Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XVII   Die Zille Anne-Marie

Hillmann war jetzt sicher, daß niemand mehr ihm folgte. Er schlug trotzdem noch einen Haken bis zum Gleisdreieck. Dann ging er die Potsdamer Straße bis zur Ecke Eichhornstraße hinauf, blieb vor dem Schaufenster eines Juweliers stehen, betrachtete die ausgestellten Schmuckstücke und kontrollierte in der Spiegelscheibe mit sekundenlangem Aufblicken die Gesichter der Passanten, die auf dem Trottoir hinter ihm vorüberstrichen. Alle hatten sie es eilig, die Vorortzüge zu erreichen. Sie wollten die Stadt endlich hinter sich haben. Sie glaubten sich in ihren Behausungen, am Rand der Seen, umgeben von hohen Kiefernforsten, bedeutend sicherer. Die meisten von diesen bürgerlichen Leuten – Beamte bei den verschiedensten Behörden, Bankangestellte und Handelsagenten – waren nicht unbedingt gegen Hitler, enthusiasmiert aber auch nicht für ihn. Sie machten mit, um ihre Existenz zu erhalten. Die Partei der Deutschnationalen, die es offiziell zwar nicht mehr gab, lag ihnen näher. Von deren Wiedererwachen hofften sie, daß man den »braunen Hexer« bald auf ein totes Gleis abschieben würde, wenn er als Paradepuppe und Ölgötze bei den Massen nicht mehr zog und die ihm zugedachte Mission erfüllt hatte. Sie wollten endlich wieder ihre Ruhe haben und die Gewähr, daß der reale Wert der Gehälter sich nicht noch weiter verminderte. Sie sangen das »Deutschlandlied« mit voller Bruststimme und herausgequollenen Augen. Wenn aber die von dem verkrachten Studenten Horst Wessel zusammengestohlene »Zuhälterhymne« ertönte, bewegten sie nur die Lippen und murmelten einen anderen Text. Vielen lag der Klang von »Heil dir im Siegerkranz« noch in den Ohren. Es waren meist die Leute von Lichterfelde, Zehlendorf und Schlachtensee. Noch nicht Villenbesitzer, aber in ihren Vier- und Sechszimmerwohnungen oder Einzelhäusern von allen Bequemlichkeiten des bürgerlichen Daseins umfriedet. Es wäre damit aus gewesen, so glaubten sie, hätte es anstatt Hitler den Bolschewismus gegeben. Sie hielten den 203 braunen Schwadroneur für das kleinere Übel, für einen kleinen, seinen Auftraggebern hörigen Mann.

Hillmann kannte den Horizont dieser Leute genau. Er sah die Gesichter vor sich, und alle trugen sie eine graue, undurchsichtige Maske. Die drückte nichts anderes aus als eine absolute Stumpfheit allen bewegten und unbewegten Dingen gegenüber.

Hillmann hatte noch zehn Minuten Zeit. Er überlegte, ob er durch den Tunnel der Wannseebahn bis zur Köthener Straße gehen solle oder hier gleich die Linkstraße hinunter und dann über die Brücke. Von der Brücke waren es kaum noch hundert Schritt bis zur Zille.

Ach was, sagte er sich, wozu jetzt noch den Umweg. Ich habe mein Möglichstes getan. Von der Wiener Straße bis hierher habe ich genau drei Stunden gebraucht. Man muß haushalten mit seinen Kräften. Ich werde jetzt langsamer gehen und in Ruhe mal erst eine Zigarette rauchen. Ob man es nachher unten im Kahn darf, das ist noch nicht heraus. Der Harnisch denkt über die Sicherheit heute so und morgen ganz anders. Ich bin überhaupt gespannt, wie lange wir noch mit diesem Quartier rechnen dürfen. Die Laube in Mahlow, die man für todsicher gehalten hat, war eine ganz erbärmliche Niete.

In der Palm-Filiale, an der nächsten Ecke, holte er sich eine Schachtel »Muratti«, brannte eine Zigarette gleich an und verstaute die übrigen in der oberen Westentasche. Am Telefon stand eine Frau mit hochrotem Kopf und bemühte sich, die Worte, die sie hastig in das Mikrophon warf, zu kaschieren. Sie sprach von einem unerwarteten Besuch, den Adolf bekommen habe, vier Leute mit einem Mal. Man müsse sich darauf gefaßt machen, daß sie die halbe Nacht bleiben würden. Und es läge für Adolf doch gar kein Grund vor, mit diesen Leuten eventuell auch noch nach außerhalb zu gehen. Der Angerufene, wahrscheinlich ein Anwalt, möchte doch sofort kommen und Adolf Gesellschaft leisten.

Der Verkäufer sah Hillmann an, kniff das linke Auge zu und flüsterte: »Das geht nun schon seit sechs Monaten so. Fast immer sind es Frauen, und alle glauben, hier wären sie sicher vor dem Abhören.«

Hillmann wartete, bis die Frau den Laden verlassen hatte, und sagte dann: »Wenn die Leute nur ein halbes Jahr früher sich das vorgestellt hätten, was sie jetzt erleben . . . und sie hatten allen Anlaß, sich das so vorzustellen . . . dann wären heute diese Ängste nicht.«

»Das hat sich niemand so vorstellen können, mein Herr! Wir hatten doch eine Verfassung und einen Präsidenten, der ihre Unverletzbarkeit garantierte, durch seinen Eid auf die Verfassung.« 204

»Was ein Eid aber diesem Herrn Präsidenten bedeutet . . . darüber hätte man sich doch im klaren sein müssen.«

»Ja . . . es scheint heutzutage wirklich keine festen Werte mehr zu geben . . .«

Hillmann verzog nur ein wenig die Lippen – es sollte ein verstehendes Lächeln sein – und verließ den Laden. Als er die Brücke vor sich sah, vergewisserte er sich noch einmal, ob er nicht etwas Verfängliches bei sich hatte. Er sah nach: ein paar Schlüssel, die zu keiner ihm bekannten Tür paßten, ein Notizbuch mit Telefonnummern von Geschäften und Behörden und Eintragungen von Kernsprüchen aus dem »Angriff«, eine billige Nickeluhr und einen Bleistift. Namen und Adressen, auf die es ankam, hatte er im Kopf. Es war ein knappes Dutzend. Und Otto Harnisch wird sie auch nicht anderswo aufbewahren dürfen als in einem abgelegenen Winkel des Gehirns, wo sie unter Umständen sogar noch vor den blutigen Fragen der Stahlruten und Gummiknüppel in der SA-Kaserne sicher waren.

Der Regen machte den Asphalt glitschig. Die Autos schleuderten. Die Lichtkugeln schwammen in der frostigen Feuchte ohne Beziehung zu den Häusern herum. Hier unten war die Straße menschenleer. Aus einem Bügelkeller stieg ein warmer Schwaden hoch. Und mit dem Geruch von geplätteter Wäsche kamen gurgelnde Geräusche aus dem Radio. Der kleine Kasten stand auf einem Ecktisch gleich neben dem offenen Fenster. Dem Gesicht der Frau, die mit weitausholenden Armbewegungen ein großes Leinenstück bearbeitete, war anzumerken, daß sie lieber Musik gehört hätte. Jetzt aber den Apparat abzustellen, nachdem er ununterbrochen seit vier Uhr nachmittags gelaufen war, das schien sie nicht riskieren zu wollen. Es gab genug Leute in den Nachbarwohnungen, die ein Ärgernis daran nehmen würden, ließe man die Stimme in den Kasten zurückschnellen. Die Stimme strengte sich gewaltig an. Sie säuselte und schmetterte. Dem rheinischen Dialekt nach konnte es nur das Maulwerk von Goebbels sein, die »Vizetrommel«, die wieder einmal mit einem wilden Wirbel das »Gewissen der Welt« beschwor: ». . . an das herrliche Phänomen der deutschen Revolution endlich zu glauben. Es geschehen wirklich Zeichen und Wunder in Deutschland. Jeder Mann hat jetzt seinen Arbeitsplatz und den verdienten Lohn für seine Anstrengungen. Kein Arbeiter mehr kapitalistischer Lohnsklave, sondern ehrenwerter Gefolgsmann. Kein Unternehmer mehr Leuteschinder, sondern Arbeitskamerad. Dieses unter dem alten Germanenbanner endlich geeinte Volk hat sich geschlossen für unseren Führer Adolf Hitler, den unbekannten Soldaten des Weltkriegs, erklärt . . .« 205

Hillmann, der neben dem Pfosten eines Baugerüstes gestanden hatte, warf die erst halbaufgerauchte Zigarette wütend in eine Wasserpfütze. Das kurze Aufzischen schien ihm die beste Antwort auf den Qualm, der aus dem Lautsprecher hochstieg. Und er verstärkte dieses Mißfallensgeräusch auch noch mit den Lippen und schob sich weiter.

Von der Brücke herunter sah er auf das schwarze Wasser. Der Kanal machte hier eine Biegung. Die Umrisse der Zille waren noch nicht wahrzunehmen. Es rührte sich keine Welle. Es fiel kein Lichtschein herunter. Baum und Strauchwerk schienen mit dem Mauerwerk verwachsen. Die Häuser der Uferstraße hier hatten kaum Privatwohnungen. Büros und Agenturgeschäfte dominierten. An den schmiedeeisernen Gitterstäben der Vorgärten hingen die runden weißen Schilder der Wach- und Schließgesellschaft. Die Wachmänner, durchweg Kriegsinvaliden, gehörten dem Stahlhelm an. Schlecht bezahlte, ewig müde und mürrische Leute, die Nacht für Nacht ihre Naht dahintrotteten. Mit breitgesetzten Beinen und schaukelnden Schritten, wie pflastermüde Droschkengäule. Es waren ungefährliche Beobachter der Aktionen der Illegalen. Oft schon waren sie über Dinge gestolpert, deren Signalisierung an die Geheimpolizei ihnen eine Belohnung eingebracht hätte.

An der Ecke mit den zwei großen Schaufenstern brannten noch die weißen Kugeln der Außenbeleuchtung eines Papierwarengeschäftes. Die Lehrlinge ließen jetzt die eisernen Rolläden herunter. Ein Taxi, mit Gepäck beladen, hatte es eilig zum Anhalter Bahnhof. Hillmann dachte nach: Ja, richtig, um sieben Uhr vierzig geht ein D-Zug nach Prag-Wien-Triest. Und er überlegte weiter: wahrscheinlich wieder jemand, der, mit dem zum Leben Notwendigen versehen, sich nach der Tschechoslowakei zu retten versucht. Gerettet aber wird er erst sein, wenn der Zug in Prag einläuft. Vorige Woche erst hat die Gestapo in Dresden die Frau von dem abgesetzten demokratischen Stadtrat Moses geschnappt und sie aus dem Abteil heraus direkt in das Polizeigefängnis befördert. Zwanzigtausend Mark Bargeld sollen der Frau auf der bloßen Haut geklebt haben. Dafür haben sie ihr die Haut mit einem eisernen Pferdestriegel abgeschunden und mit einer Salzsäurelauge bespritzt. Ihr Mann hockt schon seit Monaten in Spandau, bald wird er reif für Oranienburg sein, wird auf allen Vieren kriechen und Wau . . . Wau bellen müssen.

Hillmann sah jetzt die rote Laterne der Zille. Otto Harnisch mußte das Ding so brennen lassen: Vorschrift der Wasserpolizei. Er sah auch das Schild an dem Geländer: »Jeden Dienstag und Freitag blutfrische Hechte und Karpfen.« Es roch faul und fischig von unten herauf. Heute 206 war Verkaufstag gewesen. Ein harmloser Kahn, diese Fischhandlung an der Potsdamer Brücke. Seit vier Jahren schon lag die Zille hier fest. Niemand mehr von den Passanten beachtete sie. Der weiße Namenszug ANNE-MARIE war grau und verblichen. Man hätte ihn auch im hellsten Mondlicht kaum noch entziffern können. Nur am Tage, wenn die Sonne darauf schien, las man dieses ANNE-MARIE.

Alle diese Kähne, die die Gewässer rund um Berlin befuhren, hatten weibliche Namen: Kathrin, Martha, Emilie, Auguste, Elisabeth und Bertha. Vornamen, wie sie in den kleinen märkischen Städten gebräuchlich sind und wo alle diese Schifferfamilien, die Eigentümer der Zillen, ihre Heimat haben.

Martin stand hinter einem Brettervorsprung und wartete, als Hillmann endlich die schmale Steintreppe hinunterstieg und dann über die Laufplanke in den Kahn kam. Martin war der erste gewesen, der sich zur Arbeit eingestellt hatte. Jetzt, nach Hillmann, fehlten nur noch Franz Lück und Etzien. Der Delegierte vom »ZA«, der auch kommen wollte, hatte heute eine wichtige Sache in Spandau wahrzunehmen. Sie war ihm plötzlich dazwischengekommen. Durch Kathleen war Otto Harnisch noch rechtzeitig der Bescheid zugegangen.

»Geh man schon hinunter«, sagte Martin zu Hillmann. »Otto langweilt sich. Und ich muß noch aufpassen, bis die anderen beiden da sind.«

Otto Harnisch hatte sich aus einem Bretterverschlag eine Art von Kontor zurechtgemacht, gleich neben dem »Laden«, wie er den Raum bezeichnete, wo in großen, hölzernen Bottichen die Fische herumschwammen. An einem jeden Montag früh bekam er neue Fracht. Ein Motorboot brachte sie heran. Er war hier auf dem alten ausrangierten Kasten nur der Treuhänder der Fischerinnung von Ferch. Das Geschäft ging leidlich gut; immer noch, obwohl die besten und regelmäßigsten Kunden Juden gewesen waren. Viele Familien mit einem großen Verbrauch an Fischen für den Schabbes. Über Nacht waren sie arm geworden und in alle vier Winde verstreut.

Otto Harnisch saß über Abrechnungen, als Hillmann ihn begrüßte. Er schob sie beiseite und sagte: »Der Dreck hat auch bis morgen Zeit. Ich habe hinten schon alles hergerichtet. Wir werden wieder ganz ungestört sein. Den Jungen habe ich nach Hause geschickt. Es braucht nachher niemand mehr Posten stehen. Ich habe zwei Kontakte an der Tür angebracht. Es klingelt hinten, wenn jemand die Laufplanke betritt und an der Tür rüttelt. – Was gibt's Neues? Der Reichstagsbrandprozeß wirkt für uns fabelhaft. Es weiß jetzt die ganze Welt, wer die Brandstifter sind. 207 Und hier in meinem Laden die Kunden, wenn mal zwei allein unter sich sind, die sagen: So ein Dimitroff, der fehlt uns. Der Mann kann auftreten; anders als diese Brüning, Severing und Scheidemann! Ja, der würde auch wissen, wie man diese braunen Wölfe jagt, daß sie die Zunge aus dem Halse verlieren! – Und dann sehen sie mich verstohlen an, ob ich wohl etwas gehört habe. Und wenn ich ihnen dann einen Wink gebe . . . man kennt diese Leute ja weiß Gott wie lange, dann sind sie glücklich, daß noch ein Dritter da ist, der so denkt wie sie.

Heute früh übrigens haben die Braunen hier auf der Brücke zwei Radfahrer stellen können, aus einem Schwarm von zehn. Das Auto, das sie decken sollte, hat falsch manövriert. Die beiden Jungens konnten nicht mehr rechtzeitig um die Ecke flitzen. Bei sich gehabt hatten sie wohl nichts mehr. Die Flugblätter flogen ins Wasser. Eins ist bei mir am Kahn hängengeblieben. Ich habe es, als es dunkel wurde, heraufgeholt, kennst du es?«

Er reichte Hillmann den Zettel hin; der betrachtete ihn von allen Seiten und sagte: »Ja . . . das Ding ist von uns. Das hat der ›U.B. Hallesches Tor‹ von sich aus herausgebracht. Auch der Trick mit den Radfahrern kommt aus diesem U.B. Ich halte nicht viel davon. Der Einsatz ist mir zu groß für einen so geringen Nutzeffekt.«

»Was heißt heute gering? Ich kann dir nur sagen: die Leute, die bei mir hier unten im Kahn waren, haben alle geschmunzelt über diesen Husarenstreich am hellen Tage, unter den Augen der SA sozusagen. Und ebenso auch haben sie die beiden Jungens bedauert. Die Braunen haben schon oben auf der Brücke auf sie losgehauen. Dann hielten sie ein Taxi an und sausten mit den armen Teufeln, die wie abgestochene Schweine bluteten, davon. – Glaubst du, daß es noch etwas nach sich ziehen wird? Weitere Verhaftungen und Haussuchungen?«

»Ziemlich ausgeschlossen, Otto. Denn die einzelnen von diesem Stoßtrupp kennen sich nur vom Ansehen und dem Vornamen nach. Die Organisationsleitung ist ihnen nicht bekannt. Die holt aus den beiden Hochgegangenen keine Stahlrute und keine Wasserfolter heraus. Geschenkt wird ihnen natürlich nichts. Schade um jeden! Für uns verloren, und jeder verliert auch noch ein Stück vom Leben, wenn nicht das ganze.«

»Ja . . . was soll man machen? Wir können auch nur sagen: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Es bleibt uns wenigstens der Trost, zu denken: Noch vorsichtiger können wir kaum arbeiten. Und schließlich muß doch auch etwas getan werden.«

»Wir haben im Osten in den letzten vierzehn Tagen sehr gute 208 Fortschritte gemacht und gar keine Opfer bringen müssen. Die Rote Fahne hat einen Mehrumsatz von über 800 Exemplaren gebracht. Dabei sind dort zwei U.B.-Zeitungen. Manchmal kommt sogar auch noch der ›Ausweg‹ hin. Die Hauptsache aber ist, wir sind in den Betrieben wieder im Aufstieg. Der betrügerische Erste Mai fängt erst jetzt an zu wirken, nachdem die alten Gewerkschafter endlich wissen, was sie verloren haben.«

»Der Motormann aus Ferch sagte mir, bei ihm draußen würde man wieder ganz offen arbeiten; Verbindungen gehen bis in die SA hinein. Immer bekämen sie von dort rechtzeitig Warnungen, wenn eine Streife von Potsdam unterwegs ist. Von den Bauernjungens hätten viele das braune Hemd bloß nur noch zur Tarnung an.«

»Daß diese kleinen Obst- und Gemüsebauern die ersten sein würden, die vor dem ›Dritten Reich‹ davonlaufen, das war vorauszusehen. Denen kommt es immer nur auf die Realitäten an, auf das, was sie mit beiden Händen fühlen können und festhalten. Und womöglich auch noch auf die hohe Kante legen. Papier, Worte, Versprechungen . . . das hat dort nie gezogen. Immer nur das Sichtbare. Und am meisten das Soldatentheater, die Uniform, die Marschmusik. Früher war es auch noch die Kaisers-Geburtstagsfeier und der Sedanstag, mit Freibier und Sackhüpfen. Von der braunen Uniform versprachen sie sich noch mehr, weil in ihr auch Analphabeten Leutnant, Hauptmann und General werden können. – Nein, Kamerad . . . die Entscheidung liegt nicht bei diesen Bauern. Aber man muß alles mitnehmen, was zu uns kommt.«

»Und was uns nicht schadet, das wollen wir noch hinzusetzen«, lachte Otto Harnisch.

»Ich weiß, bei den Bauern ist es die Dickschädeligkeit, die uns hilft. Der von Gehöft zu Gehöft herumgemaulte Stunk. Und der sogenannte Eigennutz, wenn die Preise nicht anziehen. Wenn die Steuern nicht gesenkt werden. Wenn man von den Feldern die jungen Leute zum Soldatenspielen wegholt. Wenn man anfangen wird, Lieferungsquoten aufzustellen und die Zwangseintreiber erscheinen.«

»Das ist alles schon im Werden, Hillmann. Ich meine: die Zwangswirtschaft. Daher die Ernüchterung und das Herumhorchen nach neuen Parolen. Ja . . . man soll sich auch über einen reuigen Sünder freuen – an der Freude aber nicht blind werden. Ich wenigstens kenne meine Pomuchelsköppe.

Aber nun etwas anderes, Hillmann. Ich wollte sagen: die beiden Genossen müßten doch längst hier sein, es ist bereits eine halbe Stunde nach der verabredeten Zeit. Kann da was passiert sein?«209

»Nach der Uhr kann man heute nicht mehr gehen, Otto. Es sind viele Umwege zu machen. Und mancher Aufpasser muß erst noch abgeschüttelt werden, ehe man freie Bahn vor sich hat. Ich hatte heute bis vier Uhr zwei Spanner hinter mir. Bis nach Treptow haben sie mich verfolgt. Auf dem Bahnhof bin ich aus dem noch fahrenden Zug gesprungen und in einen Gegenzug hinein. In Baumschulenweg bin ich wieder herausgekrochen, fuhr bis nach Grünau und dann zurück zum Görlitzer Bahnhof. Dort hatte ich in einer Kneipe eine gute Ecke erwischt und konnte die Gegend übersehen. Die Luft war endlich rein. – So muß man arbeiten. Überhaupt ein verrückter Tag heute! Die Nerven kribbeln einem bis in den großen Zeh hinunter, und die Gespenster wird man nicht mehr los.«

»Wenn wir nachher nach hinten gehen . . . ich habe das Boot wieder parat, für alle Fälle.«

»Besser, wir brauchen das Ding nicht, denn weit kommt man damit wohl kaum, sollten sie uns hier überraschen.«

»Wenn die verfluchten Spitzbuben kommen, dann nur von hier vorne. An das Wasser denken sie nicht gleich. Und wenn sie daran denken, dann ist so viel Zeit darüber vergangen, daß ihr bis zum Hafenplatz schon sein könnt mit dem Boot.«

»Ja . . . allmählich fängt es jetzt auch an, daß ich mich wundern muß über die Verspätung der Genossen. Etzien ist sonst immer einer von den pünktlichsten Leuten. – Sage mal: sind die Pakete heute abgeholt worden?«

»Es ist nichts liegengeblieben. Es waren aber zwei neue Gesichter unter den Kurieren. Mir war es zuerst ein bißchen warm um den Magen. Solch ein Paket Rote Fahne, wenn das den Geheimen in die Hände fiele . . .«

»Es werden nächstens wieder zwei neue Leute kommen. Wir müssen wechseln. Aber die Kontrollnummern, die ich dir gebe, die sind so eingerichtet, daß die Gegennummer nur eine oder zwei Stunden alt ist. Da kommt kein Spitzel heran. Außerdem ist der Abholer immer von zwei Seiten gedeckt. Wir können nicht mehr anders arbeiten. Es gibt nur diese Taktik und Sicherung, um vor Überraschungen geschützt zu sein. Deshalb muß der Hilfsapparat auch so groß sein.«

»Jetzt kommt jemand die Treppe herunter«, sagte Otto Harnisch und stand auf, legte die Zettel in eine Zigarrenkiste und nahm vom Haken eine Taschenlampe.

Martin brachte Franz Lück. Und als Hillmann das Gesicht des 210 Genossen Lück sah, wußte er sofort, daß den Jungen etwas Ungewöhnliches durchgeschüttelt haben mußte. So leicht war er sonst nicht aus der Fassung zu bringen. Es sah böse mit ihm aus. Und es war auch Martin, der das aussprach, was eigentlich Franz Lück hätte sagen wollen, ihm aber nicht über die Lippen kam: »Etzien kommt nicht. Es ist aus mit Etzien!«

»Aus . . .«, mahlten mechanisch die Lippen von Hillmann. Und halbgeöffnet blieb sein Mund ein paar Sekunden stehen. Der Wille hatte die Gewalt über die Muskeln verloren. Nur der andere Reflex im Gehirn arbeitete: Wieder ein Mensch weniger, bei dem nur die Ideen den Körper bewegt haben. Jetzt wird er in das Grauen hinein aufwachen. Und die Folter wird den Körper bewegen und der Schrei.

Otto Harnisch aber blieb in seiner schweren und immer gleichen Ruhe. Er riegelte die Tür zu, knipste die Taschenlampe an und schraubte die Petroleumlampe, die von der niedrigen Decke herunterhing, kleiner. Und dann sperrte er die verborgene Lattentür auf, und es klaffte ein Loch, das mit einer wackligen Treppe tief in die Zille hinunterführte.

»Nimm mal schon die Lampe, Hillmann, und geh vor. Ich will jetzt die Kontakte einschalten.«

Und während Hillmann die Treppe hinunterstieg und den anderen von unten herauf leuchtete, hantierte Otto Harnisch an der Tür herum. »So . . .«, sagte er nach einer Weile, »vor Überraschungen sind wir jetzt sicher.« Und stieg als letzter hinunter. Hillmann übergab ihm die Lampe. Ein Brett an der Lattenwand wurde beiseite geschoben. Ein schmaler Gang klaffte heraus, schwarz wie der enge Stollen in einem Kohlenschacht. Wieder eine Lattenwand. Und jetzt schob Martin das Brett beiseite. Otto Harnisch kroch zuerst hindurch und hielt die Lampe in den Gang hinaus, bis alle im Raum waren. Dann schob Martin das Brett an die alte Stelle zurück. Es war ein feuchtes, dumpfriechendes Loch, nicht viel größer als eine der üblichen Stuben in den Mietskasernen der alten Stadtviertel.

Otto Harnisch zündete eine Petroleumlampe an, die mit einem Draht provisorisch an der Holzwand befestigt war. Das Licht hellte auf. Fünf, sechs Fässer standen herum, schmale Bretter, ein paar Böcke, eine große und eine kleine Kiste. In der Decke befand sich ein viereckiges Loch, eine Art Klappe nach oben, von einem Holzknebel gehalten. Otto Harnisch kramte aus einem der Fässer noch eine zweite Lampe heraus und hing sie an einen Nagel.

Martin, Franz Lück und Hillmann saßen auf den Fässern und hatten 211 ganz vergessen, wofür sie eigentlich hergekommen waren. Sie dachten, jeder für sich, an Etzien. Und Martin wartete, daß Franz jetzt ausführlicher erzählen möchte. Und Franz wiederum wunderte sich, daß Hillmann nichts fragte.

Schließlich knurrte Otto Harnisch: »Was ist nun eigentlich mit Etzien los? Wie Trauerklöße hier zu sitzen, das hat doch auch keinen Zweck. Außerdem ist jede Minute kostbar. Wir müssen wenigstens mit dem Stanzen anfangen.«

»Mit der Appelkarre ist Franz hochgegangen. Und die Johanna Hampel mit dazu. In der Wexstraße vor der Fabrik.«

»Von wem weißt du das?« fragte Hillmann.

»Von Arthur Menges. Der hat den ganzen Mist mit angesehen von der gegenüberliegenden Kneipe. Er sagte, es wäre alles sehr schnell gegangen. Zuerst wären es vier Geheime gewesen, die sich auf Etzien gestürzt hätten. Und dann kam auch schon das Mannschaftsauto mit den Braunen um die Ecke gefegt. Alles nahmen sie mit; die Karre, Johanna und den Etzien. Und sogar einen Mann, der bloß dagestanden hat und den Kopf geschüttelt über den sonderbaren Aufzug.«

Otto Harnisch hatte aus der kleinen Kiste die beiden Stanzmaschinen herausgeholt, alte, halbverrostete Dinger für Handbetrieb, und montierte sie und stellte sie auf. Die beiden Fässer, als Unterbau der Maschinen, standen auf einer dicken Unterlage aus geflochtenen Schilfdecken, um die Stöße abzufangen.

Er zupfte Franz Lück jetzt am Rockärmel: »Stand denn der Etzien schon lange unter Beobachtung? Dann war es eine große Fahrlässigkeit, daß er so auffällig mit einer Karre herumgezogen ist.«

»Das war ja gerade sein neuer Trick«, warf Hillmann ein. Und er half jetzt die grauen Kartonstreifen auspacken, die immer, zehn zu zehn gebündelt, unter die Stanzen geschoben werden sollten.

»Und wie stolz ist er auf diesen Trick gewesen!« sagte Martin.

»Also eine neue Sache?« fragte Otto Harnisch. »Davon habt ihr mir nie etwas erzählt.«

»Das hat Etzien mir auch erst in der vorigen Woche verraten«, sagte Hillmann. »Und nachdem er mindestens schon zehn Touren hinter sich hatte. Gekommen ist er auf die Idee, als er einmal vor der Waggonfabrik auf den Genossen Bohle wartete und dabei einen Obstwagen beobachtete. Das Geld für die Wagenmiete hat ihm der Schuster gegeben. Und die erste Ladung Bananen hat ihm jener brave Mann aus der Gothenstraße geschenkt, der viel für uns tut, aber nicht genannt 212 werden will. – Und dann hat Etzien sich ausgeknobelt, in das Papier für die Tüten immer ein Flugblatt hineinzudrehen. Außen ›Lokalanzeiger‹ oder sonst ein braunes Papier, und innen das rote. Und dann ist er von Bananen auf Äpfel gekommen. Und die Karre Äpfel hat er jedesmal auch verkauft, denn er wollte ja nichts verdienen. Aber fünf- bis sechshundert Flugblätter sind immer dabei weggegangen. Und jeden Tag hat er den Stand gewechselt. Mal war er im Norden, mal im Osten.«

Otto Harnisch und Martin hatten schon angefangen, die kleinen runden Plättchen auszustanzen. Die Stöße schlugen dumpf nach unten, und der Schall wurde vom Wasser verschluckt. Es drang kein Laut nach außen. Hätten sie diese Arbeit in einem festen Gebäude vollzogen – und sie hätten auch dort nur nachts arbeiten können –, wären die Nachbarn darüber gestolpert. Hier, in der Zille, waren sie sicher.

»Um Etzien ist mir eigentlich nicht bange«, fing Hillmann wieder an. »Aus dem werden sie keinen Ton herauskriegen, und wenn sie ihn zu Staub zermahlen und den Staub auch noch durchsieben. Aber die Johanna Hampel. Die ist noch nicht so ausgekocht wie Kathleen. Es wäre richtiger gewesen, er hätte sich Kathleen mit auf Tour genommen.«

»Er konnte keinen anderen Begleiter nehmen als Johanna Hampel«, sagte Franz Lück. »Es muß doch ein Handelsschein da sein. Etzien konnte sich nicht hintrauen auf die Polizei. Und Kathleen steht auch in den Listen, die in jedem Revier aufliegen. Bei Johanna Hampel aber ging es leicht, weil erstlich der Mann als Verdiener weg war und gegen sie nichts vorlag. Und schließlich wollte Johanna ja auch mitarbeiten; allein schon deshalb, um ihren Mann zu rächen. Sie ist doch kein Irgendwer. Alte Genossin, die bei uns in der Jugendorganisation tätig war und sich für die Sache aufgerieben hat. Sie bekam den Schein ganz anstandslos. Und soweit war es ja auch immer gutgegangen. Bei dem Wagen hat Etzien nur den Helfer markiert. So unauffällig, daß ich oft an ihm vorbeigelaufen bin, ohne ihn zu erkennen.«

»Hat die Johanna viel gewußt?« fragte Otto Harnisch.

»Sie wird aussagen, so scheint es mir sicher, daß sie nicht gewußt hat, wer dieser Etzien ist. Ein Arbeitsloser, den sie ein paar Sechser verdienen lassen wollte«, antwortete Franz Lück.

»Ich meine . . . von unserer Arbeit im allgemeinen?«

»Ja . . . manches wird sie schon gewußt haben. Denn seitdem sie das Haus in der Siedlung Falkenhorst aufgegeben hat und zu uns hierher 213 zog in eine Laube, hat der U.B. oft Versammlungen in der Laube abgehalten«, sagte Hillmann.

»Na . . . das kann ich dir jetzt flüstern: Aus der Frau holen sie alles heraus, was sie wollen.«

»Zu schwarz gesehen, Otto! Über ein paar Leute aus dem U.B. geht es nicht hinaus, was Johanna wissen kann. Von den Zellenleitern hat sie nur wenige dem Namen nach gekannt.«

»Ich sagte vorhin schon: Schade um jeden einzelnen! Das ist ein bißchen viel Pech, was wir heute haben. Erst die Radfahrer und jetzt auch noch dieses Malheur.«

Hillmann und Franz Lück packten die ausgestanzten Plättchen in dünnes Papier und klebten die Rollen oben und unten zu. Mit diesen Rollen war das Material fertig zum Abschießen durch besonders dafür konstruierte Katapulte. Und wenn manchmal morgens die Gehsteige auf dem Alexanderplatz, am Stettiner Bahnhof, am Herrmannsplatz oder am Halleschen Tor voll lagen von den kleinen grauen Plättchen, nicht größer als ein Dreimarkstück und jedesmal anders beschriftet, dann hatte die Zille ANNE-MARIE ihre Schuldigkeit getan. Oft in solchen Nächten wie dieser wurden eine Million Stück herausgestanzt, gerollt und gepackt. Der Urheber dieser Propaganda-Idee war Otto Harnisch. Er hatte auch die Katapulte konstruiert und in Ferch anfertigen lassen. Bei ihm im Kahn lagerte das Flugblattmaterial und die »Rote Fahne« für fünf U.B.-Bezirke. Und es waren auch nur die drei: Hillmann, Franz Lück und Martin, die regelmäßig zweimal in der Woche zu dieser Nachtarbeit kamen. Etzien hatte nicht allzuoft den Kahn betreten, meist kam er nur zu Besprechungen. Heute aber sollte er an der Stanze ausprobiert werden, weil Martin als Kurier nach Dänemark gehen sollte.

»Nein«, wiederholte Otto Harnisch, »daß Etzien sich das Maul aufreißen läßt, glaube ich nicht. Man kennt sich allmählich doch wohl aus, was man einem Menschen zutrauen kann oder nicht.«

»Du!« fuhr Hillmann plötzlich hoch und wandte sich an Martin: »Wenn den Etzien man nicht der Lachmann zur Strecke gebracht hat . . . der Hund ist im Zuchthaus ein halber Hellseher geworden. Mit Etzien hatte er vor Jahren mal eine Zeitlang zusammengearbeitet. Auch der Tumbich, den der Teufel inzwischen geholt hat, war damals in dieser Bude beschäftigt. Doppeltes und dreifaches Pech.«

»Ja . . . dann kann den Etzien wohl auch nur der Lachmann geholt haben. Das wird mit jetzt klar. Ich habe gestern nämlich auch so einen 214 von mir abschütteln müssen. Der strich hinter mir her wie bisher noch keiner von den Geheimen. Ein richtiger dürrer Hund, der auf Blutgeruch dressiert ist. Auf dem Untergrundbahnhof Friedrichstraße bin ich ihn endlich losgeworden.«

Hillmann verschwieg die Jagd, die heute nachmittag ihm gegolten hatte. Lachmann war der Verfolger bestimmt nicht gewesen. Aber vielleicht hatte er die Sache organisiert. Selber wollte er es nicht riskieren, aus Furcht, man würde ihn wiedererkennen.

So dachte Hillmann, und es lag ihm nichts daran, die Kameraden noch mehr zu beunruhigen. Deshalb verschwieg er die Sache. Es war genug, daß Otto Harnisch davon wußte. Ihre Nerven standen schon so genug unter hohen Spannungen. Die Arbeit klappte heute nicht recht. Niemand war ganz bei der Sache. Vielleicht drückte das Unglück mit Etzien tatsächlich so stark. Er hatte ihnen allen sehr nahegestanden. Aber man kommt auch darüber hinweg, bei dieser Jagd auf Leben und Tod um die Befreiung von der braunen Diktatur. Das ist akkurat so, wie es im Graben war, in Flandern und vor Verdun. In der Frühe, da stand man noch nebeneinander, drei, vier Kameraden, und unterhielt sich über das Ende dieses nichtsnutzigen Krieges. Und von zu Hause ein Brief wurde vorgelesen: »Die Kinder sind wohlauf und munter. Der Karl Spiller aber drückt sich hier noch immer herum. Ich nähe jetzt Sandsäcke in Akkord, das macht eine Mark dreißig den Tag. Bloß an Fett fehlt es uns. Die Schulzen läßt auch grüßen, und komm bald wieder mal auf Urlaub, man ist immer so allein. Auch ist man doch noch jung und möchte was haben vom Leben und fürs Herz . . .« Und dann dachte man darüber nach, an die Kinder und an die Leute, die sich zu drücken verstehen. Die Franzosen schossen mit schweren Minen. Und am Abend schon waren die Kameraden, mit denen man sich wieder einmal ausgesprochen hatte, an einem jeglichen Tag immer das gleiche, ein Haufen Knochen und Hautfetzen in den Drahtverhauen. Ich hatt' einen Kameraden!

Dieses Leben jetzt ist eine Art Fortsetzung des Krieges, dachte Hillmann weiter. Wir noch immer im dicksten Dreck vorn an der Front. Und wenn das Trommelfeuer einmal nicht hämmert, das sind dann die Glückstage: die Frau, die Kinder, der Aufblick zur Sonne.

Er nahm eins von den runden grauen Plättchen und las:

»Hitler hat euch Arbeit versprochen, und jetzt habt ihr sie auf dem Exerzierplatz. Hitler hat euch höhere Löhne versprochen, und jetzt werdet ihr mit 33 Pfennigen den Tag gelöhnt. Hitler hat euch die 215 Volksgemeinschaft versprochen . . . jawohl: im Bunker, bei Wasser und Brot! Hitler hat euch alles versprochen und nichts gehalten.« Und dann die andere Seite: »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Und dieser Hitler lügt immer und überall, wo er das Maul aufreißt. Und diesem Maulaufreißer und Erzschwindler wollt ihr glauben? Nieder mit Hitler!«

Er legte das Plättchen wieder zurück. Und Franz Lück, der ihn beobachtet hatte, sagte: »Ja . . . wenn diese Dinger aus Silber wären, vielleicht würden wir den Krieg dann schneller gewinnen – und überhaupt.«

»Wenn wir nur das alles ausführen, was wir vermögen und wozu wir die Mittel haben, dann ist die Frage: silberne Kugeln oder ein Stückchen Pappe das Nebensächlichste. Der Mangel, an dem wir leiden, ist die Masse. Die Masse ist kalt geworden. Das Wiederwarm-Machen, das kostet die Nerven. Ich kann heute tatsächlich nicht mehr. Es zittert bei mir, innen und außen. Ich muß Schluß machen für heute. Ich muß wissen, was mit Etzien los ist. Und wenn es tatsächlich der Lachmann war, der ihm das Bein gestellt hat, dann muß ich darüber nachdenken, wie man an diesen Lachmann herankann und ihn unschädlich macht. Sonst ist es auf der ganzen Linie hier aus mit uns.«

»Wir haben heute genau 200 000 Stück zusammengeschustert. Das langt für morgen und übermorgen. Wollt ihr Samstagnacht kommen?« fragte Otto Harnisch.

Und Martin antwortete: »Gut, kommen wir Samstagnacht.«

Damit waren auch Hillmann und Franz Lück einverstanden. Sie packten die Arbeitsgeräte wieder ein und verließen, einer nach dem anderen, in Abständen von fünf Minuten, die Zille.

Und als Hillmann vom Hafenplatz in die Anhalter Straße bog, kamen von oben herunter vier Polizeiflitzer angesaust. Die Straße glühte weiß unter den Scheinwerfern. Hillmann hatte gerade noch so viel Zeit, sich hinter einen Haufen Pflastersteine, die vor einem Hause aufgeschichtet lagen, lang auf die Erde zu werfen Er hatte einen ganzen Stoß Material bei sich. Er drückte sich flach auf die nasse Erde, so daß ihm der Atem wegblieb. Die Erschütterung des Straßenpflasters von den mit je zehn Braunen besetzten Wagen ging in stoßweisen Wellen durch jeden einzelnen seiner Knochen. Und er lag noch da und keuchte, als die Flitzer längst schon außer Sicht waren und über die Potsdamer Brücke fegten. 216

 


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