihm jener Gleichschalt immer im Wege stand, der Ihnen die Ameisen ins Haus geschickt hat.«

»Gut, lassen wir jetzt die Ameisen. Ich habe Zyankali gestreut. Aber habe ich nicht doch recht gehabt? Von innen heraus muß es dämmern. Denn wenn jetzt schon die Münchener Studenten in die Opposition gehn . . .«

»Wie könnte dann Hans Feinhals immer noch darin beharren, hier draußen vorsichtiger mit seinen Gedanken umzugehn als die Tag und Nacht bespitzelten Leute daheim?«

»Ja . . . mein Lieber, an die endliche Wiederauferstehung glaubt wohl jeder von uns, wenn auch jeder in seiner Art. Ich bildete mir dazu eine Sommerfrische ein.«

An diesem Abend, der sich unter Oleander und den nach Kölnisch Wasser riechenden Traubenblüten der Pergola bis in die erste Morgenstunde hinzog, mit Frau Almanora und den beiden von dem Mundharmonikaspieler und dem Blechnapf-Fresser ganz und gar nicht 315 enttäuschten Töchtern (den zersiebten Grapefruit-Kopf hatten sie ohnehin noch nie gemocht) hörten sie zum ersten Male die Koroschieré, die indianische Nachtigall.

Und jene blecherne Stimme, die von einem auf der Terrasse des Nachbar-Chalets aufgestellten Radio herüberschallte und die hier nicht mehr anwesenden Familienmitglieder Liebermann, Renoir, Degas und van Gogh »grausamste Dilettanten« und »Kunststotterer« nannte, vermochte die aus einer dunkeltönenden Flöte quellende Melodie nicht auszulöschen.

Nur von wessen Stimme durchschauert Hans Feinhals sich eine Gänsehaut über das Gesicht frieren ließ, das muß hier noch offen bleiben. Denn er bestellte die »Deutsche La Plata Zeitung« noch immer nicht ab. Aber er las nach dem Wiechert, in vorsichtiger Dosierung, auch schon die Bücher der Emigration. 316

 


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