Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXVII   Konzentrationslager

Der Stadtrat hatte zwar die auch in diesem Lager übliche »Antrittsrede« halten, nämlich die achtzehn Hiebe mit der Nilpferdpeitsche auf das entblößte Gesäß laut mitzählen müssen, aber nie erfahren können, aus welchem Grunde man die »Schutzhaft« über ihn verhängt hatte und von welcher Stelle aus sie verlangt worden war. Fünf Eingaben an die Aufsichtsbehörde hatte er in den letzten drei Monaten gemacht. Und jedes dieser formgerechten und der Lagerordnung nach auch erlaubten Gesuche wurde mit acht Tagen Bunker quittiert. Zweimal hatte er sich dem Lagerkommandanten direkt vorführen lassen. Man brachte ihn jedoch nur bis zur Wachstube, und dort durfte er sich die Bekanntgabe des Kommandanten aus dem Gesicht wischen, das heißt: die Blutspuren, die die Faust eines gelernten Boxers hinterlassen hatte.

Danach erst gab er es auf, die Lagerordnung so zu lesen, wie er bislang gewohnt gewesen war, von behördlichen Verfügungen Kenntnis zu nehmen. Er las die Sätze der achtzehn Paragraphen nunmehr von hinten nach vorn, lernte das so Gelesene auswendig und versuchte in den Freistunden des Sonntags seine Kameraden damit zu unterhalten. Aber auch dies mißglückte ihm, denn man glaubte, daß er Irrsinn simuliere, und redete ihm gut zu, von diesem gefährlichen Spiel zu lassen. Würde es dem Kommandanten bekannt, käme er ohne Strick um den Hals aus dem Bunker nicht heraus.

Das Lager war mit vierhundert Häftlingen besetzt. Es galt als eine Art Vorzugs-Anstalt, unweit einer kleinen märkischen Stadt gelegen, am Rand einer kilometerweit hingestreckten Heide. Die Baracken waren luftig und in einem verhältnismäßig guten Zustand; vor zwei Jahren noch hatten Anwärter der Schutzpolizei darin gehaust. Aus dieser Zeit stammte auch der große Exerzierplatz, wo jetzt die Häftlinge täglich eine Stunde gedrillt wurden: in Viererkolonnen zu marschieren, Hindernisse im Sturmlauf zu nehmen und nach dem Gesang naziotischer Marschlieder entsprechende Freiübungen zu machen. 341

Eine andere Besonderheit dieses Lagers war, daß es hier keine jüdischen Häftlinge gab, dafür aber ehemalige Angehörige der SA. Bestraft, weil sie das gewisse Haar in der braunen Suppe gefunden hatten oder ihrer Meinung nach nicht schnell genug avancierten und deshalb meckerten. Die Schutzhaft sollte ihren Untertanen-Verstand wieder zurechtrücken und ihre Zungen schwerer machen.

Die Arbeit in den beiden Kiesgruben, eine gute Stunde vom Lager entfernt, wäre für die jüngeren und an schwere körperliche Arbeit gewöhnten Leute unter Umständen erträglich gewesen, hätte sie nur acht, aber nicht zwölf Stunden gedauert, und würde man die Verpflegung, der Schwerarbeit entsprechend, nahrhafter gemacht und reichlicher bemessen haben. Die meisten Häftlinge waren aber über die Vierzig schon hinaus und in ihren früheren Berufen Büromenschen gewesen.

Die Arbeit in den Kiesgruben war auf Akkord gestellt, die Häftlinge waren in Gruppen eingeteilt, und jede dieser Gruppen hatte die vorgeschriebene Menge von Kubikmetern Kies zu bewegen. Es kam vor, daß manche Gruppe, wenn sie in der Hauptsache aus robusten Menschen bestand, mit der Akkordleistung eine Stunde früher fertig war. Und wenn es nach dem Willen dieser Leute gegangen wäre, dann hätten sie einer noch weit zurückliegenden Gruppe ein Stück Arbeit abgenommen. Das ließ der die Oberaufsicht führende Sturmführer aber nicht zu. Sie mußten sich so setzen, daß sie von den Kameraden, die an ihrem Pensum noch herumwürgten, gesehen wurden. Und der Sturmführer zwang sie, Schimpfworte, die er ihnen vorsprach, den »stinkfaulen Bestien« zuzurufen. Würde ein Außenstehender diese gemeinen Schimpfworte gehört haben, dann hätte er glauben müssen, daß dieses Lager eine Versammlung von Kehlkopfschwindsüchtigen sei, so blechern klangen alle Stimmen. Ein Schwarm von Raben im Kiefernforst hätte nicht heiserer krächzen können.

Wer bei der Arbeit vor Erschöpfung oder Entkräftung umfiel, wurde so lange getreten, bis er wieder auf den Beinen stand. Und wiederholten sich diese Zusammenbrüche an einem Tage ein paarmal, dann meldete der Sturmführer den Mann zum Rapport. Abzug des warmen Abendessens und eine Stunde Strafexerzieren waren noch die gelindesten Strafen.

Es hatte über ein halbes Jahr gedauert, bis der Körper des Stadtrats sich soweit den Lagerverhältnissen angepaßt hatte, daß er bei der Arbeit nicht mehr auffiel. Er war so abgemagert, daß sein Körper einer vertrockneten Kiefernstange glich und sein Kopf einer vom Rost 342 befallenen Birne, borkig und ledern. Das Gallensteinleiden, das ihn oft mit schweren Koliken plagte, durfte er sich nicht anmerken lassen oder sich deshalb gar krank melden. Er hatte es nur einmal versucht und von dem Lagerarzt, der jeden Sonntagvormittag »mal nachsehn kam«, sich ins Gesicht schreien lassen müssen: »Solange du Schießbudenfigur nicht auf dem Rücken liegst und Blut pißt, existiert für dich die Galle nicht! Verstanden?«

Er mußte noch zufrieden sein, daß der Arzt ihn nicht meldete, denn in diesem Fall wären ihm »wegen Heimtücke gegen die Lagerordnung« wieder acht Tage Bunker gewiß gewesen. Von einem Kameraden hatte er erfahren, daß gegen Gallenbeschwerden die Schafgarbe ein gutes Heilmittel sei. Am Rand der Kiesgrube wuchs die Schafgarbe in dicken Büschen. Er rupfte die zartesten Blätter ab und kaute sie in der Frühstückspause oder Vesperstunde zu dem trockenen, oft schon von einem grünen Schimmel bewucherten Schwarzbrot.

Dreimal in diesen neun Monaten, die seit der Einlieferung nun schon vergangen waren, hatte der Stadtrat von Frau Alma ein Paket mit zusätzlichen Nahrungsmitteln erhalten, will sagen: nur die Abschnitte der Postpaketadressen. Denn den Inhalt der Pakete hatte die Lagerverwaltung, weil er den Vorschriften nicht genau entsprochen haben sollte, vernichten lassen. Die Vernichtung bestand darin, daß die Schreiber der Kommandantur die Büchsen mit Fisch- oder Fleischkonserven, die Päckchen Tabak, Schokolade, Keks usw. an den Pächter der Lagerkantine verkauften. Und wer von den Häftlingen über Geld verfügte, durfte das »vernichtete Zeug« in der Kantine zurückkaufen.

Daß die Häftlinge, fast alle waren doch nur ihrer den Nazioten nicht genehmen Gesinnung wegen hier, barbarischer behandelt wurden als in den meisten Kulturstaaten der Welt die Kriminellen, geschah nach dem Willen derer, die für die Errichtung dieser sogenannten Schutzhaft-Lager als Urheber anzusehen sind. Sie wollten die politischen Gegner nicht allein isolieren und mit der Zeit mürbe machen, sie hatten vielmehr die Absicht, die Andersdenkenden auf eine besonders grausame Art zu quälen und langsam unter Qualen körperlicher und seelischer Art hinsterben zu lassen. In nicht wenigen Fällen spielte bei der Inhaftierung nicht so sehr die politische Vergangenheit des Delinquenten eine entscheidende Rolle, sondern die gemeinsten privaten Rachegelüste eines jetzt Allmächtigen.

Die körperlichen Quälereien konnten kaum noch überboten werden. Alles, was die Phantasie dieser vertierten Henkersknechte in 343 schwarzer SS-Uniform ausgebrütet hatte, war mit der Zeit schon durchprobiert worden. Neues fiel ihnen kaum noch ein. Sie wiederholten. Und diese ewigen Wiederholungen stumpften auf die Dauer die beabsichtigte Wirkung ab. Die mißhandelten Körper schufen ihrerseits sich das sogenannte dicke Fell, das die Empfindsamkeit der Nerven bis zu einem gewissen Grade vor katastrophalen Erschütterungen schützte, nicht nur vor dem nachwirkenden Gefühl der Schläge oder dem Blut und Galle erbrechenden Ekel, wenn die Latrinen mit den bloßen Händen gereinigt werden mußten. Das unbeschreibliche Elend des Da-Seins in diesem Pferch an sich, in diesem Scharwerker-Dienst, den zivilisierte Menschen nicht einmal niederen Tieren zumuten würden, die ununterbrochenen seelischen Folterungen, das völlige Abgeschnittensein von der Außenwelt, die Ungewißheit über das Ende dieser Schändung menschlichen Fühlens, alles dies trug dazu bei, daß Geist und Körper in einer Art Dämmerzustand versanken, in ein stumpfes Dahin-Siechen, in eine Bedrückung, von der man bald nicht mehr wußte, ob es noch ein von Blut und Atem bewegtes Leben war oder schon die Starre unter dem Erdhügel.

Hier und dort in den einzelnen Baracken bildeten sich engere Kameradschaften. Primitiv in ihrer dürftigen Enge und nur auf das Nächstliegende gerichtet. Manchmal ein Gespräch, das ein wenig in die Tiefe ging, dort hinunter, wo es blutete und eiterte. Oder eine Tat, die man als etwas Unerhörtes empfand, obwohl ihr Gewicht und ihre Leistung nicht weiter reichten als von einem Tag zum anderen.

Im Grunde war jeder bis zum Bersten mit der Bedrückung seiner eigenen Kümmernisse geladen. Ein nicht geringer Teil davon galt den Angehörigen: den Ehefrauen, Brüdern, Schwestern, Eltern, die sich zwar noch frei bewegen durften, in Wirklichkeit aber nicht viel anders lebten, als steckten sie gleichfalls in einem Absonderungslager, geächtet und verfemt von jenen Nachbarn, die dem braunen Götzen dienten. Und wie die an einem Verbrechen Mitschuldigen wurden sie von den Amtsstellen behandelt, die sie aufsuchen mußten, um teilzuhaben an dem behördlichen »Unterstützungswerk für notleidende Volksgenossen«, das angeblich keinem verweigert werden durfte, der sich in Not befand; tatsächlich aber wurden Unterschiede gemacht, und bei der Verteilung war die gleichgeschaltete Gesinnung das Ausschlaggebende, nicht die Not.

Viele der Häftlinge mieden jedes Gespräch, das sich mit dem Schicksal der Angehörigen beschäftigte. Sie trugen ihre Gedanken wie ein 344 Geschwür, das in den Windungen des Gehirns wucherte, wie eine große rote Sonne glühte, blutete und eiterte. Oft saßen sie da, in einer Ecke der Baracke oder draußen, hinter der Latrine, mit starr glotzenden Augen, ohne Gesicht und Gehör für das, was um sie herum vorging. Zu diesen gehörte auch der Studienrat Korten. Es war den Kameraden bislang unmöglich gewesen, ihn aus seinem Ingrimm auch nur für eine Stunde herauszureißen, ihn zu einem Spiel am Schachbrett zu bewegen oder wenigstens in eine Unterhaltung zu bringen, die sich mit den Geschehnissen im Lager beschäftigte.

Nach einer Lagerbesichtigung durch den Regierungspräsidenten geschah es, daß der Stadtrat und Korten, die nie in einer Kolonne zusammengearbeitet hatten und jeder auch in einer anderen Baracke lagen, beide zugleich nach der Abteilung I verlegt wurden. Von dieser Abteilung hieß es allgemein, daß sie die letzte Station vor der Entlassung sei. Das traf nicht unbedingt zu; die meisten Entlassungen aber waren tatsächlich aus dieser Abteilung I heraus erfolgt. Und wer hier untergebracht war, hatte immerhin die Vergünstigung, sich das Haar bis auf zwei Zentimeter Länge wachsen zu lassen, während sonst die Köpfe blank rasiert getragen werden mußten. Sie brauchten auch nicht mehr in der Kiesgrube zu arbeiten, sie wurden in der großen, für die Beamtenküche eingerichteten Gemüsegärtnerei beschäftigt, durften, ohne daß die Karabiner der beiden Aufseher gleich losgingen, sich dann und wann auch eine Mohrrübe, Tomate oder ein paar Zuckerschoten in den Mund schieben und hatten in den Pausen vormittags und nachmittags über die schweinischen Witze des Scharführers zu grinsen.

Sonntags, nach dem Parademarsch und dem Mittagessen, gab es für die sechzehn Insassen der »Übergangsbaracke« auch ein Buch zur Erbauung und Unterhaltung. In der Regel war es ausrangiertes vaterländisches Zeug aus der städtischen Schülerbibliothek, schon so zerlesen, daß man sich das meiste hinzudenken mußte, wollte man einen Sinn in die Geschichte hineinbringen.

Drei Wochen schon waren der Stadtrat und Korten in dieser Abteilung beieinander, ohne daß sie sich zu einem Gespräch zusammengefunden hätten. Der Stadtrat fühlte sich in einer Art Schuld Korten gegenüber, denn er glaubte, daß die Verhaftung eigentlich nur ihm gegolten habe, und daß man Korten einfach mitgenommen hatte, weil er zufällig bei ihm im Garten war und Augen von den Rosen brechen wollte. Und das gleiche glaubte wiederum auch Korten, obwohl er sich neun Monate 345 lang den Verstand damit abgeschunden hatte, festzustellen, welche Ursache er den Nazis gegeben haben konnte, ihn in Schutzhaft zu nehmen. Er dachte zuerst an die unvorschriftsmäßig kleine Hakenkreuzfahne, die er, wenn Flaggenzwang war, aus dem Dachfenster seines Hauses hinausgesteckt hatte. Erst ganz zuletzt fiel es ihm ein, daß er einmal seinem Sohn, der in Paris in der Emigration war, einen Brief geschrieben und in diesem Schreiben manches berührt hatte, was nicht gesagt werden durfte. Das Schreiben hatte die Zensur angehalten, und bei der Vernehmung sagte ihm der Gestapo-Kommissar, man wolle dieses eine Mal noch ein Auge zudrücken, weil er ein Feldzugsteilnehmer mit Verdiensten sei, kein Jude und auch sonst nicht als Marxist bekannt.

Das war gleich zu Anfang der Hitlerei gewesen. Und seitdem hatte er seinem Sohn nicht mehr geschrieben. Es konnte also nur dieser eine abgefangene Brief sein, der ihn diesem Unheil ausgeliefert hatte und den Stadtrat mit dazu, weil man wahrscheinlich ein Komplott annahm. Bei diesen Erwägungen war er stehengeblieben und fühlte sich schuldig; nicht einer heimtückischen Tat gegen Staat und Volk, wie es ihm der Kommandant einmal unter die Nase gerieben hatte, aber an der Mitverhaftung des Stadtrats.

An jenem Tag, als der 9. November auf hitleristische Art auch im Lager gefeiert wurde, durch Ansprache, Chorgesang, Parademarsch und Hemdenappell zu sauren Bohnen mit ranzigem Walfischfleisch, geschah es, daß der Stadtrat und Korten allein und ohne Aufsicht in den Garten geschickt wurden, um Grünkohl für die Abendtafel der Wachsoldaten und Beamten zu schneiden. Und nachdem sie erst eine lange Weile, ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben, das Gemüse geschnitten und in die Körbe gepackt hatten, sagte der Stadtrat: »Es ist nicht recht, daß Sie mir immer ausweichen. Wir hätten uns doch einmal aussprechen können, vielleicht wären wir dann auch zu dem Punkt gekommen, wo ich Ihnen hätte sagen können, wie sehr ich darunter leide, daß ich Sie sozusagen an der Kette mitgezogen habe in diese Hölle hinein . . . ich leide . . .«

»Daß man hier leiden muß, ist doch augenscheinlich, wozu da noch ein gegenseitiges Bedauern?« antwortete Korten.

»Ich werde das Vergangene nicht los.«

»Ich denke weder an das Vergangene noch an das Zukünftige. Ich glaube, daß ich die Tierstufe nunmehr erreicht habe, und die ist diesem Leben hier angemessen. Tiere denken primitiv. Jede Gehirnbewegung darüber hinaus ist eine Kräftevergeudung.« 346

»Das soll heißen: Sie stecken die nicht ausgegebenen Kräfte in den Spartopf . . .?«

Korten machte eine wegwerfende Bewegung: »Wofür sparen? Sie glauben doch womöglich nicht, daß wir jemals wieder nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft werden? Man wird nicht fragen, woher das Brandmal stammt, das wir doch wohl deutlich genug auf der Stirne tragen. Wissen wir überhaupt etwas von dem, wessen die Akten uns beschuldigen? Man sagt: Heimtücke. Ein neuer Begriff für mich. Man könnte wohl auch ebensogut behaupten, daß ich einen Raubmord auf dem Gewissen habe oder ein Kalb genotzüchtigt. Vielleicht steht solch ein Faktum auch in den Akten, man hat mir die Einsichtnahme verweigert. Und ich kann mir sonst auch nicht diese Art von Haft, die wahrscheinlich ein verschärftes Zuchthaus darstellen soll, erklären. Man muß, um diese Erklärung wesenhaft zu machen, denn sonst hätte das Ausharren in diesem Hiersein ja keinen Sinn, den uns von Staats wegen zugesprochenen Verbrecher so spielen, daß eine Virtuosenrolle daraus wird. Oder sehen Sie mir den Raubmörder nicht an? Dann bin ich ein Stümper. Sie sehen mir aber doch wenigstens den Sodomiten an? Ja, auch der Herr Sturmführer hat von mir die Meinung, daß ich meinem Schwiegervater mit einem Rasiermesser die Kehle durchschnitten habe. Ich freue mich, daß solch ein blutiger Geruch von mir ausgeht. Wenn es jetzt endlich auch meine Frau glauben möchte! Die hält mich leider für unschuldig und schreibt sich die Finger wund an alle jene Respektspersonen, die mehr als ein Dutzend Orden auf der Brust tragen.«

»Wenn Sie in einem solchen grauenhaften Zustand leben, dann müssen Sie die Tat, deren Sie sich bezichtigen, auch bereuen und von Gewissensbissen sich plagen lassen, damit der Irrsinn vollkommen wird.«

»Werde ich auch geplagt, mein Lieber, werde ich! Diese Zeit verlangt von uns, daß wir bis in den äußersten Winkel unseres Wesens uns verkriechen, dort, wo die Bruchstelle der Schöpfung ist.«

»Ich fasse es als einen Glücksumstand auf, daß ich Sie, in dieser allerletzten Minute sozusagen, noch erwischt habe. Wir werden uns jetzt, um in Ihren Gedankengängen zu bleiben, wie zwei Komplizen benehmen, die in der Gefangenschaft ein neues Verbrechen ausbrüten. Man darf Sie nicht mehr so allein lassen. Es kann geschehen, daß wir zu Weihnachten entlassen werden. Sie werden keine Rosen mehr okulieren können, wenn Sie die Rolle, die Sie sich hier vorspielen, draußen fortsetzen.«

»Die Rosen, Herr Nachbar, wird ein Ersatz okulieren. In alles, was ich einmal war, als der Studienrat Korten, Doktor philosophiae, Ritter 347 Hoher Orden, Ehemann, verheiratet mit Dorothea, geborene Hinkel, ist der Ersatz schon hineingekrochen und legt seine weißen Eier ab. Mit den Maden kommt eine neue Menschenart ans Tageslicht, vorn Auerochs und hinten Pfau, uns stoßen die Hörner, in dem Spiegel des Pfauenrades sieht die Welt den Himmel offen.«

»Hören Sie: was Ihre Phantasie sich da an Konstellationen errechnet hat, ist längst überholt, und die neuen Typen sind kein Ersatz für die außer Kraft gesetzten. Was heißt überhaupt Ersatz? Niemand kann durch einen anderen ersetzt werden.«

»Ich habe mich nunmehr selber ersetzt.«

»Sie haben nichts ersetzt, mein Lieber; nur eine neue Eigenschaft sich zugedacht.«

»Herr, sehen Sie denn nicht, wie ich schon zerbrochen bin in Schutt und Asche?« schrie Korten plötzlich auf, und seine Augen drängten sich so weit aus den Höhlen heraus, als wollten sie den Stadtrat zermalmen.

Der Stadtrat drehte sich nach dem Tor herum, ängstlich und ärgerlich: es könnte jemand von der Patrouille das Geschrei Kortens gehört haben. Er wartete eine ganze Weile. Es kam aber niemand, und Korten schien sich wieder beruhigt zu haben. Jedenfalls schnitt er manierlich und ohne Heftigkeit die Blätter von den Stauden. Als er den Kopf hob, legte der Stadtrat ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Haben Sie sich auch schon mit anderen Kameraden über Ihren Zustand ausgesprochen?«

»Es sind keine Zustände.«

»Hören Sie, Kamerad; ich denke, nur so dürfen wir uns hier nennen: Man kann wohl ein zerbrochenes Trinkglas durch ein anderes ersetzen, das im Material, in der Form und dem Fassungsvermögen dem zerbrochenen durchaus gleichwertig ist. Aber einen Menschen, wenn man den zerbricht . . . oder er womöglich mit eigenen Händen sich, der ist durch kein zweites, gleichwertiges Exemplar zu ersetzen. In keinem Sinn aller der vielen Dinge, die das Einmalige eines Menschen ausmachen.«

»Ich habe meinem Schwiegervater die Kehle abgeschnitten, das kann doch nicht der alte Ich-bin gewesen sein, das war der Ersatz, den ich aus mir gemacht habe.«

»Geben Sie es endlich auf, darüber nachzudenken, ob wir uns wirklich zeitlebens so benommen haben, daß man heute von uns sagen darf: Staatsfeind Nummer 1. Wir werden hier, in diesem Zwinger, nie dahinterkommen, auf Grund welcher Tatbestände solch ein Verdammungs- und Entwertungsurteil über uns gefällt werden konnte. Ich will nicht sagen, 348 daß wir dieses sonderbare Kennzeichen mit Würde tragen sollen, aber auch nicht anders als einen in der Garderobe vertauschten Paletot, und uns in dieser Umhüllung einen Bären vorstellen, einen, der zu Dudelsack und Trommel auf den Märkten tanzt. In meiner Kindheit waren tanzende Bären eine Sensation für die Hausmägde und Kinder der Kleinstadt. Heute drehn sich die Kinder kaum noch zehn Grad um ihre Achse, wenn der Bär auf den Hinterbeinen wackelt, und verachten den Mann, der ihm das Tanzen beigebracht hat. Genau so unzeitgemäß ist die Maskerade, zu der man uns gezwungen hat. Würden wir uns aber in die Positur eines unschuldig des Vatermordes angeklagten Generalfeldmarschalls setzen und Tag und Nacht unsere Unschuld in uns hineinwüten, weil für die Schreie nach außen hin die Maschinengewehrschützen in ständiger Bereitschaft liegen . . . mein Freund, dann bliebe als einziger Ausweg tatsächlich nur die Kugel, die wir so lange herausfordern, bis sie uns trifft.«

Sie hatten inzwischen so viel von dem Grünkohl geschnitten, daß der Stadtrat noch einen neuen Korb aus der Remise holen mußte. Korten schnitt weiter, obwohl der Stadtrat ihm gesagt hatte, daß man das Pensum erledigt habe. Und als er die Mitte des Beetes erreicht hatte, wo der Stadtrat zuletzt gestanden und die Predigt ihm gehalten, sah er das Messer an der Erde liegen. Es hatte eine gebogene Schneide, während das seine gradlinig war. Er wog beide Klingen in der flachen Hand und fand die des Stadtrats auch einige Gramm schwerer.

»Gut . . .«, näselte er vor sich hin, »ich werde ihm mit seinem eigenen Messer den Beweis liefern, daß wir die Mörder und Notzüchter leibhaftig sind. Ich werde es ihm beweisen, wohin unser Lebenslauf jetzt abgelenkt worden ist . . . ich werde es ihm beweisen . . .« Er verbarg das Messer im Rockärmel und hockte sich hin, neben dem Haufen Gemüse, für dessen Abtransport der Korb bestimmt war, den der Stadtrat jetzt endlich brachte.

Korten blieb an der Erde sitzen und machte keinerlei Anstalt, dem Kameraden zu helfen. Er brummelte vor sich hin: »Und die Erde dreht sich doch, aber in die Höhlenzeit zurück.« Und als der Stadtrat sich zum dritten Mal hinuntergebückt hatte und die Blattkronen aufhob, versetzte ihm Korten einen wuchtigen Schlag in das Genick, sprang ihm auf den Rücken und schnitt in das warme Fleisch des Halses hinein, als säbele er eine Kohlpflanze vom Strunk.

Im Schreibzimmer der Kommandantur, die Hände auf dem Rücken mit einer dünnen Stahlkette zusammengebunden, antwortete er, auf die Frage des Sturmführers, aus welchem Grunde er seinen Haftkameraden 349 getötet habe: »Es wollte mir niemand glauben, daß man uns dieses Hoheitszeichen eines abgewerteten Menschen nicht nur zum Spaß um den Hals gehängt hat. Nun weiß auch er, der Ungläubigste von allen, wer ihn ersetzt hat.«

Es geschah mit Korten nichts anderes (er wurde nicht mit Ruten geschlagen und auch auf der Flucht nicht erschossen), als daß man ihn in dem silberbeschlagenen Mercedes-Benz des Lagerkommandanten auf dem schnellsten Wege in die Landesirrenanstalt abschob.

Um Ansteckungen vorzubeugen, wurde den Häftlingen des Lagers, beim nächsten Morgenappell, verkündet, daß die Strafnummern 3903 und 6714 wegen vorzüglicher Führung und sichtbarer Besserung ihren Familien zum Weihnachtsfest zurückgegeben worden seien. 350

 


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