Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XV   Neue Fundamente

Doktor Grätz sprach auf der Wohndiele mit einer Frau aus der Kolonie. Die Tür des Arbeitszimmers war nur angelehnt, und Robert Steg konnte jedes Wort mithören. Er wollte schon aufstehen und die Tür leise schließen. Vielleicht aber, so überlegte er, hat sie Doktor Grätz mit Absicht offengelassen, um einen Zeugen zu haben für das, was in diesem Gespräch an Einzelheiten erörtert wird.

Es drehte sich um einen Mann, der vor drei Tagen von vier SA-Leuten zu einer »Vernehmung« abgeholt worden war; seitdem hatte man nichts mehr von ihm gehört. An der heiseren Stimme der Frau merkte man, unter welch einem ungeheueren Druck ihre Nerven standen. Und es schien, als hätte die Erregung auch das Weinen ausgelöscht, das sonst bei viel geringfügigeren Anlässen laut wurde, wenn Frauen diesem Arzt sich mitteilten. Nur einmal bekam die heisere Stimme den natürlichen Klang wieder, als Doktor Grätz die Frau gefragt hatte, ob ihr Mann früher eingeschriebenes Mitglied der KPD gewesen sei.

»Wir waren beide eingeschrieben, mein Mann und ich. Und wir hatten auch schon in der Jugendorganisation gearbeitet. Dort nämlich haben wir uns auch kennengelernt.«

»Sie wissen wahrscheinlich, daß der Kolonne Beilke die Mitgliederliste in die Hände gefallen ist? Leider. Ja, man hätte vorsichtiger sein müssen, von dem Augenblick an, als die Nazioten den Reichstag erobert hatten. Als ich Göring wie einen auf Beute lauernden Leguan auf dem Präsidentenstuhl sitzen sah, da war für mich die Frage der baldigen Machtergreifung schon beantwortet. Und ich habe eure Leute mehr als einmal – und ich glaube, mit unwiderlegbaren Argumenten – gewarnt.«

»Damit haben wir nicht gerechnet, Herr Doktor, daß man auch bei dem alten Steiner das Haus umkrempeln würde. Steiner hat sich nie mit Politik befaßt und hatte auch keinen Feind in der Kolonie. Selbst der 175 Beilke ist oft zu ihm hingegangen und hat sich Erdbeerpflanzen oder Blumensamen geschnorrt.«

»Der Alte . . . vielleicht hatte er wirklich keine Feinde, die ihn denunzieren konnten. Und politisch hat er sich nicht betätigt, das stimmt schon. Aber sein Schwiegersohn. Und die Erfahrung hat unsere Mutmaßungen bestätigt, daß bei der Verwandtschaft, sogar bei der entferntesten, immer zuerst gesucht wird. Und in der Regel auch mit Erfolg. – Das Geschehene ist nicht mehr abzuändern, und mit Nachbetrachtungen machen wir Ihren Mann nicht ausfindig. Ich muß Ihnen leider sagen: im Augenblick können wir gar nichts tun. Es existiert heute noch nicht die Möglichkeit, gewisse Verbindungen zu den SA-Kasernen herzustellen; Horchposten sozusagen. Wir müssen warten, bis Ihr Mann in ein Lager überführt wird. Nach Oranienburg vielleicht. Dort haben wir schon Möglichkeiten schaffen können, um mit den Leuten in Verbindung zu kommen, ehe sie die Erlaubnis erhalten, ihren Angehörigen schreiben zu dürfen.«

»Es kann aber doch auch ebensogut die Postkarte sein . . . vom Revier zugestellt. Solch eine wie diese hier, die man vor acht Tagen der Frau Ohle geschickt hat.«

Sie reichte dem Arzt eine vielfach zusammengefaltete Formularkarte hin. Er glättete sie und las halblaut: »Der Polizeipräsident Berlin. K. J. M. XIV. Das Leichenschauhaus zeigt an, daß der Chemigraph Ernst Robert Ohle, 29 Jahre alt, wohnhaft in Berlin-Karow, Scheffelstraße 34, verheiratet mit Klara Ohle, geborene Merten, zu Berlin-Spandau, auf der Chaussee nach Papenberg, am 10. März 1933 nachmittags um neuneinviertel Uhr, verstorben ist. Der Standesbeamte: I. A. Augustin.«

Er faltete das Papier wieder zusammen und gab es der Frau zurück. Und als sie ihn ansah, so zusammengepreßt jeden Muskel des Gesichts, als ginge es um die letzte Anstrengung für ein Entweder-Oder . . . da sagte der Doktor Grätz:

»Das ist gewiß kein seltener und einmaliger Fall. Und es würgt einem den Atem weg, jedesmal, wenn man von einem neuen erfährt. Aber es erreichen doch mehr Personen das Lager als den Punkt, wo solch ein schematischer Totenschein das einzige ist, was von einem Menschen übrigbleibt, der diesen Henkern in die Hände fiel. Und man kann auch nicht sagen, was der Zeit nach früher vor sich geht: die Überführung in ein Lager oder die Beseitigung. In den Kellern der Kasernen liegen mehr Leute als in den regulären Haftanstalten und Konzentrationslagern. Es ist alles Willkür und hängt mehr oder minder von der Laune der einzelnen 176 Henkermeister ab. Ich werde mich bemühen, da und dort, wo ich Möglichkeiten sehe, in Erfahrung zu bringen, wohin Ihr Mann von hier aus verschleppt wurde. Das ist zunächst mal von Wichtigkeit.«

»Man will wissen, daß er in die Kaserne Chausseestraße gekommen ist.«

»Das ist eigentlich nur eine Durchgangsstation. Manchmal allerdings auch das Ende. Sie wissen, daß dort neulich erst einer ›aus dem Fenster gesprungen ist, aus Feigheit, sich zu verantworten‹. Vom vierten Stock herunter. Wer nachgeholfen hat, das ist nicht unbekannt geblieben. Doch was hilft das uns, zu wissen, welche Personen diese Mörder sind?!

Ja . . . Sie dürfen sich jetzt auf keinen Fall bemerkbar machen. Sie müssen vermeiden, mit Personen zusammenzukommen, die den Aufpassern hier bekannt sind als ›Marxisten und verdächtig, weiter zu wühlen und zu hetzen‹. Es darf nicht in Erfahrung gebracht werden, wie und wo man sich bemüht, Ihren Mann ausfindig zu machen.«

»Ich muß aber doch für unsere Sache arbeiten. Ich kann jetzt nicht allein in der Bude sitzen und die Wände anstarren. Wir müssen uns doch rühren. Wir müssen uns doch wehren. Die Verwirrung unter den Genossen ist so schon groß genug.«

»Jeder Kampf, liebe Frau, hat Taktiken zu befolgen und Grenzen zu beachten, will man nicht wie ein blindwütiger Stier drauflospoltern und sich mit Sicherheit einen Genickbruch holen. Für Sie ist jetzt im Augenblick eine Grenze gezogen. Wenn Sie die überschreiten, gefährden Sie Ihren Mann und die Genossen, die illegal arbeiten. Unter den denkbar schwierigsten Umständen arbeiten unsere Genossen, verstehn Sie? Das Leben eines jeden ist geliefert, der bei seiner Arbeit Spuren hinterläßt, auf die man die Bluthunde hetzen kann. – Wenn wir Klarheit darüber haben werden, was mit Ihrem Mann geschehen ist, müssen unsere Nachforschungen sich unauffällig bewegen. Und wenn wir die Gewißheit vor uns haben, wo er steckt, dann erst ist für Sie die Zeit da, zu handeln und all das zu tun, was getan werden muß, um Ihrem Mann in irgendeiner Form beizustehen. Und darüber hinaus, um diese barbarischen Zustände zu beseitigen. Opfern Sie sich aber jetzt durch unüberlegte Handlungen, ist für Ihren Mann gar nichts gewonnen. Und wir haben unter Umständen zwei wertvolle Mitkämpfer verloren. Sogenannte Bravour in solch einem Kampf, wie wir ihn kämpfen müssen, gegen eine millionenfache Übermacht, ist immer eine sehr zweischneidige Sache.

Überlassen Sie die Arbeit zunächst einmal uns. Wir werden uns nicht still in eine Ecke setzen und auf das Eingreifen irgendeines lieben Gottes 177 warten. Wir werden uns rühren. Wir werden uns wehren. Und wenn Sie, in der nächsten Woche vielleicht, wieder zu mir kommen, ist es wahrscheinlich soweit, daß wir von Ihrem Mann etwas Genaueres wissen. Falls Sie es nicht schon auf einem anderen Wege erfahren haben. Aber auch in diesem Fall kommen Sie zu mir.«

»Sie werden wohl recht haben. Und ich werde auch nicht mit dem Genossen Hillmann sprechen, was ich diese Nacht eigentlich tun wollte, wenn er zu Bohle in die Laube geht. Und nehmen Sie es mir bitte nicht übel, daß ich meine privaten Sorgen vorangestellt habe. Mein Mann ist kein wehleidiges Huhn. Er wird auch die Quälereien überstehen und sich nicht so leicht aus dem ›Fenster springen‹ lassen. Und schon gar nicht sich selber einen Strick um den Hals legen!«

»Man mag sagen, es sei unmenschlich gedacht, wenn man von seinem Bruder verlangt, er möchte gefälligst den Schmerz über sein eigenes Unglück zunächst einmal ausschalten und alle seine Kräfte für die Beseitigung der Ursachen des Unglücks frischhalten. Ich glaube aber: für uns geht es nicht anders. Wir müssen heute und morgen in dieser Härte gegen uns selber leben. Sie, liebe Frau, genauso wie ich und jeder, der sich mit uns in der gleichen Situation befindet. Ist Ihnen das klar?«

»Wenn mir das sonst jemand gesagt hätte . . .«

»Schon gut! Es bleibt also dabei, daß Sie in der nächsten Woche vorbeikommen, nicht wahr?«

»Ich werde kommen. Und auf Wiedersehn, Herr Doktor!«

»Auf Wiedersehn. Und Kopf hoch!«

 

Als Doktor Grätz jetzt wieder in das Arbeitszimmer zurückging und Robert Steg dasitzen sah, den Kopf von beiden Händen gestützt, ging er auf ihn zu und strich ihm über das Haar. Und sagte: »Nanu . . . hat jetzt auch dich schon die große Ratlosigkeit gepackt?«

Robert Steg fuhr hoch, als hätte er die ganze Zeit in einem Halbschlaf gesessen. Und er schluckte erst ein paarmal, ehe ihm die Worte kamen: »Von Ratlosigkeit kann nicht die Rede sein. Ich sah kommen, was da ist . . . alles . . . genau so, wie du es voraussahst. Ich glaube aber auch Möglichkeiten zu sehen, uns aus diesem Schutt wieder herauszugraben.«

»Ich bin neugierig, Robert.«

»Zunächst einmal die Frage: Bist du der Meinung, daß die Frau, die du eben fortgeschickt hast, die bestimmte Gewißheit mitgenommen hat, es geschähe etwas gegen die Gewalten, die über uns mächtig sind? Und 178 daß das, was geschieht, auch Wirkungen voraussehen läßt? Würden die Leute den Glauben nicht haben und zweifeln und uns für nicht besser halten als jene Menschen, die den Kopf in den Sand gesteckt und nicht einen Deut von Entschlußkraft bewiesen haben, dann kann man es ihnen nicht verübeln, sich von allen Seiten verkauft und verraten zu fühlen. Und wir dürfen uns auch nicht wundern, wenn die Leute jetzt häufig sagen: Nun wir tief im Dreck liegen, hat man nur beruhigende Worte für uns. Es ist keine Hand da, die fest zupackt und uns aus dem Dreck wieder heraushilft . . .«

»Ich verstehe, wohin du zielst, Robert. Es wäre dir wahrscheinlich nicht unangenehm gewesen, wenn ich der Frau einen Revolver in die Hand gedrückt und zu ihr gesagt hätte: Stellen Sie sich damit in eine dunkle Ecke und warten Sie dort so lange, bis der Mordbrenner Beilke vorüberkommt. Nehmen Sie ihn aufs Korn. Und wenn es zwei von diesen Kerlen sind, knallen Sie alle beide ab! – Ich kann dir aber verraten, daß die Frau mir den Revolver vor die Füße geworfen und mich mit Recht gefragt hätte, ob es nicht in der Ordnung wäre, wenn ich diese Tat ausführen würde . . .«

»Unsinn!«

»Bildlich gesprochen, verstehst du? Im Augenblick, Robert, konnte für die Frau nichts anderes getan werden. Ich meine: von hier aus. Daß sie nicht ganz allein bleiben wird in ihrem Gram um den Mann, dafür sorgen die entsprechenden Personen, die da sind für solche Zwecke. Ich aber bin verantwortlich für ihre Sicherheit und für die der Personen, die hier wirken. Die Frau kennt die meisten von diesen Leuten. Sie ahnt aber nicht einmal, scheint mir, von wieviel Hunden diese Genossen bewacht werden.«

»Ihr habt euch also wieder gesammelt und euch auch einigermaßen gefestigt?«

»Davon kann noch keine Rede sein. Es handelt jeder auf seine eigene Faust, wenn auch Verbindungen von einem zum andern gehen. Außerdem ist es nicht viel mehr als ein Bäckerdutzend – von fünfhundert Menschen, von denen früher mindestens vierhundert organisiert waren. Und es sind nicht einmal fünfzig, die früher heimlich und jetzt offen und herausfordernd das braune Hemd tragen. Diese fünfzig üben einen Terror aus, als wären es fünftausend; jeder ein Polizist, Richter und Henker zugleich, ausgerüstet mit unumschränkten Machtmitteln. Hinzu kommt noch, daß wir hier in der Kolonie wie auf einer weltfernen Insel leben. Jeder kennt die Gewohnheiten, die Lebenshaltung, die Gesinnung 179 und die Verwandtschaften des anderen. – Verstehst du jetzt, weshalb es hier nicht ganz einfach ist, die Abwehrfront so zu organisieren, daß wir wenigstens vor dem Äußersten geschützt sind?«

»Ja . . . das wird schon so sein, wie du sagst. Ich denke jetzt aber an die Arbeit im allgemeinen. An die Sammlung und an den Einsatz von Kräften, die schnell und auf jede nur erdenkliche Art an die Organisation von illegal arbeitenden Abteilungen gehen. Denn anders als illegal wird der Kampf einstweilen wohl nicht geführt werden können. Mit neuen Taktiken, neuen Personen und einer klaren und eindeutigen Parole. Mit Aktionen, deren Form dauernd wechselt. Mit Material, das dafür sorgt, jede Lüge des Trommlers zu entlarven, an augenscheinlichen Beispielen, nicht bloß mit Behauptungen.«

»Nein, Robert, nicht allein mit illegalen Mitteln und Organisationen. Wir müssen uns auch über andere Maßnahmen den Kopf zerbrechen und das, was wir so gefunden haben, dreimal durchsieben und dann erst ausprobieren. – Die Braunen und Schwarzen, als Vortrupp des Militärs, haben vorzugsweise nach dem preußischen, von den Generalstabsoffizieren ausgeklügelten Schema von 1807 gearbeitet, um eine schlagfertige illegale Truppe auf die Beine zu bringen. Diese Truppe hat den Ausschlag gegeben. Oben und unten, bei Hindenburg und bei der geblufften Masse. Sie haben etwas Vaterländisches vorgeschoben und in Wirklichkeit die Eroberung der Staatsmacht gemeint. Planvoll darauf hingearbeitet, von vier Seiten her. Und auf jeder Seite stand ein Militär und dirigierte. Man hat in den letzten Kriegsjahren sich des öfteren über einen Major Nicolai im Reichstag beschwert, über dessen Propaganda im Heer. Und ihn für einen Schwachkopf gehalten. Dieser Herr, der einst in Charleville die Fäden in der Hand hatte, hat sie auch nach dem Krieg nicht aus der Hand gegeben. Dieser ›Schwachkopf‹, der ein mysteriöses Büro bei Scherl unterhält, hat immerhin bewiesen, daß er zu wühlen und zu organisieren versteht. – Wir aber haben nur ein ungefähres Vorbild in den organisatorischen Geschehnissen unter dem Sozialistengesetz. Ich habe die damaligen Vorgänge in diesen Tagen gründlich studiert. Es war Bebel, der sich entschieden gegen eine zentralisierte Leitung des illegalen Kampfes und aller Mittel aussprach. Er setzte die Dezentralisierung durch, organisierte die legale und die illegale Arbeit, geleitet von vielen kleinen Stützpunkten aus, und gab Losungen für das Heute aus und nicht schon für das Übermorgen, und dazu praktische und nicht ideologische Anweisungen. – Von diesem Vorbild können wir ausgehen. Und das, was wir in der Zeit hinzugelernt haben an neuen 180 taktischen Manövern, und die Gedanken, die uns heute gekommen sind, noch hinzufügen.

Ich denke: Wir stellen unsere Ideenträger mitten hinein in die verwirrte Masse. Wir lassen sie ganz legal wirken. Wenn sie gezwungen werden, ›braun‹ zu gehen, müssen sie sich eben braun tarnen. Und wenn sie den Arm hochzureißen haben, dann sollen sie ihn hochrecken. Es darf ihnen nichts entgehen. Die Masse muß es bald heraushaben, daß jemand da ist, kein Großsprecher und Illusionär, sondern einer der ihren, dem sie sich in Zweifelsfällen anvertrauen kann. Vor allem in wirtschaftlichen Fragen, wenn es sich um die Betriebe handelt. Hier wird die Lohntüte oft der entscheidende Punkt sein, wo angeknüpft werden kann, damit die Zungen sich wieder lösen. Nicht in einem konspirativen Sinn; das zu fördern in diesem Anfangsstadium des Wiederaufbaus, wäre ein Verbrechen. Sondern zunächst einmal die ganz primitiven Möglichkeiten zur Formung eines neuen Kollektivwillens schaffen. Das erfordert einen absolut gefestigten Charakter und eine sachliche Eignung. Leute mit diesen Eigenschaften zu finden ist jetzt eine vordringliche Aufgabe.

Niemals darf es dem Vertrauensmann einfallen, illegales Material in die Betriebe hineinzutragen. Das hat von außen her zu geschehen durch die illegal arbeitenden Einzelpersonen. – Glückt die Aufstellung von Vertrauenspersonen in den Betrieben, dann ist der Weg auch nicht mehr weit, die sogenannten Gefolgschaften umzubauen, vorerst in anonyme Gewerkschaften, die dann die Massenbasis abgeben für die Machtkonstellation der künftigen gesellschaftlichen Kräfte. Der Entscheidungskampf für den Sturz des Systems wird sich in seiner ersten Phase wahrscheinlich auf wirtschaftspolitischem Gebiet abspielen. Je nach den Reaktionserscheinungen kann sich hieraus der Bürgerkrieg entwickeln . . . Doch das soll vorerst noch als Zukunftsmusik betrachtet werden. Die Kleinarbeit wird die erste Realität sein, die wir dem Terror entgegensetzen.

Ich habe gestern mit einem Mann aus den staatlichen Waggonfabriken, mit Richard Bohle, gesprochen. Er mußte mir recht geben. Seine Arbeit im Betrieb wird sich jetzt in dem von mir skizzierten Sinne bewegen. Er hat Leute hinter sich, die Charakter haben und Eignung für die Arbeit als Vertrauensleute besitzen. Warten wir die Resultate ab. Ich kann dir aber heute schon sagen, daß es keine Null sein wird.

Mit dieser Forcierung der legalen Aktionen will ich die illegale Arbeit gewiß nicht auf ein totes Gleis abschieben. Im Gegenteil: Ich möchte die 181 absolut zuverlässigen Kräfte stabilisieren und aktionsfähiger machen. Ich will ihnen den Kleinkram abnehmen und ihnen somit Ellenbogenfreiheit verschaffen. Sie sollen eingreifen, wenn Demonstrationen erforderlich sind. Sie sollen die geheimen Kanäle ausbauen und das Material durch diese Kanäle befördern. Ihr Wirken muß sich so vollziehen, daß sie mit der Masse nicht direkt in Berührung kommen. Die durch den Terror eingeschüchterte Masse darf nicht in die Lage versetzt werden, in Furcht und Vorsicht nach zwei Seiten hin leben zu müssen. Die illegal arbeitenden Kräfte sollen bei ihren Aktionen nie direkt gesehen werden; ihr Wirken muß aber zu fühlen sein als das Walten einer konsequent vorgehenden unsichtbaren Macht.

Die Tatsache einer illegalen Demonstration, und wenn sie nur darin besteht, daß man den Bürgersteig eines ganzen Straßenzuges über Nacht mit einem einst populären, aber jetzt mit Todesstrafe belegten Schlagwort bepinselt, wird der Masse imponieren. Denn sie weiß um die in den brutalsten Formen sich vollziehende Überwachung der proletarischen Wohnviertel und um das entsetzliche Wirken, der Geheimpolizei in den Vernehmungskellern. Und sie wird sich auch die entsprechenden Gedanken über die ›Ausrottung des Marxismus‹ machen. Alle Menschen, die solch eine Straße passieren, auch der Kleinbürger und Unterbeamte, werden genau wissen, was es mit dieser Beschriftung auf sich hat, die vielleicht bloß das eine Wort Freiheit! ausdrückt. – Die Leute werden das Gefühl haben, daß Widerstände am Werk sind, die etwas riskieren. Und sie werden allmählich begreifen, daß der totale Staat mit all seinen bis an die Zähne bewaffneten Schutztruppen doch nicht so allmächtig ist, wie er es in die Welt posaunt.

Auf das Vorhaben der Masse, sich nicht in Gefahr zu begeben, muß unbedingt Rücksicht genommen werden. Die Situation erfordert das. Und von dieser Rücksichtnahme auf die Überempfindlichkeit der Masse allen Dingen gegenüber, die Konflikte mit der braunen Gewalt schaffen können, müssen auch alle organisatorischen Maßnahmen getragen sein.«

»Auf welche Partei, glaubst du, müßte sich die Organisation der legalen Arbeit stützen? Anspruch darauf machen alle beide in die Brüche gegangenen. Die eine, die wohl am ehesten am Wiederaufbau der Freien Gewerkschaften interessiert ist. Und die andere, die für sich in Anspruch nimmt, das revolutionärste Element des Proletariats vertreten zu haben. Beide dirigieren jetzt die durcheinandergewirbelten Splitter aus den im Ausland etablierten Zentralen. Beide stehen sich wie Feuer und Wasser gegenüber.« 182

»Aus diesem Feuer und aus diesem Wasser muß eine Dampfgewalt werden!«

»Entschuldige – ich wollte noch etwas hinzusetzen. Ich wollte sagen: Sie stehen sich heute noch unversöhnlicher gegenüber als je vorher. Weil einer dem anderen die ausschließliche Schuld an dem Zusammenbruch zuschiebt, oft mit grauenhaft gehässigen Argumenten. Und du glaubst, daß aus solch einem Feuer und Wasser eine Dampfgewalt werden kann, die mit der Beseitigung der Braunen ganze Arbeit macht? Das setzt die vorbehaltlose Vereinigung der feindlichen Brüder voraus. Jawohl: Ich halte diese Frage für die primäre. Für den Anfang aller Anfänge.«

»Der Anfang heißt: Los, an die Arbeit! Und fürs erste meinetwegen auch jeder für sich. Und mit den Mitteln, die er für richtig hält. Zu gleicher Zeit muß aber auch an die Ordnung der arbeitenden Kräfte und deren Methoden gegangen werden. Auf der Grundlage, die ich vorhin entwickelt habe. Als ein Außenseiter. Ein Bürger. Und ich werde nicht der einzige Außenseiter und Bürger sein, der sich jetzt aktiviert und nur noch eine Einheit kennt: Das verratene und verkaufte Volk. Ich möchte nicht glauben, daß es heute noch Parteileute gibt, die mit Scheuklappen an dem vorübergehen, was selbst der unpolitische Mensch, sofern er das Gefühl für Freiheit und Gerechtigkeit sich hat erhalten können, heute erkennt, nämlich: daß es nur einen Feind gibt, den, der die Freiheit und Gerechtigkeit mit Stahlruten auslöscht.

Ich bin überzeugt, daß es auch nur eine Frage von Monaten sein wird, bis die gemeinsame Abwehr- und Aktionsfront zustande kommt. Ich habe hier in allernächster Nähe ein absolutes Beispiel. Sieh dir Hillmann an, Martin und Bohle. Die haben die Einheitsfront schon geschlossen und darin auch Leute einbezogen, die vor Hitlers ›Fanal‹ weder zur SPD noch zur KPD gehörten, ja, nicht einmal gewerkschaftlich organisiert waren.

Wir haben hier in der Kolonie keine Zellen; jedenfalls ist mir nichts bekannt davon. Aber wir sind alle im Bilde. Man könnte fast sagen: wir hängen zusammen wie die Kletten. Trotz dieser fortwährenden Überfälle durch die Kolonne Beilke.«

»Bei Hillmann und auch bei den anderen, die du nanntest und so weit ich sie kenne, liegt die Sache doch so, daß sie als Versprengte zu betrachten sind. Ohne Fühlung mehr mit den Zentralen. Sie mußten also von sich aus handeln, in eigener Selbständigkeit und Verantwortung. Und eine Initiative entfalten, die von den örtlichen Verhältnissen 183 befruchtet wurde. Daher die schnelle Einbeziehung aller antifaschistischen Elemente. Wieweit deine Mithilfe reicht, darüber möchte ich keine Worte verlieren. Jedenfalls freut es mich, daß ich dich angetroffen habe. Und daß wir uns so gründlich haben aussprechen dürfen. Und nun möchte ich dir noch sagen: Behalte die Organisationspläne nicht in der Tasche. Gib sie weiter. Heute schon, nicht erst bei einer passenden Gelegenheit.«

»Das ist bereits geschehen, Robert. Ich habe alles aufgezeichnet, was mir in diesen Tagen so durch den Kopf ging. Und es fand sich auch jemand, der es über die Grenze schaffte.«

»Du hättest auch Anni über die Grenze schaffen sollen. Oder, für ein paar Wochen wenigstens, zu uns hinaus schicken. Wir dort draußen leben nicht ein Zehntel so exponiert. Ich bin froh, daß wir in der vorigen Woche auch die Martha Zibell nach der Schweiz haben schicken können. Sieben Vernehmungen hatte das arme Menschenkind über sich ergehen lassen müssen. Weil sie nicht schweigen wollte über die Untat, über den Urheber des Verbrechens, diesen infamen Verräter, der Zibell um die Ecke gebracht hat.«

»Ich gebe zu, daß Anni bei euch ruhiger leben würde, und wenn es ihr Wunsch wäre, vielleicht würde ich mich auch nicht weigern. Aber sie will nun einmal hierbleiben. Und sie sagte es nicht einmal, Dutzende Male erklärte sie mir, daß sie bleiben muß, sie sei genauso Ärztin wie ich Arzt. Und wenn sie, als Jüdin, auch keine Praxis mehr ausüben dürfe . . . es häufen sich jetzt Fälle, Robert, die illegal behandelt werden müssen. Es riskiert auch heute niemand mehr, sich einen zerpeitschten Rücken oder das zerschlagene Gesäß von einem gleichgeschalteten Arzt behandeln zu lassen. Ich bin zehn Jahre aus der Praxis heraus. Ich bewege mich wie ein Anfänger, wenn ich abgequetschte Nieren wieder reparieren soll. Anni hingegen arbeitet mit erstaunlicher Sicherheit, wie der abgebrühteste Chirurg einst in den Feldlazaretten.«

»Ein gefährliches Spiel, für euch alle beide. Wehe euch, wenn es einmal zum Platzen kommt!«

»Wir sind in jeder Hinsicht vorbereitet, Robert. Wir wissen genau, was uns blüht. Wir werden aber fühllos sein, wenn sie uns fassen sollten. Sie werden uns nicht quälen können und auch nichts aus uns herausholen.«

»Das ist ja das Grauenhafte, das mich so bedrückt. Nicht einmal die primitivste Äußerung der Pflicht, seinem Nächsten gegenüber, ist heute straffrei.«

»Wenn du aber jemanden über die schweren Tage hinwegbringen 184 möchtest, Robert, dann, bitte, nimm Alma für ein paar Wochen zu dir ins Haus. In vierzehn Tagen muß die Dienstwohnung geräumt sein. Es ist sehr schwer für Alma, bitter schwer, sich von dem Park zu trennen. Es muß ein Übergang geschaffen werden. Bei dir draußen . . . das wäre die ideale Lösung.«

»Und was ist mit dem Stadtrat?«

»Eine neue Bindung an eine andere Frau, zu der er sich hingezogen fühlt. Die Sache reicht allerdings schon sehr weit zurück. Die Dienstentlassung war für ihn die beste und höchst willkommene Gelegenheit zu einem brutalen Schnitt. Beides zusammen traf die arme Frau.«

»Steht es fest, daß er seine Pension erhält? Ich hörte davon.«

»Vorläufig zahlt man ihm noch das ganze Gehalt aus. Und ein Viertel davon erhält Alma. Vielleicht reichen seine Verbindungen doch so weit, daß man ihm die gesetzmäßige Pension gibt. An eine Beschäftigung aber, an anderer Stelle, ist natürlich nicht zu denken. Er kann sogar von einem großen Glück sprechen, daß man ihn nicht nach Oranienburg als Schaunummer transportiert hat, wie den Sohn des Reichspräsidenten Ebert und die Rundfunkleute Alfred Braun und Doktor Flesch. Weiß der Teufel: man hat noch nicht einmal eine Haussuchung bei ihm abgehalten.«

»Das ist mir alles unbegreiflich. Man tappt in einem völligen Dunkel, nach welchen Gesichtspunkten die sogenannte Schutzhaft verhängt wird. Ich sehe Leute frei herumlaufen, mit deren Verschwinden am ersten Tage der ›Machtergreifung‹ gerechnet werden mußte. Und dann wieder sind Leute in der Brandnacht aus dem Bett geholt worden, von denen man doch bestimmt weiß, daß sie eine so hervorstechende Rolle im politischen oder öffentlichen Leben doch gar nicht gespielt haben. Ich möchte nicht mit Absicht an den Fall deines Schwagers rühren. Ich vergleiche nur objektiv: Welcher für die Wertbemessung gravierende Unterschied bestand für die Leute aus dem Braunen Haus in der Betrachtung der Person des Doktor Joachim, den man ermordete, und in der des Stadtrats, den man bisher ungeschoren ließ, obwohl in den letzten Monaten die rechtsstehenden Zeitungen sich doch genug mit ihm beschäftigt hatten und ihn zu diffamieren trachteten?«

»Zunächst einmal, das scheinst du zu vergessen, war Joachim Jude. Und dann hat der Mann ihn beseitigt, der einen Prozeß verlor. Und Joachim war der Anwalt der Partei, die den Prozeß gewann.«

»Du meinst also, in diesem Fall und in ähnlich gelagerten hat immer das Moment persönlicher Rache den Ausschlag gegeben?« 185

»Das ist in jedem mir bekannt gewordenen Fall auf den ersten Blick schon erkennbar. An der berüchtigten ›Liste der Fünftausend‹ haben Hunderte von Denunzianten gearbeitet und ihren tierischen Instinkten auf diese Weise freien Lauf gelassen. Gewiß: die Hälfte davon kommt auf das Konto von NSDAP-Beschlüssen und Einwirkungen der Reichswehr. Das Militär aber hielt sich ausschließlich an die Pazifisten. Private Rache hat all denen so böse und entsetzlich mitgespielt, über deren Einbeziehung in das Massaker wir uns heute wundern und uns wohl noch eine Weile weiter werden wundern müssen. Denn der Blutgeruch ist erst jetzt vielen in die Nase gestiegen, nachdem sie ihn buchstäblich wahrgenommen haben. Die offiziellen Mordkolonnen reichen nicht mehr aus. Die Bunker sind überfüllt. Oben, im friesischen Moor, werden neue Konzentrationslager eingerichtet. Die Unsicherheit für jedermann wird größer von Tag zu Tag, selbst für die Leute, die aus einem gewissen Erhaltungstrieb heraus sich gleichschalten möchten, aber die Gelegenheit dazu versperrt finden.

Das alles trägt auch noch dazu bei, daß Anni hierbleiben muß. In der vorigen Nacht waren es fünf, die man uns ins Haus brachte. Sehr schwere Fälle. Und es hilft uns niemand; es war nicht einmal möglich, eine Krankenschwester zu bewegen, die weitere Pflege der Mißhandelten zu übernehmen. Bei unserer Arbeit . . . da soll uns niemand helfen, wozu auch noch andere Leute mit diesen grauenhaften Dingen belasten. Und wenn ich die Eintragungen mache . . . ja, Robert . . . dann helfen nur schwere Drogen über das Entsetzen und die Übelkeiten, denen man angesichts der Verstümmelungen ausgesetzt ist, hinweg. Ich muß das Buch aber führen, denn es wird ein wichtiges Dokument sein, für später . . . wenn Gerichtstag gehalten wird.«

»Wo du die Nerven hernimmst, ist mir ein Rätsel. Vielleicht muß man zehn Jahre lang nichts anderes getan haben als unheilbare Geisteskranke behandelt, um die Bestie Mensch zu begreifen. Und die Untaten registrieren, ohne daß man vom Schlag getroffen wird . . . oder selber ein Ende mit sich macht.«

»Es gibt mehr Tierisches in der Welt als Menschliches. Und im Menschen ist das Tier noch die gutmütigste Funktion. Das Böse aber ein Produkt jener Gehirnbewegungen, die das Volk mit ›teuflisch‹ bezeichnet. – Nein, Robert, der Maßstab, den du anlegst, der paßt auf diese Erscheinungen nicht. Ich glaubte früher einmal, ich hätte das menschliche Gehirn bis in seine äußersten Windungen hinein erforscht. Zu jedem Muskel deutete ich mir die entsprechende Funktion, auch die, die den 186 Mord bewegt. Fehlschluß! Alles ist nur Antenne und Röhre. Die erregenden Ströme sind das große und vielleicht ewige Unbekannte. Und die Welle, die uns jetzt heimsucht, hat das Abgestimmte in vielen Gehirnen gefunden. Ich sagte vorhin: Blutgeruch; das gehört auch hierher, genauso, wie die absolut sadistischen Exzesse. Und der Größenwahn.«

»Wenn du es vermagst, an dieser Erkenntnis dich aufzurichten, um durchzustehen . . . ein Glück für uns, daß dir diese Eingebungen gekommen sind. Ich denke nicht in solchen Kategorien und bewege mich nicht in diesen oder ähnlichen Erkenntnissen, die dich bewegen. Ich halte mich an das Reale, an die nackten, brutalen Tatsachen. Und ich kann die viehischen Mißhandlungen nicht anders bezeichnen als eine Bestialität äußerster menschlicher Verkommenheit und den Mord nicht anders ansehen als eine kriminelle Tat.«

Als Robert Steg sich jetzt erhob und sich verabschieden wollte, frug Doktor Grätz: »Fährst du mit der Bahn oder mit dem Omnibus?«

»Ich wollte den Omnibus nehmen und zu Alma fahren.«

»Die Haltestelle ist jetzt vor der Gärtnerei, ich gehe mit.«

»Wenn du hier aber verlangt wirst?«

»Vor neun Uhr abends kommt niemand zu mir, Robert.«

»Du hast aber doch die Erlaubnis, zu praktizieren . . .?«

»Hier in der Kolonie sind die Menschen jetzt vorsichtiger geworden. Auch wenn sie zum Arzt gehen oder zum Kirchhof.«

Sie gingen den schmalen Feldweg hinunter. Die Dämmerung verwischte die farbigen Flächen der Landschaft. Alle Dinge standen in einem grauen Braun in vielen Abstufungen. Die Häuser waren untergegangen in der dichten Masse des Laubes von Gärten und Alleebäumen.

Niemand von beiden hatte jetzt ein Bedürfnis zu sprechen. Sie gingen Arm in Arm. Und jeder dachte für sich, in der Betrachtung der Lichter, die da und dort aufbrannten: Welch eine Stille in den Gärten und Häusern, wo es früher oft ausgelassen laut war von Kinderlachen, Stimmen der Mädchen und Musik.

Und jetzt: was alles mag hinter diesem Schweigen sein?!

 


 


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