Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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IV   Brandstifter

Auf der dunklen Straße mit Häusern in einem weiten Abstand voneinander, die links vom Bahnhof Nikolassee abbog, kaum noch Laternen hatte und sich schließlich in ein offenes Feld verlor, das wiederum von einem Kiefernforst abgeschlossen wurde, parkten zwei schwere Limousinen. Es war nicht ersichtlich, zu welcher der drei Villen sie gehörten, die hier, als letzte Ausläufer der Kolonie, links und rechts von der Straße im Dunkel lagen, ganz versteckt unter uralten Bäumen. Man hätte sich eigentlich wundern müssen, daß die Autos hier so herrenlos herumstanden, anstatt auf den breiten Kieswegen hinter den Gitterzäunen zu parken, wenn die Chauffeure nicht in den Wagen gesessen hätten – allerdings ohne sich zu rühren, und sie sprachen auch nicht miteinander, ja, sie rauchten nicht einmal.

Es war nicht zu erkennen, welches von diesen drei in gleichem Stil erbauten, mit modernen Fassaden versehenen Häusern sich Gäste für eine Abendveranstaltung geladen hatte. Es knirschte kein Schritt auf dem Kies. Es fiel aus keinem Fenster ein Lichtschein. Selbst die Hunde, die sonst immer an den Zäunen entlangliefen und lärmten, gleich, ob man hier bei Tage oder nachts vorüberschritt, hatte man entweder eingesperrt oder sonst still gemacht. Licht gab nur ein wenig der Mond, ein abnehmender Mond im letzten Viertel. Und von ihm beschienen, rührten sich manchmal die schlaff und kahl herunterhängenden Äste der Weiden.

Und als ein Mann, der vom Bahnhof her gekommen sein mußte, in diese entlegene Straße einbog, da schien es zuerst so, als könne er sich nicht dicht genug in den Schatten, den die Bäume warfen, hineindrücken. Als würde er es, ein Automarder, auf einen der beiden Wagen abgesehen haben. Denn er blieb plötzlich stehen, sah nach rückwärts, horchte nach vorwärts und wartete. Vielleicht fünf Minuten lang. Und dann, wie von einem Entschluß endlich bewegt, schob er sich an den Zäunen wieder ein Stück vor, bis er auf der Höhe des ersten Autos war. Und wieder 49 blieb er stehen und wartete. Mit einem Male aber, als hätte ihm jemand einen Stoß versetzt, lief er quer über die Straße auf das Auto zu. Und er fuhr auch nicht erschrocken zurück, als er den Chauffeur bemerkte. Er trat dicht heran und wechselte ein paar Worte mit ihm. Und dann bewegte er sich in schnurgerader Richtung bis zum anderen Auto. Und besprach sich auch mit dessen Chauffeur. Von dem mußte er wohl die gewünschte Auskunft erhalten haben. Denn jetzt marschierte er in einer direkten Schräge auf die letzte Villa links zu.

Als er am Tor stand und den Klingelknopf drückte, machte das Licht seine Gestalt etwas deutlicher. Es war ein sehnig-schlanker Mann von mittlerer Größe. Unter dem halboffenen Regenmantel trug er einen Pullover aus einer groben blauen Wolle. Eine Tracht, wie man sie häufig in den Vierteln von Neukölln und am Wedding sah. Dazu paßte auch die ramponierte blaue Schiffermütze. Im Profil und von dieser Mütze unterstützt, hatte der Mann beinahe eine Ähnlichkeit mit Thälmann. Es war aber ganz ausgeschlossen, daß der sich in diesem Viertel hier bewegte. Eher schon in dem Laubengelände von Treptow oder Britz, Reinickendorf oder Spandau. Denn dort wäre er, bei seinen Leuten, wohl am sichersten gewesen vor der Meute, die hinter ihm her war. Und nur dort würde er gewisse Besprechungen abgehalten haben, wenn die geheimen Lokale in der Stadt ihm nicht mehr sicher genug erschienen.

Es war, je länger man den Mann am Tor betrachtete, doch nur eine ganz entfernte Ähnlichkeit mit dem kommunistischen Führer. Und sie verblaßte schließlich ganz und gar, als ein Braunhemd den Eingang für den Besucher endlich freigab und dabei eine respektvolle Haltung einnahm.

Offenbar fand hier eine Sitzung von Nazi-Bonzen statt, die geheimgehalten werden sollte. Eine Zusammenkunft von Personen, die sich in dieser Abgelegenheit wahrscheinlich sicherer fühlten als hinter den gepolsterten Türen der Büros im Braunen Haus.

Als dieser fremde Mann noch zweimal einen SA-Posten passiert hatte und dann über eine sehr geräumige, mit billigem japanischem Kunstgewerbe dekorierte Diele in das Herrenzimmer geführt wurde, sah es allerdings nicht nach einer Gesellschaft aus, die eine ernsthafte Beratung abhielt. Fünf Personen begrüßten den späten Besucher mit lautem Hallo, und alle fünf hielten ihm zugleich die gefüllten Sektgläser hin, und jedes mußte er in einem Zuge leeren.

Als er sich endlich setzen durfte, so, wie er gekommen war, die Mütze auf dem Kopf und den Mantel halb offen, während die anderen in 50 geschniegelten Uniformen dasaßen, rund um den niedrigen Tisch in tiefen und weichen Ledersesseln, vor sich eine Fülle von Flaschen und Kästen voller Zigaretten, und sich vor Lachen bogen, sah man, daß seine Mundwinkel sich verzogen und daß ihm manches nicht gefiel, was er hier sah.

Der Obergruppenführer Heines, der dem Neuangekommenen gegenübersaß, klatschte in die Hände, als begrüße er das Auftreten eines berühmten Komikers: »Plumpe . . .Junge . . .heute bist du tatsächlich janz und jar Kommune!«

Damit meinte er das Aussehen des Gastes, der jetzt erst die Mütze hinter sich warf und auch den verschlissenen Regenmantel abtat. Dann griff er in den Zigarettenkasten, brannte an der Kerze an und stieß drei, vier Züge gegen die Decke.

Ernst frug ihn jetzt: »Bist du endlich soweit, Plumpe, dann schieß los!« (Plumpe, das war der Spitzname von Fiedler.) Der verzog ein paarmal den Mund und brummte dann: »Dreck!«

»Also schon wieder einmal Neese?« war die etwas unwillig geäußerte Bemerkung des Grafen Helldorf.

»Was heißt hier Neese?« gab Fiedler im gleichen Ton zurück. »Ich habe jetzt zwei Kerle fest; den Holländer und den Boxer. Bleiben also noch zwei. Ich habe ein halbes Dutzend Stempelstellen abgeklappert. Ich habe am Schlesischen Bahnhof herumgestöbert. Und ich habe schließlich auch den Mann von der Irrenanstalt gesprochen, den Wärter, den mir der Kamerad Schill empfohlen hatte. Beilke heißt dieser Aufseher bei den Ganz-Verrückten; seit neunundzwanzig macht er Dienst bei der SA. Also dieser Beilke weiß jemand, der für unsere Chose in Betracht käme. Er hinge aber ziemlich fest in der Abteilung für Unheilbare.«

»Mensch, Plumpe, der ist doch der Richtige. Der ist uns direkt vom Himmel heruntergefallen. Der braucht doch nur so viel Grips zu haben, daß er dort stehenbleibt, wo man ihn hinstellt. Und dann, man kann ihn doch so ausstaffieren, daß ein waschechter Hund von der Kommune ein Waisenknabe gegen ihn ist.«

»Alles schön und gut, lieber Graf. Aber erst den Jungen mal heraushaben aus dem Stall!«

»Kleinigkeit, Plumpe, Kleinigkeit! Das werden wir gleich morgen früh befingern. Wozu sitzt Hermann denn oben? Einen kleinen Zettel wird er schreiben müssen, verstehst du? Anweisung vom preußischen Innenministerium. Gleich aufs Janze! – So . . . und nun nimm mal erst einen Schluck. Siehst angegriffen aus, Plumpe! Bißchen blümerant . . . so, als 51 hätten wir den Fackeltanz mit negativem Erfolg hinter uns. Oder hast du dir mal wieder die Tülle verbogen?«

Er goß das Glas voll und reichte es Fiedler. Seine näselnde, aber doch scharfe Stimme paßte genau zu dem Gesicht, zum Einglas und der strammsitzenden Uniform. Die in den roten Klubsesseln hingelümmelten Kumpane, auf dem Tisch die Flaschen und Gläser, gaben eine sinngemäße Kulisse ab. Der im Gespräch wenig aus sich herausgehende Heyl fütterte einen verfetteten Bully dauernd mit Zucker.

»Mir ist noch immer nicht klar«, fing Fiedler wieder an, »weshalb es ausgerechnet vier Idioten sein müssen. Und von wem eigentlich diese fixe Idee ausgeht.«

»Wir haben die ganze Chose noch einmal durchberaten. Ich glaube, sie steht jetzt«, sagte großspurig der Graf.

»Wird auch allmählich Zeit!« gähnte Heines.

»Maul halten! Jetzt rede ich!« fuhr ihn der Graf an. »Also Plumpe: Ich sagte, die Schlachtordnung steht. Vier Fackelträger müssen es sein. Weil an vier Ecken zugleich getanzt werden soll. Sieh mal her –« (er zeigte Fiedler eine weiße Papierserviette, auf der mit Bleistift einige Linien und Punkte gezeichnet waren; Pfeile liefen mit den Linien parallel) – »also hier, Punkt eins: das Restaurant, dort tanzt die erste Fackel. Und hier, Punkt zwei: Garderobe, die zweite Fackel. Punkt drei: Plenarsaal, die dritte Fackel. Punkt vier: Bismarck-Saal, die vierte Fackel. Und dazu die entsprechenden Verbindungen. Verstanden, Plumpe? Vier Fackeln müssen es sein, vier Fackelträger also.«

»Nein, Graf, das geht mir immer noch nicht ein. Oder willst du etwa, daß alle vier Kerle gefaßt werden sollen?«

»Klar, alle vier. An vier Ecken Fackeltanz der Kommune. Vier Brandstifter, alle Parteibuch in der Tasche. Komplott, darauf fällt das Volk rein und die Kommune uns radikal in die Hände.«

»Wenn die Feuerwehr doch schneller sein sollte als unsere Leute? Was dann?« fragte Fiedler den Grafen. Er sah abwechselnd in sein Gesicht und auf die Skizze. »Und weiter: Wenn der Alte Herr dann eingreifen muß? Und die Polizei die Sache zuerst in die Finger bekommt? Wie stellst du dir die Einheit in den Aussagen der vier Kerle vor?«

»Sie werden von uns geschnappt und nicht von der Polizei. Anderer Dreh kommt gar nicht in Frage. Auch werden die Kerle von uns fotografiert, und Hinkepoot wird die entsprechenden Waschzettel dazu machen. Und dann Trommeln und Posaunen für die ganze Welt: ›Die Bolschewiken haben den deutschen Reichstag angezündet!‹ Und als ganz 52 besonderes Schlußtableau für die kochende Volksseele: die vier Galgen, an dem die Kerle hängen, direkt unter dem Bismarck-Denkmal.«

»Mit dieser Ausführung und diesem Ausgang wäre auch Hermann einverstanden. Insoweit bin ich von ihm autorisiert«, bemerkte Heyl.

»Und die Abteilung, die marschiert und hängt, kommandiere natürlich ich!« grinste Heines. »Oder machst du darauf Anspruch?« wandte er sich an Ernst.

»Ich denke, wir managen das beide. Ich den Aufmarsch, die Absperrung und das Dekorum, und du die Exekution.«

»Vorläufig haben wir die vier aber noch nicht, die mit der Fackel tanzen sollen und dann oben hängen«, gab Fiedler zurück. »Außerdem bin ich dafür, daß, wenn schon vier tanzen sollen, nur einer ausgeliefert wird.«

»Wenn bloß einer oben an der Strippe zappelt . . . du, das wäre ein sehr mageres Schauspiel für das Volk«, meinte Ernst.

»Meinetwegen können auch zwanzig zugleich hängen. Besser noch die ganze Bonzenschaft der Kommune. Thälmann an dem höchsten Galgen, mit dem Kopf nach unten, damit er recht lange zappelt. Zum Tanzen mit der Fackel aber, und dabei bleibe ich, sind vier zuviel. Ich rechne eben mit der Eventualität, daß sich unvorhergesehene Störungen einhaken. Versteht ihr?«

»Nee, Plumpe!« antwortete der Graf. »Störungen . . . die gibt es bei uns nicht. Wir bleiben bei vier. Zwei hast du schon sicher, den dritten holst du dir aus der Gummizelle . . . und den vierten . . . solls der Teufel holen . . . den besorge ich.«

»Von ›holen‹ kann gar keine Rede sein, du. Der Mann muß aus der Gummizelle türmen. Bei Nacht und Nebel. Oder aber: er darf nicht fotografiert und gehängt, sondern muß nach vollbrachter Arbeit in aller Stille beseitigt werden. Dafür braucht es aber schließlich kein Verrückter sein. Ich weiß einen besseren Weg als den offiziellen. Der Mann ist mir sicher. Er türmt, und seine Spur führt nicht direkt zu uns.«

»Du mußt ihn aber spätestens Sonnabend zur Stelle haben. Wir wollen dann in der Nacht Generalprobe machen, vom Gang aus . . . verstehst du?« sagte Heines.

»Er wird pünktlich zur Stelle sein, verlaß dich darauf!«

»Also . . . dann Schluß für heute?« fragte der Graf. Er nahm die Papierserviette wieder an sich und steckte sie zusammengefaltet in die Gesäßtasche.

Es brachen nur Fiedler und der Graf auf. Ernst, Heines und die beiden 53 anderen blieben noch. In der oberen Etage der Villa wartete schon der Harem für die amouröse Sitzung dieser Nacht, ein halbes Dutzend Jungens zwischen vierzehn und achtzehn.

Der Graf nahm Fiedler in seinem Auto mit. Der Wagen rollte die Chaussee nach Lichterfelde hinunter. Eine ganze Weile sprach keiner ein Wort. Plötzlich stieß der Graf Fiedler an, der zurückgelehnt dasaß mit geschlossenen Augen.

»Du bist nicht bei der Sache, mein Junge!«

»Meinst du . . .«

»Ja, nicht mit ganzem Leib und ganzer Seele!« Er sah Fiedler an und kurbelte die Verbindungsscheibe hoch.

»Weil euer Plan mit der Brandstiftung drei große Haken hat.«

»Und die wären, Plumpe?«

»Reden hat keinen Zweck; ich werde sie dir aber nach der Generalprobe demonstrieren.«

»Du glaubst auch sonst nicht an die Wirkung?«

»Nein. Nicht an eine ganz große.«

»Es gibt kein Zurück mehr. Und wir werden dich überzeugen.«

»Wann?«

»Wenn die Schwatzbude brennt.«

»Und dann?«

»Sitzt die ganze rote Bande hinter Schloß und Riegel. Für die anderen: die Straße frei! Mindestens acht Tage.«

»Acht Tage lang sollen Köpfe rollen . . . na ja.« Er sah nach der Uhr: halb eins. Er überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Du mußt mich jetzt nach Buch rausfahren.«

»Paßt mir gar nicht, Plumpe. Aber wenn es durchaus sein muß . . .?«

»Mein Gewährsmann hat Nachtdienst. Das letzte Mal. Dann einen ganzen Monat lang nicht.«

»Ach so . . . na, denn man zu!«

Er gab durch den Schlauch dem Chauffeur die Anweisung. Fiedler sah zum Fenster hinaus. Der Mond schaukelte auf niedrig ziehenden Wolken. Licht und Schatten strichen über die Felder. Bald tauchte ein Haus, bald eine Baumgruppe auf. Als die Kadettenanstalt in Sicht kam, sagte Fiedler: »Wenn mein Weg dort drüben angefangen hätte, wie es zuerst von meinem Alten beschlossen war, dann würde mir heute wohler sein in der Haut. Und das Abwarten einfacher.«

»Das kapier ich nicht, Plumpe!«

»Es gibt heute zwei verschiedene Soldatenröcke. Und damit will 54 ich sagen, der preußische . . . der mit der Tradition . . . der stünde mir besser.«

»Kommt alles noch, Plumpe! Nur ruhig Blut und abwarten. Wir werden später Garde. Und diese offiziellen preußischen Kommißköppe einfach Linie. Paß auf: in dieser Anstalt, der du jetzt Tränen nachweinst, vollzieht sich einmal die höchste Kurve deines Lebens.«

»Wenn du dich bloß nicht verrechnest.«

»Plumpe, das ist ausgeschlossen!«

Als sie die Potsdamer Straße hinauffuhren, schlug Regen gegen die Scheiben. Das Auto kam auf dem glitschigen Asphalt häufig ins Schleudern. Aus den Cafés, wenn eine Tür sich öffnete, schoben Dampfwolken die Menschen hinaus. Scheinbar unbekümmerte Menschen, von Musik und Erotik umschwelt, die Gedanken befeuert von Alkohol. Und in ihrer Vorstellung von der Welt: das wirkliche Heute und das wenigen Außenseitern klar erkennbare Morgen . . . alles sehr fern. Das Leben genommen, wie es gerade kommt.

Fiedler dachte: Zum Ausspeien! Dieses sogenannte Volk! Da reifen Entscheidungen heran, da ist vieles schon in Gärung übergegangen, der Druck ist kaum noch zu halten, muß bald herausplatzen . . . und diese Menschen hier haben nur eine gute Witterung für Unterleibsgeschichten und einen geruhigen Schlaf.

Er sah den Grafen an. Der hatte die Augen zu und den Mund weit offen. Ein starkes Gebiß, eins, das zupackt und zerreißt.

Der Regenschauer war vorüber. Das Fenster aber hielt noch eine ganze Weile die dicken Tropfen. Erst der schärfere Wind auf der freien Chaussee hinter Reinickendorf fegte die Scheiben blank.

Der Graf wurde nicht einmal wach, als Fiedler den Wagen in der Kehre, kurz vor dem Gutshof, halten ließ. Er schlug den Mantelkragen hoch, drückte die Mütze tiefer in die Stirn, gab dem Grafen einen Puff und stieg aus. Nun erst fuhr der Schläfer hoch: »Schon? Na, denn machs gut, Plumpe!« Und bald sauste der Wagen wieder in die Stadt zurück.

Bei der Fahrt am Bahnhof vorbei hatte Fiedler ein Taxi stehen sehen. »Dumm!« knurrte er, »daß ich die Karre nicht hier an der Ecke habe halten lassen.«

Er ging den ganzen Weg zum Bahnhof wieder zurück. Und als er den Taxichauffeur fragte, ob er eventuell eine Fuhre nach Berlin machen möchte, erwiderte der: »Das kostet aber Pulver, mein Lieber! Taxe hin und zurück.« 55

»Und wenn du ohne Taxe fährst?«

»Fünfundzwanzig Eier . . . billig, wa?«

Fiedler merkte sich die Nummer des Wagens, gab dem Chauffeur einen Zehnmarkschein und fragte: »Die Kneipe drüben . . . bis wann geht der Betrieb?«

»Je nachdem, mal ist um zwölfe schon zappenduster, mal dauerts bis in den frühen Morgen. Heute wird es wohl auch mindestens drei Uhr werden.«

»Gut, dann fahr die Karre nach der anderen Straßenecke und warte. Muß noch eine Besorgung machen. Das kann eine Viertelstunde dauern, es kann aber auch eine halbe daraus werden.«

»Meinswegen kanns die ganze Nacht dauern. Det kostet aber Standjeld.«

»Das wird sich nachher alles finden, alter Junge! Zehn Mark Anzahlung hast du ja schon.«

»Wird gemacht!«

Fiedler ging den geraden Weg in einem flotten Marschtempo zur Anstalt. Er war mit einem Mal guter Laune und pfiff sich sogar eins.

Der Krankenwärter Beilke tat Dienst in der Pförtnerloge. Und zum Glück war er auch noch allein. Und es klappte alles, bis auf den Zivilanzug für Tumbich. Im Anstaltszeug durfte man mit ihm in keinem Fall über die Straße gehen.

Beilke wußte schließlich Rat. Er gab seine hohen Stiefel her, und aus dem Zimmer von Doktor Long stahl er einen Regenmantel. Der war zwar etwas zu weit und zu lang für Tumbich, aber er deckte alles zu, und das war die Hauptsache. Auf den Kopf setzten sie ihm eine staubige Baskenmütze, die im Gang an einem Garderobehaken, vielleicht schon ein Jahr lang, herrenlos herumgehangen hatte.

Beilke begleitete Fiedler und Tumbich, der von allem unterrichtet war, bis zum hinteren Torausgang, den sonst nur die Ärzte benutzten. Zu diesem Tor hatte Beilke sich schon lange einen Nachschlüssel gemacht. Tumbich trabte neben Fiedler her wie ein großer, tolpatschiger Hund. Es lief ihnen niemand über den Weg. Und Beilke konnte es sich nicht verkneifen zu fragen: »Ist mir die Beförderung in der SA auch sicher . . . für das, was man jetzt hier riskiert?«

»Es wird so geschehen wie verabredet, verstanden?« brummte Fiedler ungehalten.

»Gut . . . gut . . . ein Mann, ein Wort!«

Beilke blieb noch eine ganze Weile vor dem Tor stehen und grinste vor 56 sich hin: »Den größten Spaß an diesem Dreh mit Tumbich wird wohl der Doktor Grätz haben . . . dieser eingebildete Fatzke! Und das wird jetzt wohl auch ein Grund sein, daß sie ihn zum Teufel jagen.«

Der Chauffeur schlief und merkte nichts, als Fiedler den Wagen öffnete und Tumbich hineinschob. Erst als Fiedler die kleine Klappe aufmachte und durchrief: »Los, Hedemannstraße!« fuhr er auf, als habe ihm jemand einen Schlag auf den Hinterkopf versetzt. Fiedler mußte lachen über das blöde Gesicht, das eine ganze Weile brauchte, ehe es sich zurechtfand und noch einmal in die Ohren hineingeknallt bekam: »Hedemannstraße, los!«

Während sie fuhren, ließ Fiedler Tumbich nicht aus den Augen; schußbereit hielt er die Pistole; man konnte nicht wissen, wie es um die Verrücktheit Tumbichs stand, obwohl Beilke noch einmal versichert hatte: ›Der Junge hat nie einen falschen Dreh im Kopf gehabt!‹

Schließlich fragte Fiedler den vor sich hinbrütenden Tumbich, weil ihm dieses tote Nebeneinander im Wagen auf die Nerven fiel: »Wollen Sie rauchen?«

Tumbich nickte. Und Fiedler brannte zwei Zigaretten zugleich an und gab Tumbich die eine. Und beobachtete ihn, wie er zog und mit welchem Behagen er inhalierte.

Nach einer Weile drehte sich Tumbich so, daß er das Gesicht Fiedlers dicht vor sich hatte. Und mit einer Stimme, die mit einem Male ganz verändert schien, sprach er: »Wenn du glaubst, es wäre bei mir in dem obersten Stockwerk nicht ganz in Ordnung . . . es würde spuken . . . dann irrst du dir, Junge. Vielleicht hat es auch mal ein bißchen gespukt, aber das ist längst vorbei. Und die Gummizelle, verstehst du, das war nur, weil mir das Spiel Spaß gemacht hat. Und so'n Doktor Grätz, der sich einbildet, er könne jedem die Pupille umdrehn . . . der hat von Tuten und Blasen keine Ahnung. Vielleicht gehört er dorthin, wo ich jetzt gerade herkomme. Schon weil er uns verboten hat, det Hakenkreuz auf die Wand zu malen. Die Pißbude ist aber doch voller Hakenkreuze. Ick sage dir: wir wissen genau Bescheid.«

»Darüber reden wir noch, wenn du erst wieder wie ein Mensch aussiehst.«

»Das soll wohl heißen, wenn das Geschäft, das ihr mit mir vorhabt, auch was einbringt? Umsonst ist der Tod, du!«

»Es wird sich gut leben lassen davon.«

»Das wäre auch gelacht! Tumbich stammt nämlich von der Plumpe!«

»Na ja . . . dann sind wir ja Landsleute.« 57

»Klar! Das fühlt man doch.«

Er ließ sich wieder in die Ecke zurückfallen und rauchte langsam und mit Behagen eine Zigarette nach der anderen.

Und Fiedler dachte bei sich: Verflucht, wenn das nur gut geht mit diesem ausgekochten Schwein! 58

 


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