Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII   Vater, Sohn und Deutschland

Als Liesa Schimmel den Korridor betrat, sah sie, daß im Kontor noch Licht brannte. Der Vater saß am Schreibtisch, hatte ein paar Schnellhefter vor sich liegen und ordnete Zugänge ein. Das Knarren der Tür war ihm nicht entgangen. Er hob den Kopf. Vorn auf den Zähnen balancierte er eine halbe Zigarre. Sie qualmte nicht mehr, er rauchte wieder einmal kalt.

Liesa dachte: Jetzt werde ich wohl doch hingehen und ihm einen guten Abend wünschen müssen, sonst glaubt er womöglich noch, ich hätte ein schlechtes Gewissen, wegen der überschrittenen Zeit. Sie hatte eigentlich um zehn Uhr schon zurück sein wollen. Nun war es bereits zwölf. Und um diese Stunde schlief der Vater in der Regel auch schon.

Sie machte die Tür aber nur halb auf und steckte den Kopf hinein: »Guten Abend, Vater!«

»So spät, Mädchen?«

»Du hast doch nicht etwa auf mich gewartet?«

»Wie du siehst, hat man seine Arbeit.«

»Mit der Arbeit wird es wohl auch Zeit bis morgen gehabt haben.«

»Man soll nichts auf den nächsten Tag verschieben.«

»Ich wollte dir die Arbeit abnehmen.«

»Gewiß, mein Kind; du könntest morgen früh gleich ein paar Rechnungen schreiben. Die Umsatzsteuer ist wieder mal fällig. Und die Kirchengemeinde will auch ihr Geld haben. Und diese Leute hier lassen sich so viel Zeit mit der Regulierung der Rechnungen.«

»Ich werde die Rechnungen schreiben und auch die Schnellhefter in Ordnung bringen. Du aber könntest jetzt wirklich aufhören. Du bist müde. Das ganze Gesicht ist voller Schlaf.«

»Es hat noch Zeit mit dem Schlafengehen.«

»Sag mal: wartest du etwa auf jemand?«

»Ich will nur die Mappen hier fertig haben.« 152

»Ich habe dir doch gesagt, daß ich es besorgen werde; wenn du Wert darauf legst, kann es ja auch gleich geschehen.«

Liesa hatte in dem Blick des Vaters etwas Ausweichendes gesehen. Er wollte wahrscheinlich keine Ausrede erfinden für das, was er zu verschweigen trachtete. Liesa konnte sich nicht entsinnen, daß der Vater jemals gelogen hätte. Wenn er jetzt lügen würde . . . davor hatte sie Angst. Trotzdem: sie wollte wissen, ob er es zu dieser Lüge kommen lassen würde. Und deshalb fuhr sie fort: »Ich bin nicht müde, Vater. Soll ich dir helfen?«

Er legte den Zigarrenstummel aus der Hand, kramte auf dem Tisch herum, als suche er etwas, ohne Grund. Und schließlich drehte er das Gesicht ein wenig von der Lampe weg und sprach in das Dunkel hinein: »Ja . . . der August ist heute nachmittag zu mir in die Werkstatt gekommen und hat mich gefragt, ob er mich heute abend um elf Uhr sprechen könne. Es dürfte aber nur unter vier Augen sein. Und es wäre eine Sache, die ihm keine Ruhe ließe, es hinge seine Existenz davon ab.«

Und darauf rückte er das Gesicht wieder der Lampe zu und sah Liesa an, als wolle er fragen: ›Kannst du dir denken, was der Junge von mir will? Um Geld kann es sich nicht handeln. Denn er hat neulich sogar das Taschengeld zurückgewiesen‹. Und diese Worte kamen ihm schließlich auch über die Zunge, ein wenig stockend zwar.

Liesa hatte im ersten Moment vorgehabt, etwas ganz anderes zu antworten. Und nun fuhr es ihr heraus: »Wahrscheinlich wird seine Kolonne wieder ein paar Menschen erschossen oder erschlagen haben. Und du wirst ihm in aller Gemütsruhe bestätigen sollen, daß er ein nationaler Held ist, heroisch durch die Zeiten wandelt und deine Hochachtung verdient.«

»Du sprichst immer gleich von Totschlagen und ähnlichen Exzessen. Das kann doch nicht alle Tage so gehen. Und man wird sich doch wohl nicht einbilden, daß solche Dinge noch etwas mit Revolution zu tun haben. Diese Ausrottungen müssen schließlich doch einmal ein Ende haben. Oder besteht mit einemmal das ganze deutsche Volk aus Verbrechern?«

»Es scheint so, als finge das Ausrotten erst richtig an.«

»Geh. Er kann jeden Augenblick kommen. Nach Mutter brauchst du nicht zu sehen. Sie schläft seit ein paar Stunden fest. Doktor Frankenstein sagte, in vier Wochen wird sie die Beine wieder gebrauchen können, das Wasser ist schon so gut wie weg. Es ginge alles besser als erwartet. Von dieser Eröffnung bin ich wohl auch noch so wach. Und nicht schlafmüde, wie du glaubst.« 153

»Wann war der Doktor Frankenstein denn hier? Schade, ich hätte gern mit ihm gesprochen.«

»Fünf Minuten, nachdem du weg warst, mein Kind. Ich habe mich auch lange ausgesprochen mit ihm; er wird Mutter weiterbehandeln.«

»Dann wird er wohl nachts kommen müssen.«

»Nach acht, mein Kind. Und der Leute wegen . . . durch den Hintereingang. Das hat er sich so ausbedungen.«

»Hast du bedacht, daß dieser Mann für uns den Hals riskiert?«

»Wir waren uns vollständig darüber einig, daß die Erfüllung einer menschlichen Pflicht bisher noch nie von einem Staatsgesetz behindert worden ist. Und daß man uns auch heute nicht in eine üble Schurkerei nehmen kann, wenn wir die gerechten Beziehungen von Mensch zu Mensch so pflegen, wie es uns das Gewissen vorschreibt. Der Staat kann nicht wollen, daß wir das Gewissen ausschalten.«

»Der neue Staat hat durch die Handlungen seiner Repräsentanten bewiesen, daß er das Gewissen des Individuums nicht respektiert. Daß er im Gegenteil das Bekenntnis zur Gewissenspflicht unter Todesstrafe stellt.«

»Ich weigere mich, solche Ideengänge anzuerkennen. Ich bleibe bei meinem Gewissen und halte es mit dem, wozu es mich verpflichtet.«

»Du hast dir eine schwere Verantwortung aufgeladen mit dem Beharren in einer Idee, die dieser Staat nicht anerkennt.«

»Es geht auch um das Sein oder Nichtsein deiner Mutter.«

»Trotz allem: eine sehr eigensüchtige Handlung. Denn es steht auch das Leben des Arztes auf dem Spiel. Und das eigentlich meine ich mit der Verantwortung.«

»Du übertreibst. Ich hatte, als ich mit dem Doktor über alle die gegenwärtigen Probleme sprach, nicht den Eindruck, daß er ganz besonders exponiert dastünde.«

»Deshalb wohl kommt er auch erst nach acht und durch den Hintereingang. Und wahrscheinlich auch noch in einer Vermummung.«

»Es ist nachtschlafende Zeit, Liesa. Wir wollen hier über diese so schwierigen Dinge nicht länger streiten. Geh zu Bett. Gute Nacht, Liesa!«

Liesa sah dem Mund des Vaters an, daß es keinen Sinn hatte, das begonnene Thema weiter auszuspinnen. Vielleicht war es überhaupt schon zuviel für den alten Mann gewesen, was ihm durch die Unterredung mit Frankenstein mit einem Male klar geworden war und nun auch noch lang und breit durchdacht werden sollte. Drei, vier Wochen lang, bis es aufgenommen ist von dem Gewissen . . . 154

»Also . . . dann gute Nacht, Vater.«

Sie schloß die Tür, ging bis zum Ende des Korridors und horchte an dem Zimmer der Mutter, dessen Tür nur angelehnt war. Sie hörte die regelmäßigen, aber noch ein wenig röchelnden Atemzüge und nahm dann die paar Stufen der Treppe zu ihrer kleinen Stube. Das breite Fenster, das offen stand, ging auf den Hof hinaus. Die Äste von einem Ahorn reichten bis fast in das Zimmer herein. Sie schmeckte den frischen, würzigen Geruch des Laubes. Den Lichtschein, der aus dem Kontor des Vaters in die Dunkelheit des Hofes hinausstieß, sah sie als ein phosphoreszierendes Quadrat auf der teerschwarzen Mauer des Anbaus.

Sie knipste die blaubeschirmte kleine Nachttischlampe an und zog sich aus. Es lag nicht in ihrer Absicht, den nackten Körper zu spiegeln. Ein zufälliger Blick nur traf das Glas. Sie trat jetzt näher heran, reckte sich und bog den Körper seitwärts hin und her. Sie nahm die kleinen festen Brüste in ihre zu Schalen gebogenen Hände hinein: blasse, runde Äpfelchen; sie wogen nicht viel. Dann betrachtete sie kritisch ihr Gesicht: ein zu scharf herausgestoßenes Kinn, sehr schmale Lippen, eine gerade, aber nichtssagende Nase zwischen den heraustretenden Backenknochen. Kalte, graugrüne Augen und dazu das kurzgeschnittene braune Haar. Ein unerotisches Mädchengesicht. Ein intelligenter Jünglingskopf. Und es lag schließlich ja auch noch nichts hinter ihr. Nur die erste und gleich heftige Umarmung. Zufall waren die zweite und die dritte. Das große Wissen um das Wilde und Schöne lag den Augen, die sich im Spiegel prüften, noch sehr fern.

Einen Moment dachte Liesa jetzt an Franz Lück. Und sie überlegte, ob sie ihn gernhaben könnte, wenn es einmal dazu käme, daß er sich ausspräche. Bis jetzt sind es immer nur die Augen allein gewesen, die sich bemerkbar gemacht hatten mit einem Ausdruck, der mehr aussagen wollte als nur die Betonung des Freundschaftlichen im gemeinsamen illegalen Tun. Und es waren auch noch nicht einmal vier Wochen, daß sie Franz Lück kennenlernte – einen jungen Menschen aus ganz anderen Lebenskreisen. Einen Proletarier. Einen glühenden Menschen. Ein revolutionäres Temperament. Und im Privaten einen schüchternen Knaben . . .

Liesa dachte darüber nach, als sie noch immer vor dem Spiegel stand. Und sie kam zu der Erkenntnis, daß dieser Mensch, der da vor ihr stand in seiner kühlen, glatten Nacktheit, auf der Haut ein wenig Flaum wie Morgenröte, der in den feurigen Busch unter dem Nabel überging, wohl nicht wertvoll genug war für solch einen Mann wie Franz, um sein ganzes Leben mit ihm zu verbinden. 155

Sie hauchte scharf in das Glas hinein und sagte mit lächelnder Ironie: »Verduften Sie, mein Fräulein! Und zwar so schnell wie nur möglich. Es ist ein häßlicher Reim, der an Ihren Lippen klebt: ›Spieglein . . . Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?‹«

Und schon drehte sie sich herum, schlüpfte in den Schlafanzug und streckte sich, die Arme unter dem Kopf. Sie ließ das Licht brennen, denn sie hatte vorgehabt, ein paar Seiten in dem Buch zu lesen, das ihr Frau Anni Grätz mitgegeben hatte: »Warum versagten die Marxisten?« Geschrieben von einem Emigranten. Ein verbotenes Buch. Wahrscheinlich stand Zuchthaus darauf, wenn man es bei ihr finden würde. Und sie zog die Brauen hoch, als sie mit dem Lesen anfing. Die Zeilen verschwammen vor ihren Augen. Die Buchstaben kribbelten wie Ameisen herum. Die Augen hatten sich an das schwache, blauscheinende Licht noch nicht gewöhnt. Sie ließ das Buch sinken und horchte in die laue Stille hinaus, die von den Blättern des Baumes heruntertropfte. Manchmal fiel ein ganz großer und schwerer Tropfen und brachte den regelmäßigen Schritt ihres Herzens in ein Stolpern. Und in dieser sekundenkurzen Erregung formten die Lippen ein Wort. Und das Wort hieß Franz. Und der Gedanke an dieses Wort setzte noch hinzu: du . . .!

Mit einem Male schreckte sie auf und hörte deutlich die Korridortür gehen. Das war also jetzt endlich der Herr Bruder August. Sie sah nach der Uhr: ein Viertel nach eins. So lange hatte der Bengel den alten Herrn warten lassen. Und nun wollte sie wach bleiben und hören, wie lange wohl diese Aussprache dauern würde.

Als August die Kontortür hinter sich geschlossen und dem Vater so ganz nebenbei den Gruß hingemurmelt hatte, als würde das Guten-Abend-Sagen einen körperlichen Schmerz bereiten im Gegensatz zu der Fanfare »Heil Hitler!«, brannte sich der Alte eine frische Zigarre an und drehte sich auf dem Bock herum, so daß er das Licht im Rücken hatte.

August schob sich einen Stuhl heran, legte die Sturmkappe mit dem heruntergelassenen Riemen auf die zugeklappte Schreibmaschine, behielt aber das Koppel mit dem Schulterriemen an und fuhr sich über das militärisch geschnittene Haar.

Der Vater hatte noch kein Wort gesprochen. Er hielt aber das Gesicht des Sohnes fest mit seinen Augen. Und er wartete darauf, ob der Junge fragen würde, wie es der Mutter ginge. Denn seit vierzehn Tagen hatte er das Haus nicht mehr betreten. Die Kaserne hielt ihn Tag und Nacht fest und verpflegte ihn auch, als sei er schon regelrechter Soldat, der seine Zeit abdienen müsse. 156

Schließlich fing August an: »Ja . . . Vater, es handelt sich darum, daß du die Flugblätter nicht gedruckt hast. Man knüpft bei uns allerlei Vermutungen daran. Und für mich ist es nicht angenehm, zu hören, daß ich nicht einmal Einfluß im eigenen Hause habe.«

»Einstweilen ist das Haus noch mein Eigentum, August, ich wüßte nicht, wann ich es auf deinen Namen überschrieben haben soll.«

»Den Besitztitel im Grundbuch meinte ich ja gar nicht. Ich habe mich vielleicht falsch ausgedrückt. Ich meinte die Familie, die ganze Umgebung und Atmosphäre hier.«

»Auch jetzt hast du dich wahrscheinlich falsch ausgedrückt. Oder beanspruchst du auf Grund der Uniform, die du jetzt trägst, Oberhaupt der Familie . . . oder, zeitgemäß ausgedrückt: Führer der Familie Schimmel zu sein?«

»Wenn du mich jetzt schon nicht verstehen willst . . .«

»Laß dich ruhig weiter aus.«

»Dann sage mir bitte, weshalb du die Flugblätter nicht gedruckt hast.«

»Ich besitze keine Renten, um davon leben zu können. Ich muß arbeiten und verdienen. Und an dem Auftrag, den du mir brachtest, hätte ich nicht einen Pfennig verdient. Das habe ich deinen Kameraden, als sie das Manuskript wieder abholten, klar und deutlich erklärt.«

»Es gibt Lieferanten für uns, die setzen gern doppelt und dreifach zu, um zunächst einmal in das Geschäft hineinzukommen.«

»Daß du mir das sagst, nachdem du als Volkswirt Einblicke bekommen hast in den Wirtschaftsbetrieb, theoretisch wenigstens, wundert mich.«

»Höher als alle Berechnungen aus Soll und Haben steht die Pflicht, der Dienst am Vaterland. Das wirst du jetzt wohl einbeziehen müssen in alle Kalkulationen, auch in nichtgeschäftliche.«

»Es ist mir bisher noch niemand gegenübergetreten, der da glaubte, er müsse mich an Pflichtschuldigkeiten dem Vaterland gegenüber erinnern.«

»Wenn du unter Vaterland das bisherige verstehst . . . vielleicht hast du dem gegenüber deine Pflicht getan. Das glaubten auch die Marxisten und Juden. Wir leben aber nicht mehr im Bisherigen. Es liegt alles erst vor uns. Und damit es deutlich und sichtbar wird, auch den Unmündigen, und denen, die noch zweifeln, müssen wir dienen.«

»Du . . .? Selbstverständlich.«

»Wäre der leiseste Zweifel in mir, ich trüge dieses Hemd nicht. Und ginge es nicht um die große Sache des Vaterlandes: ich säße jetzt vielleicht über meinen Büchern und würde warten, bis mir eine genehme 157 Anstellung mit Altersversorgung und Kegelvereinspräsidentschaft ins Haus geflogen käme. Ich habe drei Jahre so gewartet. Und tagtäglich neue und immer wieder andere Worte gehört, die mir das lange Warten erklärlich machen wollten und von Staats wegen wohl auch sollten. Und auf das fernere Warten vorbereiten. Deutschnationale Worte. Demokratische Worte. Marxistischer Unsinn, Bolschewistische Zersetzung. Jedes Wort beanspruchte für sich, die lauterste Wahrheit zu sein: Seht, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Und wir, die wir auf diese Wahrheit hörten, waren dabei die Geprellten. Deutschland rollte dem Abgrund zu. Und es wäre auch hinuntergestürzt, hätte Gott den Mann nicht erleuchtet, der sich mit weitausgebreiteten Armen dem Unheil entgegenwarf. Diesem Mann diene ich. Er hat mir kein Himmelreich auf Erden versprochen. Er hat aber meine Augen hell gemacht und meinen Willen stark für Deutschland. Weit hinter mir liegt jetzt das Fratzenhafte, das vorgab, Deutschland zu sein, aber das Chaos wollte. Den großen Sumpf, aus dem alle ihre Vorteile schöpfen wollten, den goldnen Dreck. Und mit diesem Dreck fett werden. Luxusvillen in Dahlem. Mercedeswagen zum Aussuchen wie Krawatten. Und für alle Fälle Grundstücke in Skandinavien und am Ligurischen Meer. Konten auf den Banken von London und Amsterdam. Alle diese Barmats, ob sie nun Cohn, Wolff, Aufhäuser, Cassirer, Simon oder Sinsheimer hießen. Alle diese einstigen Bandabmesser, Roßtäuscher und Getreidespekulanten, Börsenjobber und Meinungsmacher.«

»Zu diesen Dreckschöpfern, die du hier charakterisiert und namentlich aufgezählt hast, zählst du wahrscheinlich jetzt auch mich?«

»Ich zähle dich zu denen, die den Kopf in den Sand stecken. In das mit bunter Wolle von Mutter gestickte Ruhesanft-Plätzchen auf dem Sofa. In das Schneckenhaus: Bittschön, tut ihr mir nichts, ich tue euch auch nix. Amen! In die Erinnerungen an Bismarck. In die große Schwemme aller einstigen Patrioten von Stein bis Hindenburg.«

»Das sagte ich dir bereits früher schon einmal: Bismarck, der hätte den Krieg nicht verloren, weder durch Hunger der Soldaten noch durch den Mangel an Munition. Der hätte den Kaiser nicht nach Holland reisen lassen und nach einem Waffenstillstand geschrien und dann wieder weiterkämpfen wollen. Der wäre auch nicht vor den Sozialisten, die es euch so schrecklich angetan haben, in das Mauseloch gekrochen. Der hätte, wäre es notwendig gewesen, durchgegriffen; aber nach Gesetz und Recht.«

»Dieser Bismarck ist eine mythische Figur. Ein Götze für alle 158 bequemgewordenen Stammtischler. Hitler aber ist der Gott der Deutschen. Der Strafgott und der gerechte Gott. Und wenn ich Gott sage und deine Haare sich darüber sträuben . . . dann denke ich nicht an den jüdisch-biblischen Begriff. Sondern an das Schöpferische im Menschen.«

»Vorerst sind nur die Strafen dieses Schöpfers zu sehen . . . die sieben Plagen . . .«

»Die staatsnotwendigen und damit gerechten.«

»Mit dieser Weisheit geht heute schon jeder Klippschüler hausieren. Zu diesen gerechten Strafen rechnest du wahrscheinlich auch den Tod, an Menschen vollzogen ohne Gericht und Urteil, die im Privaten manchem unbequem sind. – Es gab eine Zeit in Deutschland, da ließ ein Kaiser nicht einmal Verbrecher hinrichten. Und diese Zeit war nicht die schlechteste in Deutschland. Ihr aber . . .«

»In dem Vorhandensein von Kreaturen, die Ruhe und Ordnung unterwühlen, liegt zugleich auch schon Gericht und Urteil. Die Ausrottung ist der Vollzug. Und die Härte des Vollzuges hat die Tendenz, abzuschrecken.«

»Und das Vollziehen mit Härte ist unter anderem auch Dienst?«

»Ein Dienst, den ich sehr ernst nehme.«

»Das Foltern, Quälen und Totschlagen?«

»Das Ausrotten!«

»Ganz kalt und ohne daß die Scham das Gesicht dir schwarz färbt, gibst du zu, daß Blut an deinen Händen klebt?«

»Du bist im Weltkrieg gewesen, zwar nicht an den Fronten. Du hast nach deinen privaten Begriffen das Glück gehabt, in der Etappe den Landsturmrock zu tragen, gut zu essen und in weichen und warmen Betten zu liegen. Du hast sogar Kinder der Feinde auf den Knien reiten lassen und mit den Müttern nicht in deiner, sondern in der Sprache des Feindes dich unterhalten. Und darauf warst du auch noch stolz und hast uns deine Erlebnisse erzählt wie die Pastoren den Konfirmanden eine Viehhändlergeschichte aus der Bibel. – Es sitzen an deinem Stammtisch aber Kameraden, die mit Bajonett und Handgranaten vorgegangen sind. Hast du jemals diesen Kameraden das Blut vorgeworfen, das an ihren Händen klebt? Sie hätten dich wahrscheinlich gleich aus dem Fenster hinaus auf die Straße befördert, würdest du dich so geäußert haben wie eben zu mir. Und weil sie es nicht taten, dich vielleicht noch ansahen wie einen Apostel . . . darin liegt die Schuld dieser sogenannten alten Frontsoldaten und Väter. Die Schuld an Deutschlands Schmach in diesen vierzehn Jahren.« 159

»Ich will dir jetzt sagen – denn es ist nunmehr soweit –, weshalb ich den Auftrag, 15 Millionen Flugblätter zu drucken, abgelehnt habe. Der Ton, den du mir gegenüber anschlägst . . . der gleicht um ein Haar den unflätigen Sätzen, der unmoralischen Gesinnung dieser Flugblätter. Diesen Sätzen, von denen ich einen für ewig behalten werde: ›Die Pazifisten und Völkerversöhnler haben in den deutschen Landen keinen Platz. Sie sind schlimmer als die Cholera, die Lungenpest, die Syphilis, schlimmer als die brennenden Horden der Kalmücken . . . Wo und wann ihr einen von diesen Verbrechern trefft, schlagt ihn tot. Nehmt Steine, nehmt Zaunlatten. Eine Kugel wäre zu schade für diese Lumpen!‹ Ich habe in dem damals besetzten Ostpreußen Maueranschläge der Kosaken vor Augen gehabt. Diese Sprache war nicht darin. Die scheint nur euch vorbehalten. Ich weigere mich, für die Verbreitung solcher Aufforderungen zum Mord meine Hand herzugeben. Hast du mich jetzt verstanden?«

»Es war mir bereits klar, als ich davon hörte, daß du das Geschäft abgelehnt hast.«

»Und jetzt bringst du mir wahrscheinlich, damit ich mich endlich an den Ton gewöhne, im gleichen Ton einen neuen Auftrag?«

»Jawohl . . . einen neuen Auftrag. Aber keinen für die Druckerei. Das dürfte nicht mehr wiederkommen. Ich bringe einen anderen und sehr bestimmten Auftrag.«

»Und für welchen Geschäftszweig meiner Unternehmungen? Ich muß nämlich annehmen, du vermutest hier einen Konzern von Betrieben . . . seit der Wiedergeburt der deutschen Nation in Potsdam.«

»Für Späße ist diese Stunde und die ganze Situation zu ernst.«

»So ernst, mein Sohn, daß ich von dem Blut nicht mehr loskomme, das an deinen Händen klebt. Und es würde mich jetzt auch nicht mehr so fürchterlich erschrecken, wie ich es mir zuerst in meinen Gedanken vorgestellt hatte, daß zu diesem Blut auch noch das des Doktor Joachim gehört.«

»Das müßtest du eigentlich schon von Liesa erfahren haben, die dem Juden behilflich war, sich als Staatsfeind zu etablieren. Ich habe noch nie einen Menschen vor mir gesehen, der so feige sich auf dem Erdboden herumwälzte und uns die Stiefel leckte, als die Abreibung fällig war.«

»Die Abreibung . . . fällig . . . Ich war bislang gewohnt, diese und ähnliche Ausdrücke nur von betrunkenen Müllkutschern zu hören.«

»Die Sprache des Volkes, allerdings. Wir sind Volk. Wir sind stolz darauf, daß wir dieses Volk werden durften!« 160

»Ich habe mit diesem so gewordenen Volk nichts zu tun. Und ich bitte dich, hier wenigstens, dich so zu benehmen, wie es unter gesitteten Menschen bisher üblich war. Ich habe dich nicht dafür studieren lassen, um jetzt das Vergnügen zu haben, dich hier als rüden Burschen kennenzulernen.«

»Du hast nichts zu tun mit dem Volk, gewiß nicht. Es könnte sonst wohl auch nicht geschehen, daß hier Juden immer noch ein und aus gehen und die Luft verpesten.«

»Wenn du den Doktor Frankenstein mit diesem Juden treffen willst . . .«

»Den gerade meine ich.«

»Was hat er dir getan? Wir wollen mal ganz sachlich an dieses Thema gehen.«

»Was er mir getan hat, das hat er auch dir angetan.«

»Nämlich?«

»Frankenstein hat einen Sohn. Wahrscheinlich kennst du auch dieses krumme Gestell. Er ist drei Jahre jünger als ich. Er hat vier Jahre später als ich promoviert. Ich habe bis heute, also genau sechs Jahre, auf eine Anstellung warten, dir auf der Tasche liegen und meine besten Jahre mit Nichtstun verplempern müssen. Der Sohn von dem Juden Frankenstein aber hat keine sechs Wochen warten brauchen, um als Magistratsassessor mit einem Monatsgehalt von vierhundert Mark angestellt zu werden.«

»Vielleicht hat er mehr Glück gehabt. Vielleicht ist er noch rühriger gewesen als du. Ich weiß nicht.«

»Ich weiß es aber. Der Stadtverordnete, der ihm diesen Posten verschaffte, ist Jude und Marxist. Ich habe bei dem gleichen Stadtrat, dem der Jude Frankenstein empfohlen wurde von einem Marxisten – und dieser Stadtrat hatte das Personaldezernat – von 1926 bis 1932, insgesamt zehnmal, Anstellungsgesuche eingereicht. Ich hatte Empfehlungen von Professor Sombart. Ich hatte Empfehlungen vom Reichstagsabgeordneten Oberfohren. Ich hatte Empfehlungen von unserem Bezirksbürgermeister. Der Jude bekam die Stellung. Der Jude durfte die Insassen der Büros mit der bolschewistischen Pest zersetzen. Die Zeche hast du bezahlen müssen, die eigentlich von dem alten Juden Frankenstein hätte beglichen werden müssen. Nein, der bekam durch die Schiebungen des Sohnes noch eine amtsärztliche Nebenbeschäftigung hinzu bei der Stadt.

An diesem speziellen Fall, der dir, weil er ganz nahe liegt, eingehen sollte, habe ich dir gezeigt, daß Deutschland nicht uns, den 161 rechtmäßigen Söhnen, gehört hat, sondern dem Unrat der Juden. Von hier aus erschließt sich das ganze Problem. Und wenn du noch einen Funken von Gerechtigkeitsgefühl im Leibe hast, wirst du auch Verständnis dafür aufbringen, daß wir jetzt abreiben müssen. Mit einem Gut-Zureden wird man die Hebräer nicht veranlassen können, das Land unserer Väter zu verlassen und sich gefälligst zurückzubegeben nach dem Land ihrer Väter. Dieses Zeug klebt fest wie Schmarotzer an einem Baum, die man nur mit Gewaltanwendung abreißen kann von dem Gesunden.«

»Ihr seid also Totschläger und zugleich auch Ärzte?«

»Bitte, hör weiter. Ich frage dich nämlich jetzt im Namen der Partei: Willst du es mir hier auf Ehrenwort in die Hand versprechen, daß der Jude Frankenstein ad eins dieses Haus nicht mehr betritt und ad zwei eine deutsche Frau nicht mehr berührt mit dem hebräischen Schmutz, der an seinen Händen klebt?«

»Die deutsche Frau, die von fünf anderen Ärzten, die keine Juden sind und nach halben oder ganzen Hebräern auch nicht stinken, bereits aufgegeben war, befindet sich auf dem Wege der Besserung durch die Behandlung des Juden Frankenstein. Käme der Jude Frankenstein nicht mehr ins Haus, dann würdest du mit Sicherheit in drei, vier Wochen hinter dem Sarg dieser Frau gehen. Dieser deutschen Frau, die deine Mutter ist, die dich gesäugt und deine Schmutzwindeln gewaschen hat.«

»Es gibt in Berlin zehntausend Ärzte, die reine Hände haben.«

»Für deine Mutter gibt es jetzt nur noch den Doktor Frankenstein. Und für mich nicht minder, denn ich bin für das Leben deiner Mutter vor Gott und meinem Gewissen verantwortlich.«

»Das heißt also: Du willst nicht?«

»Nein . . . es geht um das Leben deiner Mutter!«

»Es geht um Deutschland!«

»Auch dieser Jude Frankenstein ist Deutschland, denn er hat im Krieg für dieses Deutschland geblutet.«

»Der Jude ist nie Deutschland gewesen. Der Jude ist der Wurm, der am menschlichen Organismus nagt. Der Jude ist der Urheber und der Nutznießer unserer nationalen Versklavung. Er hat die Moral verseucht, die Lebensweise verflacht und unsere Existenz bis an den Rand des Abgrunds vernichtet. Wer trotzdem zu dieser Pest sich hält, der komme darin um!«

Er erhob sich, quetschte die Kappe auf, schnallte den Sturmriemen fest und stellte sich breitbeinig vor dem Vater hin: »Morgen früh, Punkt neun Uhr, wenn Karl und ich die Sachen gepackt und das Zimmer 162 oben geräumt haben, steht dieses Haus nicht mehr unter unserem Schutz wie bislang.« Er schlug die Hacken zusammen, machte eine exakte Kehrtwendung und verließ das Kontor.

Der Vater sah ihm nach und beharrte zehn Minuten lang in dieser Starre, den Blick fest auf die Tür gerichtet, als sähe er einen finsteren Gang hinunter. Und dort, wo das Licht von außen schon hereinbrach, einen Galgen. Und an dem Galgen diesen Sohn. 163

 


 << zurück weiter >>