Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XVIII   Im Zigarrenladen

Sieben Haussuchungen hatte Ernst Goose nun schon hinter sich. Und jedesmal waren ein paar Tausend Zigaretten dabei zum Teufel gegangen. Zuletzt hatten die Leute von der Gestapo sogar die kleinen Tabakpakete aufgeschnitten und den Inhalt durchsucht, die Zigarren aus den Kisten herausgeschüttet und zerbrochen. Der kleine Laden glich einem Müllhaufen. Und als Goose vor diesen Galgengesichtern nichts weiter tat, als den Kopf zu schütteln, bedrohte ihn der Kommissar und stellte in Aussicht, daß man das Geschäft schließen würde, wenn noch einmal eine Anzeige käme wegen des nicht vorschriftsmäßigen Flaggens – und überhaupt: wenn das rote Gesindel sich hier im Laden noch länger herumdrücken würde und die Leute belästigen mit abfälligen Redensarten über das Dritte Reich . . .

Ernst Goose hatte einen steinharten Kopf, aber nur einen Arm und links eine Beinprothese. Er war ein Schwerkriegsbeschädigter, besaß das Eiserne Kreuz erster Klasse und das goldene Verwundetenabzeichen. Die Verleihungsurkunde hing unter Glas und Rahmen an der Wand und darunter auch ein Handschreiben des Generals Litzmann. Er bezog jetzt eine monatliche Rente von 37,48 RM. Im Jahr 1925 hatte sie noch 76,89 RM betragen; aber alle Regierungen, die nach diesem Jahr amtierten, kürzten die Rente und schenkten dieses Geld der Großindustrie und den Großagrariern. Von Jahr zu Jahr wurde der den Kriegsinvaliden abgezogene Happen größer. Den letzten holte sich der »Frontsoldat« Brüning. Als die Rente für Goose damit den Stand von 37,48 RM erreicht hatte, die Kartoffeln nicht billiger geworden waren und das Fleisch auf dem Sonntagstisch nur noch aus Sehnen und Knochen bestand, gingen die meisten der Kameraden Ernst Gooses zu Hitler. Der versprach ihnen auf »Frontkämpferehre« die Rückversetzung der Rente auf den ursprünglichen Stand nebst einer mindestens fünfundzwanzigprozentigen Aufbesserung. Er versprach ihnen gemeinsame 217 Siedlungen für den »goldenen Feierabend des Lebens«, als Dank des Vaterlandes. Aber nur dann, wenn man ihn, Adolf Hitler, den unbekannten Soldaten des Weltkrieges, anerkennt als den von Gott bestimmten Retter des deutschen Volkes aus vierzehnjähriger Schmach und der Herrschaft der Weisen von Zion. Und wenn man nur ihm und nicht den vaterlandslosen Marxisten die Stimme gäbe bei einer jeglichen Wahl.

An diesen plump angelegten Leimruten zappelte jetzt das halbe Deutschland und sang patriotische Lieder, die zwar nicht satt machen, aber die Brust schwellen lassen.

Ernst Gooses Kopf blieb auch nach der letzten Haussuchung, die ihm einen Sachschaden von über zweihundert Mark verursacht hatte, steinhart. Er ließ von Johann P. Langfoot, der als erster den verwüsteten Laden betrat, die ganze Bescherung photographieren. Langfoot setzte ihm auch einen Beschwerdebrief auf, worin alle die Überfälle auf das Geschäft mit Datum des Geschehens und Angabe der Formation aufgeführt standen. Ein Rechtsanwalt hätte das nicht besser machen können, eher schlechter; denn auch diese Amtspersonen mußten zusehen, einen guten braunen Geruch auszuströmen, wollten sie nicht von der Liste gestrichen werden.

Langfoot sagte: »Ich glaube, das ist meine gelungenste schriftstellerische Leistung; wenn die der Papierkorb schluckt, will ich fortan Schulze oder Miroleit heißen.«

Goose legte dem vier Seiten langen Schreiben den Schein bei, den die Gestapo über fünf beschlagnahmte Bücher zurückgelassen hatte, tat den Fotoabzug hinzu und eine Abschrift des Dankschreibens vom General Litzmann und schickte die ganze Geschichte an eben diesen General, von dem man ja wußte, daß er bei den Braunen eine große Rolle spielte.

Man versprach sich zwar nicht viel von dieser Aktion. Der Schuster, als er davon hörte, sagte: »Du schämst dich nicht, Ernst, dieser Gesellschaft in den Hintern zu kriechen? Ich hätte ihnen den Laden noch hinterhergeschmissen!«

Ernst Goose aber meinte: »Wenigstens soll der Herr General wissen, wie der Dank des Vaterlandes in Wirklichkeit aussieht. Denn er hat zu mir gesagt, als er das Feldlazarett besuchte und mir den Piepmatz aushändigte: ›Goose, lassen Sie jetzt nicht den Kopf hängen, daß Sie als Invalide in die Heimat zurückmarschieren und der Krieg für Sie zu Ende ist. Sie haben Ihre Pflicht als treuer Sohn des deutschen Volkes 218 getan. Der Dank des Vaterlandes ist Ihnen sicher. Und wenn Sie in einer schweren Stunde des Lebens sich keinen Rat mehr wissen sollten, dann melden Sie sich bei mir. Ich werde wie ein Vater für Sie sorgen!‹ Wenn er dieses Schreiben lesen wird, der Herr General-Vater, dann wird er sich wohl auch noch an seine Worte erinnern und die Verpfändung einlösen.«

Nachdem Ernst Goose diese Arbeit hinter sich hatte, räumte er den Laden wieder auf, stellte neue Kisten und Pakete in die Regale, legte lose Zigarren und Zigaretten auf die Theke und hing das von Langfoot gemalte Schild: »Achtung, Haussuchung beendet!« in das Schaufenster.

Leider konnten sich die Leute der Birkenstraße zu Berlin-Moabit nicht lange dieser an sich ganz harmlosen, aber dennoch wirksamen Demonstration erfreuen. Nachdem das Schild vier Tage seine Schuldigkeit getan hatte, das Fenster die Spuren von zwei Steinwürfen zeigte und der SA-Mann Buttke aus dem Nachbarhaus schon mehrfach die Entfernung der »aufreizenden Bolschewisten-Propaganda« dienstlich verlangt hatte (er war es ja auch, der Goose dauernd denunzierte), kamen zwei untere Beamten vom Revier und beschlagnahmten das Schild. Sie brachten gleichzeitig auch die Bücher zurück, die die Gestapo mitgenommen hatte. Die Deckel waren vom Buchblock gelöst, und das Einbandleinen war von der Pappe entfernt. Es waren zwei Bände Theodor Fontane, ein Band Traven, ein Heilpflanzenbuch und eine Regimentsgeschichte, worin auch Gooses »kriegerische Heldentaten« vermerkt standen. Jetzt waren diese Bücher Makulatur, und Goose verweigerte die Annahme. Die Beamten ließen sie aber auf der Theke liegen und sagten: »Schadenersatzansprüche gibt es in diesem Fall nicht. Da sparen Sie sich mal das Papier. Höhere Gewalt, verstehen Sie?«

»Heutzutage hat alles einen höheren Standpunkt; selbst die Steine, wenn sie in die Fensterscheibe hineinknallen, sagen: Gott will es!«

Die Beamten sahen sich an und grinsten, hoben im Weggehen aber den Zeigefinger, was ihnen wahrscheinlich leichter fiel, als den Arm zu recken.

Goose richtete sich für die nun bald zu erwartende achte Haussuchung ein und sorgte dafür, daß nie mehr als zwei Personen an dem kleinen Tisch saßen, der links von der Tür stand, auf ihm das Telefon mit dem Teilnehmerverzeichnis, ein Exemplar vom »Stürmer« und zwei Nummern vom »Angriff«.

Es kam häufig vor, daß die Kunden, wenn sie telefonieren wollten, 219 keinen Anschluß bekamen. Die Wartezeit kürzten sie mit der Lektüre ab und rauchten eine Zigarette dazu. Und Ernst Goose saß auf seinem Stuhl hinter der Theke so, daß er das Fenster vor sich hatte und ein großes Stück Straße übersehen konnte. Nicht jeder Kunde, der den Laden aufsuchte, wollte von den Spitzeln, die in den Straßen Tag und Nacht herumspionierten, hier bei Goose gesehen oder gar angetroffen werden. Der Laden hatte einen indirekten Ausgang zum Hof, der war finster und stand voller Gerümpel und bot Gelegenheit zum Verkriechen, wenn es sein mußte.

Vor einer halben Stunde war der Genosse Martin dagewesen und hatte eine neue Nummer vom »Angriff« gebracht. Das heißt, neu konnte man eigentlich nicht sagen, denn das Datum lag um acht Tage zurück. Trotzdem war diese Nummer neu. Nämlich, wenn man sich die Seite sechs etwas genauer ansah. Nur der Eingeweihte wußte, auf welche Stellen er genau hinzusehen hatte. Und wenn jemand nicht gleich hinter den Trick kam, dann gab Ernst Goose ihm die Stichworte.

Es saß jetzt niemand da und las. Nur Frau Buttke telefonierte mit der Tochter, die im Theaterbüro der Skala beschäftigt war, daß Hans (der Verlobte der Tochter und ein berüchtigter Saalkämpfer) heute abend nicht zu Hause sein würde, weil er zu einer Nachtübung abkommandiert wäre.

Nach dem fast viertelstündigen Telefonat drehte sich Frau Buttke zu Ernst Goose um, der einen penetranten Geruch von Achselschweiß und zugleich von Flieder wahrnahm, und meinte: »Den ›Stürmer‹ haben Sie sich jetzt wohl erst neu zugelegt, Herr Goose? Würden Sie dieses Blatt früher regelmäßig gelesen haben, wahrscheinlich wäre Ihnen die Geheimpolizei nicht so häufig auf die Bude gerückt. Durch Schaden wird man klug und der Ochse gefügig, nicht wahr? Was kostet das Telefonieren? Ich habe nämlich kein Kleingeld bei mir. Schreiben Sie bitte an. Sie können mir auch gleich eine Schachtel ›Gelbe Sorte‹ mitgeben; Elfriede raucht keine anderen Zigaretten mehr, seitdem in dieser Marke die schönen Bilder von unseren Führern drin sind. Und ein Paket ›Sturm‹ für meinen Ollen können Sie mir auch gleich herreichen, das ist ein Aufwaschen. Ich meine: das Anschreiben! Und lassen Sie die Leute, die von oben bis unten nach Bolschewisten aussehen, hier im Laden nicht so lange herumschwatzen; das fällt auf, wissen Sie? Wer es nicht genau weiß, wer und was Sie sind, der kann leicht auf den Gedanken kommen, daß Sie auch so einer sind. Es wird jetzt endlich 220 aufgeräumt mit diesem arbeitsscheuen Gesindel. Denn das wäre ja noch schöner, wenn das eine Ewigkeit dauern sollte, daß solche Schmarotzer von unseren Steuergroschen leben!«

Es standen für Frau Buttke schon 9,40 Mark offen; Ernst Goose erinnerte daran. Frau Buttke fuhr hoch: »Hören Sie mal, man könnte jetzt beinahe glauben, Sie wären ein Jude aus der Grenadierstraße. Am Ende haben Sie auch schon jüdisches Blut in Ihrem Stammbaum . . . das rote Haar . . . wissen Sie, das ist nicht so ganz ohne, von nichts kommt nichts. Und am nächsten Ersten bezahle ich die paar lumpigen Sechser, verstehen Sie!«

Den letzten Teil des Geschnatters hörte Arthur Menges noch mit an, der jetzt den Laden betrat. Er setzte sich und blätterte eifrig im Telefonbuch herum. Er wußte nicht, ob die Buttke ihn von Person kannte. Er war mit ihrem Mann eine Zeitlang bei der Kohlenfirma Pardel beschäftigt gewesen. Ein Stänker, dieser Buttke, und ein Faulenzer noch dazu. Beide hatten an dem gleichen Tage die Arbeit verloren. Heute war Buttke Hausmeister in der naziotischen »Braunen Post«, Arthur Menges hingegen schon im vierten Jahr ohne Arbeit.

Als die Buttke endlich ging, die Hand auf der Ledertasche so gespreizt, daß man ja die lackierten Fingernägel sehen solle und den Ring mit einem großen, roten Glasstein, verzog Ernst Goose den Mund und sagte: »Na . . . ja, die Spione, die kennt man nun allmählich. Und diese Olle ist eine von der gefährlichsten Sorte.«

»Das wäre ja auch gelacht, Ernst, wenn du das noch nicht spitzbekommen haben solltest. Hast du schon eine Nummer bekommen? Ich sah den Martin durch die Gegend streichen.«

»Ja . . . die vom 15. Oktober ist gekommen. Wenn du lesen willst, unter dem ›Stürmer‹ liegt sie.«

Arthur Menges brannte sich eine Zigarette an und schlug die Zeitung auseinander. Er saß so, daß jeder, der in den Laden kam, sofort die Vorderseite der Zeitung mit dem Titelkopf »Der Angriff« sehen konnte. Und Ernst Goose beobachtete das Fenster. Nach einer Weile fragte er: »Ich habe noch nicht richtig hineinsehen können. Arthur . . . steht was Besonderes drin?«

»Das Richtige habe ich auch noch nicht gefunden, aber was ich hier gerade in der Pupille habe, das ist auch ganz interessant, hör mal zu: ›Die Generation, die einmal an der deutschen Zukunft mitgestalten will, die braucht heroische Frauen. Schwächliche Wesen, sogenannte Damen, geschminkt, gepudert und manikürt, und solche, die die 221 Muskeln ihres Körpers vernachlässigen und den Leib in Faulheit verkommen lassen, gehören nicht in die kommende Zeit. Der BDM (Bund Deutscher Mädel) soll die stolzen und edlen Frauen hervorbringen, die im Bewußtsein ihres höchsten Wertes nur zu den Ebenbürtigen gehören wollen.‹ – Das ist geschrieben von einer Frau Rosalind von Schirach. Und das betrifft also die Frau Buttke, nicht wahr? – Nun weiter: ›Jeder deutsche Mann hat in Zukunft die Pflicht, seine ganze Kraft dem Vaterland zur Verfügung zu stellen. Wer sich nicht einsetzt für das Aufbauwerk der Regierung, hat keinen Anspruch mehr auf Arbeit und Brot und wird als Saboteur und Landesverräter behandelt.‹ – Das betrifft also meine Wenigkeit. Den Anspruch auf Arbeit und Brot hat man mir allerdings vor vier Jahren schon gestrichen. Und die Bestrafung als Saboteur und Landesverräter habe ich bereits hinter mir, allerdings die erste Rate wohl nur. Trotzdem: Neun Monate Oranienburg sind keine Kleinigkeit. Meinst du nicht auch?«

»Die Buttke würde sagen: Kuriert ist dieser Bolschewik noch lange nicht, der muß jetzt erst noch die zweite Ration fressen. Diesmal aber oben im Moor.«

»Für die Buttke, verstehst du, wird auch noch einiges zum Auslöffeln übrigbleiben. Also weiter im Text: ›Durch Befehl der Obersten SA-Führung sind alle 18- bis 35jährigen Männer von SA-Führern sportlich und politisch zu schulen. Eine Weigerung, dem Befehl Folge zu leisten, zieht Zwangsvorführung nach sich.‹ – Darüber sind wir nun schon beide hinaus. Und wehrfähig . . .«

»Das bedeutet Krieg, Arthur!«

»Ja . . . das heißt auf gut preußisch: Krieg. Oder aber auch: Rette sich, wer kann!«

»So . . . Arthur; von dem Tee haben wir nun aber genug. Nun schnüffele mal im Stellenmarkt herum und sieh zu, ob für dich etwas Passendes drinsteht. Ich denke: ja.« Und dabei kniff Ernst Goose das linke Auge zu und wackelte ein wenig mit dem Kopf.

Arthur Menges las ein ganze Weile still für sich. In seinem Gesicht bewegte sich kein Muskel. Nur die Art, wie er den Rauch von sich stieß, verriet die ungeheuere Spannung, die an seinen Nerven zerrte. Und oft hob er das Gesicht hoch und holte tief Luft. Schließlich legte er das Blatt aus der Hand, für eine Minute nur, und sagte: »Ja . . . das ist eigentlich fast zu schön, um wahr zu sein. Meinst du nicht auch, Ernst?«

»Ich weiß nicht, welche Stelle du jetzt gerade vorhast.« 222

Arthur Menges nahm wieder das Blatt und las: »Unser Ziel muß sein, uns in den faschistischen Massenorganisationen mit den sozialdemokratischen Genossen zusammenzufinden und gemeinsam die Opposition zu organisieren. Wir müssen endlich Kurs nehmen auf die Überwindung der Spaltung in der deutschen Arbeiterbewegung und auf die Schaffung einer gemeinsamen Plattform. Der Ausgangspunkt zur Herstellung der Einheitsfront ist die Verteidigung der unmittelbaren wirtschaftlichen und politischen Interessen der Arbeiterklasse . . .«

Arthur Menges bemerkte dazu, mit einem Ausdruck im Gesicht, der nichts mehr von der Ruhe zeigte, die vorhin noch da war, als er still für sich die Zeitung zu lesen begonnen hatte: »Es ist bitter, daran zu denken, daß wir das schon vor einem Jahr hätten haben können, wenn man sich nur ein wenig mehr angestrengt und die Dinge von der richtigen Seite angesehen hätte. Die Nazis haben von Anfang an keinen Unterschied gemacht; für die waren wir alle zusammen das rote Mistzeug. Bloß im Lager waren wir es nicht, als sie nämlich gemerkt hatten, daß selbst in der Scheiße noch die Feindschaft zwischen SPD und KPD weitertobte. Manchmal war es direkt ekelhaft, besonders wenn ein bekannter SPD-Bonze eingeliefert wurde. Ich brauche das ja nicht mehr wiederholen. Wir haben das hier schon x-mal durchgekaut. Die Galle aber kommt mir immer noch in die Schnauze, wenn ich daran denke, daß sich die Genossen auch dazu noch haben antreiben lassen, auf den Leuten von der SPD herumzuhacken. Und den fetten Braten, den die braunen Folterknechte vor unseren Augen fressen wollten, nicht gerochen haben! – Deshalb sagte ich vorhin, es ist beinahe zu schön, zu glauben, daß die Einigung von oben her gewünscht wird. Wir in unserem Block haben schon lange alle nur an der einen Strippe gezogen. Wenn einer bei uns in die Straßenzelle rein wollte, dann wurde er vom Obmann zwar gehörig beklopft. Und wenn er echt war und sauber, auch genommen. Wir haben sogar jetzt Leute, die sind erst nach dem 30. Januar 33 politisch geworden. Vorher waren sie, wie man so sagt, pflaumenweich. Die sollst du heute mal sehen! – Ich bin also der Meinung: Wenn einer mit uns marschieren will und es liegt nichts gegen ihn vor, daß er halbseiden sein könnte, dann soll ihm kein Stein in den Weg gelegt werden.«

»Daß wir diese Taktik einschlagen müssen, das habe ich mit dem Schuster oft genug besprochen. Zu mir kommen viele Leute. Und jeden hört man sich an. Nicht bloß mit einem halben Ohr; heute muß man nämlich beide aufreißen, um das auch noch mitanzuhören, was die 223 Leute eigentlich nicht sagen wollen. Und das Ende ist immer: ›Ja, wenn diese gottverfluchte Uneinigkeit nicht gewesen wäre! Fehler sind natürlich auf beiden Seiten gemacht worden. Jetzt aber geht es uns allen doch, ohne Unterschied, an den Kragen!‹ – Und da hat man denn nur die eine Antwort zur Hand: Kumpels, das kommt alles noch. Wir werden noch so einig werden wie zwei Bäume, die von der Wurzel herauf zusammengewachsen sind. Erst müssen wir uns aber von dem großen Schrecken erholt haben und uns wieder ins Gesicht sehen können wie zwei Brüder, wenn sie nicht gerade Kain und Abel sind.«

Arthur nahm die Lektüre wieder auf und suchte die getarnten Stellen. Die meisten enthielten zentrale Nachrichten, abgedruckt aus der »Rundschau« und aus der »Roten Fahne«. Jedenfalls war diese »Stadtteil-Zeitung« eine der originellsten.

Aufgeregt kam jetzt Johann P. Langfoot angeschossen. Er hatte die Tür noch in der Hand, da bullerte er auch schon los: »Ernst, für mich ist es jetzt eine halbe Minute vor zwölf, ich muß verschwinden. Mir fehlen aber noch zwanzig Mark an Reisegeld. Zehn bist du mir für das Bücherregal schuldig, zehn mußt du mir pumpen. Mach schnell, um acht geht mein Zug!«

Er bemerkte jetzt erst, daß Arthur Menges in der Telefonecke saß. Er kannte den Mann nicht und wurde mit einem Male ganz kleinlaut. Ernst Goose lachte: »Vor dem brauchst du dich nicht zu genieren. Der schreibt zwar keine Romane, aber deinen aus der Büchergilde hat er gelesen, ehe das Buch auf dem Scheiterhaufen brannte. Auf der schwarzen Liste steht es übrigens auch, ich las es vor einigen Tagen in der ›Mottenpost‹. Eine lange Liste, diese verbotenen Bücher!«

»Und schon gibt es Leute, die bilden sich einen Stiebel darauf ein, daß man ihren Kram verbrannt hat. Und noch andere sind da, die schreiben von draußen, man habe vergessen, ihre Bücher auf die schwarze Liste zu setzen«, brummte Arthur Menges.

Johann P. Langfoot verzog das Gesicht und sah Ernst Goose an, als wolle er ihn fragen: Was ist das für ein Kerl?

»Sieh dir das Unglückspaket ruhig an«, sagte Goose. »Oranienburg hat ihn trotzdem nicht kleingekriegt.«

Langfoot drehte sich um und sah Arthur Menges, der seine Zeitung eifrig weiterlas, eine Weile an, langte ihm die Flosse hin, brummelte seinen Namen und sagte: »Also Sie haben die Abreibungen jetzt hinter sich?«

»Und Sie sind der Schreiber von dem Roman?« antwortete Menges. 224 »Hat mir gefallen, was Sie da von den Leuten aus dem Kohlenpott erzählt haben. Sie waren wahrscheinlich auch unten?«

»Ein Jahr. Bloß herumgerochen. Aber das hat ausgereicht, um zu wissen, daß Schlägel und Eisen keine Couponscheren sind und die dicke Luft in der schwarzen Tiefe kein Fünfuhr-Tee im Hotel Adlon.«

Ernst Goose ging jetzt nach hinten und kramte im Spind herum. Und Langfoot brannte sich eine Zigarette an und spähte aus dem Fenster.

Arthur Menges sagte: »Jetzt müssen Sie es aber auch mal in Oranienburg versuchen. Bloß nicht so husch . . . husch an einem Sonntagnachmittag, in Begleitung der Herren Sturmführer, wie es die Vertreter der ausländischen Presse einmal getan haben. Und dann in ihren Blättern schrieben, daß die Häftlinge durchweg einen guten Eindruck machen. Treiben Sport, spielen Schach und lesen gute Bücher. Und die Blätter mit diesem Geschwafel hat man uns auch noch unter die Nase gehalten! – Nein, Sie müssen als Häftling das Lager besuchen, nur eine Woche lang, als Latrinenreiniger oder in der Lehmgrube und auf dem Exerzierplatz. Ich denke: dann werden Sie etwas anderes verzapfen als diese Zeilenhengste, die sich eine blaue und eine rosenrote Brille auf die Nase haben klemmen lassen. Es muß einer kommen und schreiben, so, wie es in Wirklichkeit zugeht im Lager, dann werden die Leute draußen auch besser wirken können für unsere Sache, wenn sie endlich einmal die Wahrheit erfahren.«

»Dieses Oranienburg kann mir morgen früh schon blühen, lieber Freund. Gute Winde sind mir zugeflogen, die will ich nicht beiseite schieben. Und was über Oranienburg zu sagen ist, das wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Es sind schon genügend Aufzeichnungen draußen von Leuten, die diese Hölle hinter sich haben so wie Sie, die jetzt aber in Sicherheit sind. Und Sie wollen hierbleiben?«

»Muß ich, lieber Freund! Muß ich!«

»Ich müßte vielleicht auch; aber ich will nicht. Hier bin ich in allem behindert, weil ich ja nur in meiner Art wirken kann, draußen habe ich Ellenbogenfreiheit.«

»Sie wollen also in die Emigration? Ja . . . jeder sieht zu, wo er bleiben kann. Nur unsereiner hat keine Bleibe mehr. Ein paar Jahre zwischen Tür und Angel zu leben . . . als Gespenst sozusagen, daran wird man sich jetzt wohl gewöhnen müssen.«

»Sie sagen ein paar Jahre? Ich denke: nicht eins mehr. Oder halten Sie alle Menschen für so weich, daß sie in diesem Zustand klebenbleiben und sich häuslich einrichten?« 225

»Manche ja, die werden festwachsen auf dem Mist und Junge kriegen.«

Ernst Goose kam wieder in den Laden zurück, hatte ein kleines Paket gemacht und steckte es Langfoot zu: »So . . . das soll für unterwegs sein. Und wenn du mir die paar Sechser nicht wiedergeben kannst, wird es auch kein Beinbruch sein. Auf dem Deckel der Schachtel, wo die Zigaretten drin sind, habe ich dir die Adresse von meinem Bruder aufgeschrieben, und einen Gruß dazu. Vielleicht wirst du, wenn du deine Verwandtschaft nicht findest, bei ihm wohnen können. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn er über den Salat hier anders denkt als wir.«

Langfoot stellte das Paket beiseite, reckte die Hände über den Ladentisch, packte Ernst Goose bei den Schultern und gab ihm einen Kuß auf die Backe. Und sagte: »Das soll dir nicht vergessen werden, Ernst. Ich werde dir, sobald ich drüben bin, schreiben, aber per Adresse meiner Schwester. Ihr werdet euch ja auch weiterhin noch in der Laubenkolonie sehen. Mach's gut, den gesunden Arm aber niemals krumm. November übers Jahr werden wir wohl soweit sein, daß wir auf die Treibjagd gehen.«

Nun gab er auch Arthur Menges die Hand und meinte, als er das Titelblatt der Zeitung sah: »Das hat man Ihnen wohl in Oranienburg beigebracht, die Goebbelsschnauze für ein Gebetbuch anzusehen?«

»Was in diesem Blatt hier für uns zu lesen steht, das ist Medizin, verstehn Sie? – Von welchem Bahnhof fahren Sie?«

»Vom Anhalter.«

»Schön. Dann gehen Sie mal in den Buchladen neben dem Wartesaal zweiter Klasse und verlangen Sie den Angriff 109. Und wenn der Verkäufer sagt: Ausverkauft!, dann gehen Sie nach fünf Minuten wieder hin und sagen jetzt nur: 109. Dann bekommen Sie die Nummer 109. Und unterwegs werden Sie wohl Zeit genug haben, sich auch für die Anzeigen in diesem Blatt zu interessieren. Vielleicht geht Ihnen dann ein Licht auf. Und auch darüber, weshalb unsereiner bleiben muß, und wenn es noch mal Oranienburg dafür gibt . . . oder das Zigarrenkistchen: Ruhe sanft! Ja . . . gute Reise!«

»Wird gemacht!« antwortete Langfoot. Er nahm das Paket, drehte winkend den Kopf und war im Nu auf die Straße.

»Sonderbare Leute, diese Schreiber!« sagte Arthur Menges.

»Der ist heute bloß so aufgeregt. Sonst kriegst du keine drei Worte aus ihm heraus.« 226

»Ein alter Kunde von dir? Und wohnt auch hier in diesem Viertel?«

»Nee . . . im Hansa-Viertel. Bei seiner Mutter war ich Portier, als ich diesen Laden noch nicht hatte. Und seine Schwester, deren Mann gleich in der Brandnacht hochging und seitdem verschollen ist, hat eine Laube in unserer Kolonie. Mit Politik direkt haben diese Leute eigentlich nie was zu tun gehabt. In ihrer Gesinnung aber waren sie immer links.«

»Ja . . . überall schlägt dieses Donnerwetter rein, auch wenn die Leute keine Proleten sind oder Juden. Der Schreiber war wohl am ›Vorwärts‹?«

»Früher mal. Auf dem Kieker haben ihn die Braunen, weil er ein Stück gegen den Krieg geschrieben hat. Und die Volksbühne hat es aufgeführt.«

»Und jetzt will er sich dieses neue Theater von draußen ansehen? Darüber kann man verschiedener Meinung sein.«

»Was soll er hier? Schreiben darf er nicht. Als Angestellter oder Arbeiter nimmt ihn kein Krauter. Außerdem ist die Gestapo hinter ihm her und sucht nach einer Gelegenheit, wo sie ihn packen kann.«

»Will nichts gesagt haben, Ernst!« Er stand auf, steckte sich eine neue Zigarette an und ging ein paarmal nachdenkend im Laden auf und ab. Ernst Goose sah zum Fenster hinaus und beobachtete die Vorgänge auf der Straße. Plötzlich sagte er: »Nun setz dich man wieder, Arthur. Es scheint, als hätte der Schuster Lust auf einen Priem. Ich sehe ihn da gerade vor der Tür stehen. Na ja . . . das wußte ich ja: er hat es gerochen, daß du hier bist.«

Arthur Menges legte den »Angriff« wieder unter den »Stürmer«, setzte sich, holte eine trockene Stulle aus der Tasche und kaute daran herum.

»Also sieht man dich auch einmal?« begrüßte der Schuster Arthur Menges. Und zu Goose: »Eine Rolle Dicken, Ernst!«

»Ist es denn schon so lange her, daß wir uns nicht mehr in die Pupille gesehen haben, Schuster?« fragte Menges.

»Ja . . . du hast dich sehr rar gemacht in der letzten Zeit.«

»Ich bau im Bezirk Friedrichshain die Hauskollekte auf. Dort kennt man meinen Steckbrief noch nicht so genau. In acht Tagen habe ich vierzehn Hauszellen gemacht und über hundert Blätter untergebracht.«

Der Schuster biß ein Stück vom Kautabak ab und schob es nach hinten in die linke Backe. Den Rest steckte er in eine abgenutzte und verbeulte Blechschachtel. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Theke und nahm Arthur aufs Korn: »Also es geht immer weiter voran? Auch bei den Frauen? Das ist nämlich die Hauptsache. Die Weiber sind von Hitler halb und halb besoffen, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Ich denke, das war nicht der dümmste Streich, den die Nazis 227 sich geleistet haben, daß sie einen Junggesellen zu ihrem Trommler machten. Bei den Preußen war es auch schon so, daß der Tambourmajor die Weiber mit seinem dicken Schnurrbart gekitzelt hat. Laß dir mal schnell eine anständige Bürste wachsen. Die Männer, die fassen wir schon in den Betrieben.«

»Hast du den letzten ›Angriff‹ schon in die Finger bekommen, Schuster?«

»Ja, der Martin hat ihn mir vorhin gebracht.«

»Hast du gelesen?«

»Noch nicht, nach Feierabend aber.«

Arthur Menges schob den »Stürmer« beiseite, schlug den »Angriff« auf und gab das Blatt dem Schuster. »So . . . nun lies mal die Anzeige: ›Wohnungseinrichtung zu verkaufen‹. Bloß die, das wird für jetzt genügen.«

Der Schuster las, faltete die Zeitung wieder zusammen und legte sie beiseite. Er kaute heftig an dem Priem herum und schob ihn von links nach rechts. Und spie in den Napf hinein, der gleich neben der Tür stand. Dann kratzte er sich den Kopf und schüttelte ihn ein paarmal. Er wollte nicht zuerst den Mund auftun, er wartete erst ab, bis Ernst Goose fragte: »Das paßt dir wahrscheinlich nicht; das hältst du wohl für konterrevolutionär oder gar für eine ganz ausgekochte Sache der braunen Spitzel?«

»Es kann sein, daß jetzt die Zeit reif ist, die Einheitsfront zu machen.«

»Nanu, Schuster?!« fuhr Menges hoch und sah Pahlke fest in die Augen.

»Ich meine, immer vorausgesetzt, daß die Zentrale damit einverstanden ist. Ein Kopf, der muß nun mal sein, weil tausend Füße zwar laufen können, aber nicht denken. – Einheitsfront mit der Masse der SPD: Ja! Mit den alten Funktionären aber, da sage ich: Nee! Denn mit denen kommen wir nie und nimmer zu Stuhl. Ich will dir dazu noch etwas anderes sagen: Einen total aus den Fugen geratenen Schuh auf neu zu machen, das ist schwer. In der gleichen Zeit macht man nämlich drei Paar neue Botten. Aber aus einem rechten Schuh einen linken zu machen, das ist eine Sauarbeit. Das geht elfmal schief, und das zwölfte Mal ist es auch nur ein krummer Wurm, der dabei herauskommt. Ich habe es auch nur ein einziges Mal in meinem Leben versucht, das war für meine Mutter. Die hatte von der Frau Geheimrat, bei der sie bis zu ihrem siebzigsten Jahr immer noch waschen ging, zu Weihnachten ein Paar abgelegte rechte Schuhe bekommen. Ich habe die Botten so gerichtet, daß Mutter sie tragen konnte, vielleicht haben sie ihr gedrückt. Aber 228 das hat sie für sich behalten wie alles, was sie tragen mußte an Unannehmlichkeiten. – Siehst du, Arthur, so wie mit dem rechten Schuh, den ich wieder nach links drehen mußte, stell ich mir auch die Arbeit mit der Einheitsfront vor.«

»Du hast es aber doch geschafft und aus einem rechten Schuh einen linken gemacht?!«

»Wenn es nicht anders geht . . . wenn die Einheitsfront sein muß, meinetwegen. Ich sage dir aber: elfmal geht es daneben, und nur einmal mag es glücken.«

Das harte graue Haar auf seinem Kopf hatte sich hochgestellt wie der Federschopf bei einem Kakadu. Die Stirn war voller Falten, als bestünde sie aus einem gelben, höckrigen Leder. Und jedem, dem er jetzt die Hand gab, bevor er ging, sah er scharf in die Augen. Und als er schon die Tür in der Hand hatte, sagte er zu Menges: »Wenn du am Freitag um zehn zur Sitzung kommst, wird Hillmann da sein. Mit dem, glaube ich, wirst du in der Sache Einheitsfront schneller eins werden als mit dem ollen Pechhengst.« 229

 


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