Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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Der erste Teil

»Die nächsten Wahlen werden schlecht. Mit dem deutschen Volk ist das jetzt so wie mit einem Hund, der eine Wunde hat; der kratzt sich eben, dagegen kann man nichts machen, und die Wunde wird immer schlimmer. Ich lerne jetzt Auto fahren, baue mir ein Häuschen bei Ascona und fahre dorthin.«
(Otto Braun, weiland preußischer Ministerpräsident)

»Mein großer Gegenspieler, Reichspräsident von Hindenburg, ist heute fünfundachtzig Jahre alt. Ich aber fühle mich ganz gesund. Mir wird nichts passieren. Ich bin ein Marathonläufer der Geschichte, was ich sage und tue, ist Geschichte . . .«
(Aus einer Wahlrede von Adolf Hitler 1932)

 

I   Teestunde in einem alten Schloß

»Hätte Severing durch seine Polizei kaltblütig Papen und Schleicher verhaften lassen, Hindenburg davon in Kenntnis gesetzt, daß er sich jedem Verfassungsbruch bis zum Äußersten widersetzen werde, mit Generalstreik, bewaffnetem Kampf der Polizei gegen die Reichswehr, vielleicht sogar mit der Erschießung der als Geiseln verhafteten Minister gedroht, so wäre anzunehmen gewesen, daß die Reichsregierung, deren legale Stellung ohnehin nicht ganz sicher war, versucht hätte, zu einem Kompromiß zu gelangen. Auch wenn schließlich die endgültige Niederlage Preußens sicher gewesen wäre, so hätte der tapfere Widerstand, der möglicherweise mit dem Tode Severings besiegelt worden wäre, den Republikanern den Beistand aller Freunde der Freiheit in der ganzen Welt gesichert. Das deutsche Volk aber hatte nie die geringsten Fähigkeiten, sich gegen innere Bedrückung zu verteidigen. Immer wieder kapitulierte es, nachdem es seinem Unwillen Luft gemacht hatte, vor seinen alten, langverehrten Herren. Die Erwartung, daß nach vierzehn Jahren innerer Freiheit das Volk sich erheben würde, um etwas so Unbegreifbares wie seine bürgerlichen Freiheiten zu verteidigen, war eine kindliche Illusion, die nur der hegen konnte, dem die deutsche Geschichte ein Buch mit sieben Siegeln war . . . Es ist sogar fraglich, ob eine Gemeinschaft von Heiligen etwas aus der deutschen Demokratie hätte machen können. Und die Demokratie in Deutschland hatte mit allen anderen, nur nicht mit Heiligen zu tun . . .«

Doktor Grätz legte die Zeitung, aus der er diese rotangestrichene Stelle vorgelesen hatte, beiseite und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Er war in eine Erregung geraten, die man sonst nie an ihm bemerkt hatte, wenn politische Themen zur Sprache kamen. Und erst nach einer ganzen Weile wurde das, was ihn bewegte, endlich Wort: »Wie beschämend, Alma, daß man es sich erst vom Ausland erzählen lassen muß! Dabei hat man von Anfang an doch mitten darin gelebt, las die 10 Tageszeitungen dreier Parteien, um ja genau unterrichtet zu sein, das Radio platzte beinahe von dem Geschrei der künftigen Männer, und aus den Fenstern und von den Dächern hingen von Tag zu Tag immer mehr Hakenkreuzfahnen: kaum noch Schwarzrotgold oder gar Rot. Ja, man wunderte sich schon gar nicht mehr, daß gerade derjenige, von dem man es am allerwenigsten erwartet hätte, zu den Braunen wechselte. Ja . . . es ist eine nichtsnutzige Gleichgültigkeit in uns und um uns gewesen, allen diesen Dingen gegenüber. Und jetzt erschrickt man davor, wird rot vor Scham und möchte es nicht wahrhaben wollen, wenn es uns ein fremder Beobachter schwarz auf weiß serviert.«

»Ich möchte das Blatt meinem Mann zu lesen geben«, sagte Alma, die Frau des Berliner Stadtrats, bei der Doktor Grätz zu dem seit Jahren schon so üblichen Mittwochstee war. Heute allerdings nur er allein, was ihn ein wenig unsicher machte.

Alma machte jetzt auch eine Pause und sprach nur mit Bewegungen der zusammengepreßten Lippen. Plötzlich warf sie den Kopf hoch, schüttelte ihn heftig und sagte mit Schärfe: »Nein, wir wollen ihm diese Zeitung besser nicht geben. Er wird höchstens die drei ersten Zeilen lesen und dann gähnen. Ich nehme an, Sie haben eine lohnendere Verwendung für diese erschütternden Nachrichten.«

»Ja . . . der gute Mann hat schon immer gegähnt, wenn unsere Tischgespräche anfingen, politisch zu werden. Dabei hielt er sich doch für eine Person, die in dieser gottserbärmlichen Wirrnis das Gras wachsen hören wollte.«

»Sie vergessen, Doktor, daß er in erster Linie Verwaltungsbeamter ist und daß die tausenderlei Bewegungen in diesem Amt ihn auffressen. Glauben Sie mir: Wir leben hier schon seit langem nicht viel anders als Tischnachbarn in einer Fremdenpension.«

»Ich will jetzt von dem ganz Privaten absehen, das für Sie in den letzten Zeiten sich gewiß nicht immer sehr erfreulich abgespielt hat. Aber . . . er ist doch in einem ganz verpflichtenden Sinne der politische Repräsentant einer großen Partei, die den ersten Reichspräsidenten gestellt hat. Die allerdings auch das Gewissen sich mit einem Noske und Bauer belastet hat. Von den vielen anderen Schädlingen ganz zu schweigen. Die Existenz dieser Partei, für die sich äußerst ehrenwerte Männer aufgeopfert haben, in oft sehr windigen Zeiten, steht jetzt auf dem Spiel, und zwar so entscheidend wie noch nie zuvor. Und damit, das möchte ich besonders betonen, weil es auch Sie angeht, die Existenz des Stadtrats. Es wird sehr gesiebt werden; daran wird Ihr Mann nicht 11 vorübergehn können mit seinem berühmten Achselzucken: Na, wenn schon!«

»O nein; er rechnet durchaus damit, daß man ihn übernehmen wird, falls die große Veränderung so vor sich gehen sollte, daß von der SPD nur im geheimen der Name übrigbleibt. Wir sprachen allerdings selten darüber, was alles noch geschehen kann. Es ist ihm nicht angenehm, wenn man diese Dinge berührt. Aber einmal ließ er sich doch etwas ausführlicher aus und sagte, auf meine direkte Frage, der er nicht mehr ausweichen konnte, denn es war auch der Doktor Steg noch anwesend: ›Ich habe die Nationalsozialisten in meinem Arbeitsbezirk nicht schlechter behandelt, aber auch nicht besser, als ich mit den anderen Leuten umgegangen bin. Ich habe keine Feinde, auf keiner Seite. Und wenn, dann nur bei meinen Parteigenossen, die den Hals nie voll genug bekommen konnten. Während die anderen zu mir kamen und höflichst baten, hat diese Gesellschaft gefordert. Oft so unverschämt, daß ich geradezu grob werden mußte. Deine Angst also, ich könnte bei einer reinen Nazi-Regierung, in einem totalitären Staat sozusagen, den Posten verlieren, ist völlig unbegründet. Ich werde ihn behalten, weil die Fachleute meiner Art auf den Stempelstellen noch nicht herumliegen und auch nie werden. Außerdem, wenn es wider Erwarten zu einem Abbau kommen sollte, bleibt mir ja immer noch die Pension, mindestens drei Viertel des gegenwärtigen Gehaltes. Ich bin der erste in Groß-Berlin vom ehemaligen Kaiser bestätigte Stadtrat. Ich bin seit 1907 im Kommunaldienst. Meine Personalakten sind sauber. Ich habe nie eine schlechte Presse gehabt. Vielleicht wird man mich ein wenig mehr nach innen verschieben. An das unauffällige Leben bin ich gewöhnt. Das Gehalt aber, wie gesagt, das bleibt. Wir werden uns bei dieser Summe in keinem Fall einzuschränken brauchen. Wir werden sogar mehr davon haben, weil die großen Gesellschaften aufhören. Und die Zeit, die wir für manche Maskerade haben aufwenden müssen, wird uns zugute kommen. Es wird wieder ein Heim vorhanden sein . . .‹ – Und damit war das Gespräch und die ganze Sache für ihn erledigt.«

»Wann hatten Sie dieses Gespräch, Alma?«

»Gott . . . das wird gewesen sein . . . warten Sie mal . . . ja, kurz nach dem 30. Januar. Als die Unruhe hier besonders groß war. Von allen Ecken und Kanten kamen die Leute gelaufen und wollten sich einen Rat holen. Von mir. Denn mein Mann war ja schon längst nicht mehr für jemanden aus den Anstalten, vom Gutshof oder aus der alten Bekanntschaft zu sprechen. Früh um sieben oft holte ihn das Auto ab, und um neun oder 12 zehn in der Nacht brachte es ihn wieder zurück. Und sonntags . . . ja, das wissen Sie ja, war meist Besuch da, oder wir fuhren ein Stück in die Mark hinaus. – Und was sollte ich den Leuten sagen? Sie auch so angähnen wie er die engeren Freunde angegähnt hat, wenn sie ihn mal glücklich erwischt hatten und von ihm nun wissen wollten, wie er, kraft seiner guten Informationen, die Lage sähe? Wenn sie ihn frugen, was man zu tun habe, um sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen und wohin? Oder ob man es einfach darauf ankommen lassen solle und auch so tun, als stelle man sich auf den Boden der Tatsachen? – Hören Sie, Doktor, ich habe ihn nicht mehr in der Hand. Es ist schon eine sehr lange Zeit her, daß ich ihn in einem wenigen noch beeinflussen konnte. Abgeglitten! Gleichgültig geworden! Und schließlich ist man ja auch nicht mehr jung genug, um alle Kräfte bis zum letzten ausspielen zu lassen. Vielleicht sähe es anders aus, wenn Kinder da wären . . .«

»Ja . . . Alma . . . die Kinder haben euch gefehlt. Von Anfang an.«

»Ich muß heute aber sagen: Gott sei Dank, daß keine sind.«

»Das ist alles sehr bitter, sehr hoffnungslos gesprochen. Sie beteiligen sich also nicht an dem Optimismus, mit dem jetzt zu leben Ihr Mann – und er gewiß nicht allein – für klug und weise und richtig hält . . .«

Sie spielte nervös mit der Serviette. Ihr fast blutleeres Gesicht drückte schon mehr als nur eine leise Trauer aus. Die Haut hatte die trockene Blässe des Zerfalls. Und nur das rötlich-blonde Haar besaß noch den natürlichen Glanz und gab, mit der feingezeichneten Nase zusammen, dem Kopf einen pagenhaften Ausdruck, anzusehen wie ein Porträt, das aus einem florentinischen Meisterbild der Renaissance herausgeschnitten wurde. Aber wenn ein Lächeln über die Züge flog, wenn die blaßblauen Augen sich verkleinerten und dunkler wurden und die Winkel des geschweiften Mundes sich öffneten . . . dann hatte die strenge Form keinen Raum mehr, dafür war aber dann etwas Kapriziöses da, das mit der feingedrechselten Figur harmonierte; es beherrschte den totalen Ausdruck und machte den ganzen Menschen um zehn Jahre jünger. Dieses Aussehen hatte Doktor Grätz in der Stunde heute noch nicht wahrgenommen.

Sie sah ihn jetzt groß an, mit einer inneren und äußeren Spannung, als solle von der Frage, die sie jetzt an ihn richtete, eine große Entscheidung abhängen: »Sie glauben nicht daran, Doktor, daß der Hitler auch diesmal noch an der Ausübung der Diktatur verhindert wird? Sie wissen ja, welche Kräfte ich meine, die sich ihm in den Weg stellen könnten, wenn es ihn nach der totalen Macht gelüsten sollte . . .?« 13

»Ich beanspruche nicht, daß Sie meinem Glauben ein Gewicht beimessen. Ich vermag Ihnen aber nichts anderes zu sagen als dies: Die große Schlacht ist am 30. Januar schon entschieden gewesen. Und die vierzehn Tage, die wir seitdem hinter uns haben, bestätigen vollauf meine Mutmaßungen. Jetzt ist eine unverrückbare Gewißheit daraus geworden. Oder glauben Sie womöglich immer noch an den Verfassungseid des Reichspräsidenten? Vielleicht erinnern Sie sich an das Wort von Groener, das hier einmal kolportiert wurde: ›Treue? Die werden Sie im moralischen Abc des Alten Herrn wohl nicht finden!‹ Nein, der halst dem deutschen Volk auch diesen Mann auf, den er zweimal die Treppe hinuntergeworfen hat.«

»Mit klaren und logisch arbeitenden Gedanken wird man wohl auch zu keinem anderen Resultat kommen. Dennoch ist es schrecklich, sich das Zukünftige, auch wenn die Herrschaft nur ein paar Jahre dauern sollte, vorzustellen. Man ist ja so grauenhaft seßhaft in der Welt geworden, die man sich aufgebaut hat weit weg von allen Brennpunkten der politischen Bewegungen und Geschehnisse, als würde man auf einer Insel im Meer leben.«

»In diesem Seßhaftsein-Wollen in einer ganz privaten Welt, von der man glaubt, sie sei so vollkommen, daß man damit jeder unfreiwilligen Begegnung mit dem noch Unvollkommenen und Unangenehmen enthoben ist, ja, darin liegt die, man könnte beinahe sagen ausschließliche, Schuld des Bürgertums begründet. Alle diese Menschen haben über ihre Welt, über ihre ganz private, nicht hinaussehen wollen. Und vielleicht konnten sie es auch gar nicht mehr. Weil sie nicht mehr die absolute Freiheit des Sehens besaßen, selbst in ihren eigenen vier Wänden nicht. Wie wäre es sonst anders möglich, daß gerade die Söhne und Töchter aus diesen Kreisen der Naziotie das wertvollste Material lieferten?!«

»Im ungefähren mögen Sie recht haben, denn ein Stück von solch einer Welt sind ja auch hier das Schloß und der Park. Es war alles verwildert, als wir hier einzogen. Was Sie jetzt geordnet sehen und wohnlich, ist ein großer Teil vom Inhalt meiner letzten zehn Lebensjahre. Jahre, die für eine Frau in jedem Fall entscheidend sind. Das Schicksal war Herr der Entscheidung und lenkte sie in eine Bahn, die mit dem Eigentlichen einer Frau nichts mehr zu tun hat. Und dieses Stück von meinem Ich, von meinem Blut durchädert, soll jetzt spurlos abgebrochen werden? – Ich will mich nicht versündigen, Doktor. Es sind im Kreis unserer Bekanntschaft jetzt schon Menschen, die ihr ganzes bisher gelebtes privates Leben über Nacht haben hinopfern müssen. Und es sind schon 14 viele wertvolle Menschen in das Tierische hinuntergestoßen worden, mißhandelt an Leib und Seele und dem Unrat gleichgemacht. Und es läuft mancher von unseren Freunden herum – das Gehirn offen an der Luft, und jeder schmutzige Finger darf hineinbohren und sich rühmen, eine vaterländische Tat damit vollzogen zu haben.

Wenn ich von hier weggehn muß . . . es wird gewiß ein Schmerz sein. Und wenn ich ganz bettelarm werden sollte: es wird nur ein geringer und ein Augenblicks-Schmerz sein. Ich hänge nicht an Besitz. Und diese uralten Bäume und die Dämmerung unter den Bäumen sind mir ja auch nur geliehen gewesen. – Aber das, Doktor, was Sie nicht sehen, was nur ich mit meinen eigenen Augen erfahren und erlebt habe unter diesen Bäumen . . . das ist mein Eigentum, ein ehrlich erworbenes und erkämpftes. Die Abtrennung davon zu überwinden . . . das wird sehr schwer sein. Davor habe ich Angst. Hinzu kommt auch noch die andere Angst. Es sind ein paar Freunde, die viel weniger exponiert dastehn als mein Mann. Der eine hat in seinem ganzen Leben nichts anderes getan als gemalt. Der andere hat nur geschrieben. Und der dritte hat sich aufgerieben für seine Patienten. Alle drei aber sind fest fundiert in ihrer Gesinnung. Denn wenn sie sich hätten verändern wollen: Gelegenheit dazu ist ihnen häufig genug geboten worden. Sie haben das mit Fleiß übersehen. Und jede gebotene Gelegenheit hat sie nur noch härter den Dingen gegenüber gemacht, die sie schon vorher verachteten. Diese Freunde werden die ersten sein, die geopfert werden, wenn mein Mann bleiben darf in seinem Amt. Die Konkurrenz liegt schon auf der Lauer und kann die Zeit, in die lang ersehnte Position einzurücken, kaum noch abwarten. Ich habe dem Maler geraten, er soll jetzt schon gehn, nicht erst im allerletzten Augenblick. Es leben in Schweden Menschen – er war ja auch schon ein paar Sommer dort zu Gast –, die ihn gern für die Dauer aufnehmen würden. Nein . . . er will bleiben. Er sagte mir: ›Es werden viele weglaufen und draußen vielleicht auch wirken können, unbehindert von einem jeglichen Ausnahmegesetz. Aber . . . es müssen auch ebensoviele bleiben und inmitten der Ausgeschlossenen gegen die Ausnahmegesetze wirken. Zu denen will und muß ich gehören . . .‹ – Ich weiß, daß er sich von diesem Entschluß nicht abbringen lassen wird. Er glaubt, daß sein Weg der richtigere sei. Und in diesem felsenfesten Glauben liegt vielleicht auch die Erfüllung. Wenn nicht . . . mein Gott, wohin sind wir geraten!«

»Ich kenne Löffler, und auch nicht erst seit den Tagen, da man sich hier nach langen Jahren wieder traf. Ich war Student und er Schüler von 15 Skarbina. Wir wohnten mit Gustav Landauer Zimmer an Zimmer in einer Pension, im Viertel Hallesches Tor. Ich besitze eins seiner besten Bilder. Sie haben das Bild vor drei Jahren in der Kollektiv-Ausstellung gesehen . . . die Bergarbeiter-Szene. Er hat nicht von ungefähr solche Motive für seine Malerei gewählt. Er ist in der Gestaltung seiner Kunstwerke ein politischer Mensch. Und gewiß kann er gar nicht anders handeln, weil er glaubt, so und nicht anders handeln zu müssen. Er ist von einer grausamen Härte gegen sich. Er wird bleiben. Nur, glaube ich, wird das aktive Wirken der Aufrechten im ferneren in jüngeren und weniger belasteten Händen liegen müssen. Es werden Menschen sein müssen, die an Besitz nichts hinter sich haben – ich meine hier nicht die irdischen Güter –, alles aber noch vor sich. Und es werden nicht in einem ganz speziellen und engen Sinn Kommunisten, Sozialisten, Pazifisten, Juden, Christen . . . es werden Kämpfer sein. Anonyme Soldaten der großen unterirdischen Armee. Dazu reicht es bei unserem Maler nicht mehr, und wahrscheinlich auch bei uns allen nicht. Es reicht körperlich nicht, und es wird auch im Geistigen seine Schwierigkeiten haben. Er und wir anderen alle werden sein und bleiben hellhörige Betrachter. Wir werden mit den Kämpfern, ohne viel zu fragen, was sie im geheimen treiben, in Verbindung sein und mit ihnen sympathisieren. Und eine offene Hand und oft auch ein Dach für sie haben müssen. Und das ist schon sehr viel. Denn es werden nur wenige sein, die ihnen Gesellschaft leisten im Denken und ihnen nacheifern.«

»Und Sie . . . lieber Doktor . . .? Ich meine jetzt den Beruf.«

»Was Sie vorhin von Ihren Bäumen sagten, Alma, mit den gleichen Worten müßte ich auch von den Kranken sprechen, die in meine Obhut gegeben sind. Eine falsche Windrichtung . . . und die Arbeit von Jahrzehnten ist zerstört. Jedenfalls bleibe ich so lange, bis ich keine Macht mehr über die Gewalt habe, die mich in meinem Werk behindert.«

»Darf ich Ihnen zugießen? Und wollen Sie nicht auch das Spritzgebackene probieren? Vielleicht ist es heute tatsächlich das letzte Mal, daß wird hier in diesem Spukschloß zusammensitzen. Sie haben die Julie von Voß heute gerade über sich. Sonst immer hing sie Ihnen gegenüber. Und wenn man Ihre Augen sah, oft weit verloren in der Betrachtung des Gesichts . . . dann hätte man glauben müssen, daß das Schicksal der Unglückseligen Sie nicht nur im Psychoanalytischen stark beschäftigte.«

»Mich . . .? Nein. Sie aber, Alma, hatten doch vor, einen Roman rundherum um dieses seltsame Frauenwesen zu schreiben. Schneeweiß der 16 Charakter und die Art der Liebenswerten und Jungverstorbenen. Und jener dritte Friedrich, den man im Volksmund immer noch als den Mörder betrachtet, pechschwarz. So, wie sich das in einem Tendenzroman gehört. Sie sind davon abgekommen?«

»Ich hatte angefangen und dem Doktor Steg auch schon ein Kapitel vorgelesen. Er war nicht entzückt. Er meinte, wenn man schon schreibt, um ein Stück von seinem sonst nicht sichtbaren Ich in das Geschriebene hineinzulegen, dann soll man nicht zu den Verwesten hinuntersteigen. Ich fand, obwohl es mir zuerst sehr grob erschien, daß er eigentlich recht hatte. Und darauf habe ich mir das Gesicht einer alten Frau angesehen, die hier auf dem Gutshof das Geflügel versorgt . . . Ein Mensch mit einer solchen grauenhaften Stille um sich und in sich, daß er schon nicht mehr weitab ist vom Gespenstischen. In manchem, mit unseren Augen gesehen, direkt entsetzlich. Und doch immer noch eine Frau. Ich habe von ihr mehr als nur das typisch Schicksalhafte einer proletarischen Mutter erfahren. Sie ist jetzt fünfundsechzig Jahre. Sie hat nie etwas anderes erlebt als zu dienen, grobe Worte zu hören, getreten zu werden, wie man an einem Tier böse Launen ausläßt, und stillzuhalten. Drei ihrer Söhne hat der Krieg gefressen, einen hat die Maschine zerrissen, und den letzten und jüngsten haben vor vier Wochen Stahlruten und Stiefelabsätze bis zur Unkenntlichkeit zermalmt. Glauben Sie, daß es jetzt für mich eine lohnendere Aufgabe sein könnte, den Roman dieser proletarischen Mutter zu schreiben? Der Doktor Steg ermunterte mich dazu. Und es wird wohl auch so sein, daß ich die Zeit dazu haben werde, zu schreiben.«

»Was ich dazu sage, ist: daß ich Ihnen die Nerven wünsche, nichts wegzulassen. Auch wenn man manches von diesen entsetzlich schwarzen Dingen nicht mehr laut aussagen und an gewisse Dinge überhaupt nicht rühren darf. Sie werden vielleicht ein paar Umwege machen müssen. Das Ziel aber, das muß groß und offen daliegen.«

»Ich werde aber auch nichts hinzusetzen, was sich außerhalb der Welt dieser Frau bewegt, eines Zweckes wegen. Ich werde mir über den schrecklichen Tod ihres letzten Sohnes die gleichen Gedanken zu eigen machen, die diese Mutter bewegt haben. Sie sagte zu mir: es sei vom Schicksal so bestimmt gewesen, daß er diesen Tod und keinen anderen sterben mußte. Und von ihren Lippen ist kein böses Wort über die Mörder gefallen.«

»Dann werden Sie, Alma, die Anklage erheben. Und die Mörder treffen. So, wie sie in Wahrheit schuldig geworden sind und eine Abstrafung verdient haben. Verstehen Sie mich recht: Sie haben wahr zu machen 17 den Fluch der Mutter. Den Fluch, für den die alte Frau nicht mehr die Kraft hatte, ihn hinauszuschreien.«

»Es war kein Fluch in ihr. Als man ihr die schreckliche Nachricht brachte, wischte sie sich nicht einmal die Augen.«

»Haben Sie ihren Schlaf behorcht? Haben Sie in ihre Träume hineingeleuchtet? Haben Sie verstanden, was die Lippen aussagten, wenn sie ohne Wort sich bewegten?«

»Sie verlangen außermenschliche Kräfte von mir, Doktor!«

Und wieder verlor sich ihr Blick, obwohl die Augen auf ihn gerichtet waren. Und in diesen scheinbar abwesenden Blick hinein zielte seine Antwort: »Was der Doktor Steg in bezug auf die Julie von Voß mit der Verwesung meinte, das ist Ihnen ja klargeworden, denn sonst wären Sie von der Episode Voß nicht so schnell abgekommen. Ebenso klar aber auch müßte es Ihnen werden, daß Sie, wenn Sie schon schreiben wollen, nicht dazu da sind, das den Menschen zugewendete Gesicht einer alten Frau zu fotografieren, sondern aus ihrem Inwendigen und Äußeren zusammen die Welt aufzubauen, die in Wirklichkeit da ist und die mit dem Schicksal dieser armen alten Frau auch uns bewegt. Nicht das Einzelschicksal, sondern unser aller Schicksal.«

Sie überlegte eine ganze Zeit, ehe sie antwortete. Die Spieluhr plinkte eine traurige Melodie aus dem Rokoko. In den Kastanien draußen, deren schwarzverregnete Zweige bis auf den Rasen herunterhingen, war ein stoßweises Gesause, wie ein dunkler, einförmiger Ton aus einer großen Orgelpfeife.

»Also . . . unmittelbare Gegenwart verlangen Sie? Und davon wollte ich doch gerade loskommen.«

Jetzt hielt Doktor Grätz eine Weile mit der Antwort zurück, im Ohr das donnerdunkle Rauschen der alten Bäume. Und um sein Nachdenken zu verbergen, zündete er sich eine Zigarette an. Und dann erst, als er sich wieder gesammelt hatte, antwortete er: »Erst wenn Sie es überwunden haben werden, können Sie versuchen, davon loszukommen.«

»Politisch sein, meinen Sie, das wäre der in Zukunft mir bestimmte Weg?«

Und wieder schwiegen sie, und jeder sah in einer anderen Richtung nach draußen. Der Regen schlug an die Scheiben. Alma nahm eine Droge aus der kleinen runden Dose und schluckte das Medikament hinunter. Und es war auch schon eine Spur von Müdigkeit in der Stimme von Doktor Grätz, als er über die ringlose Hand von Alma zartsam mit seinen Fingerspitzen strich: »Es muß alles zu Ende gelebt werden; auch 18 das Entsetzliche. Wenn Sie sich dazu entschließen können, werden wir den Zustand, den wir heute so hassenswert finden, daß wir uns scheinbar keinen Rat mehr wissen, auch überwinden. Und vor uns selber dastehn als die Gerechtfertigten. Das ist das Politische, verstehn Sie?«

Er hob ihre Hand an seine Lippen, und dann stand er auf. Im Flur draußen ging die Klingel. Alma bat ihn, noch einen Augenblick zu warten. Er setzte sich aber nicht und überlegte, wer jetzt wohl käme. Wenn es der Stadtrat wäre, vielleicht spräche er heute doch ein wenig anders als noch vor vier Wochen.

Als das Mädchen geklopft und gemeldet hatte, trat der Ingenieur ein, der auf Logierbesuch war. Ein Mann aus dem Kohlenpott, der bei Thyssen und im Bochumer Bezirk sich jahrelang umgesehen und Kenntnisse gesammelt, der aber über den Maschinen, die er konstruiert, installiert und in Betrieb gesetzt hatte, die Menschen vergaß, die diese Maschinen bedienten. Er sah sie nur an als ein Teil dieser Maschinen. Oft als den schlechteren. Ihn zu verbessern, dazu sei der Staat da. Einer aber, der nicht solch ein Versager ist wie der in Weimar begründete.

Doktor Grätz stand dem Ingenieur, ganz abgesehen von den politischen Ansichten, die dieser Mann immer in einer herausfordernden Art äußerte, nicht sympathisch gegenüber. Was der Ingenieur aber nicht merkte, oder wenigstens tat er so, als bewege es ihn nicht. Er hatte das Braunhemd zwar noch nicht an, er kokettierte jedoch damit. Er spekulierte auf einen leitenden Posten in den Städtischen Gaswerken und war gerissen genug, zu wissen, mit wessen Hilfe er sich in den sicheren Hafen einer Lebensversorgung hineinbugsieren konnte. Sein Gesicht paßte ausgezeichnet zu der Kappe mit dem Sturmriemen. Nur die äußerste Brutalität für Stahlruten und Boxhiebe, die besaß er nicht. Er war im Politischen ein unklarer Kopf, ein Nachbeter und Nachläufer. Ihm imponierten das turbulente, von nationalen und sozialen Phrasen strotzende Geschrei und die ausgestreckte Hand des größten Schreiers nach der Macht.

Doktor Grätz mußte sich wieder setzen, wollte er der Hausfrau gegenüber nicht unhöflich erscheinen. Er konnte dem Ingenieur auch die Zigarette nicht abschlagen, als der ihm das Etui reichte. Aber er wäre beinahe saugrob geworden, als der Ingenieur ihn frug: »Haben Sie nicht auch den Eindruck, Herr Grätz, daß die Kommune jetzt überhaupt nicht mehr herauskriecht aus den Mauselöchern?«

»So viel Katzen gibt es nicht, Herr Oberingenieur. Und so viel Gift läßt sich wohl nicht auftreiben, um das alles unschädlich zu machen, von 19 dem Sie glauben, es sei nur in Ängsten noch vorhanden. Warten Sie doch mal erst ab, was der übernächste Sonntag bringen wird.«

»Nicht eine halbe Million Stimmen geben wir diesmal den Marxisten. Nicht eine Viertelmillion.«

»Sie haben der Einfachheit halber auch die SPD den marxistischen Mäusen zugerechnet?«

»Natürlich, die ganze sogenannte Linke. Das ist bei uns Jacke wie Hose.«

»Dann werden Sie ihre halbe oder viertel Million bestimmt korrigieren müssen, mein Herr!«

»Sie meinen reduzieren? Das soll gerne geschehen. Es freut mich, daß Sie jetzt endlich die Lage richtig einschätzen. Vor vierzehn Tagen waren Sie optimistischer in bezug auf den Erfolg Ihrer Freunde. Fast genauso wie der Herr Stadtrat. Ich sprach ihn übrigens heute mittag im Ratskeller. Er sagte, ohne daß ich ihn eigentlich danach fragte, er sei nie ein Partei-Sozialist gewesen. Keinesfalls ein Bonze.«

»Sondern?«

»Arbeiter gegen Entgelt.«

»Das ist allerdings sehr stadträtlich ausgedrückt. Auf diese fadenscheinige Diplomatie aber fallen heute die Leute nicht mehr herein, die künftighin Stellen zu vergeben haben.«

»Die Generalreinigung wird sich nicht auf Fachleute erstrecken.«

»Das ist neu. Das ist ein mit Absicht hochgelassener Ballon, der rechtzeitig platzen wird.«

»Hören Sie, lieber Grätz, vielleicht schon zum hundertsten Mal von mir: Es kommt uns in der Hauptsache auf die Austreibung der Juden an. Juden sind nie Fachleute gewesen. Und wenn, dann nur für Wucherzinsen und alte Hosen.«

»Ich weiß . . . ich weiß . . . Herr Oberingenieur. Alle Juden, die speziell in Ihrem Fach Großes und Bahnbrechendes geleistet haben, haben nur das Geld dafür mit Wucherzinsen ausgeliehen.«

»Ich meine, die Ausräucherung der Hebräerschaft müßte doch gerade Ihnen sehr sympathisch sein.«

»Das schließen Sie daraus, daß ich eine jüdische Frau habe?«

»Donnerkiel . . . das sieht man Ihrer Frau Gemahlin aber gar nicht an, Herr Grätz. Ich hätte hundert zu eins gewettet, daß sie zu uns gehört. Blond . . .griechische Nase . . .«

Frau Alma hatte ihn schon ein paarmal angestoßen. Sie fühlte sich jetzt, als wäre sie nichts anderes mehr als ein in Krämpfen sich windender 20 Komplex aus Scham und Schmerz. Sie suchte den Blick von Doktor Grätz.

Er reagierte sofort und lächelte. Und gab dem Ingenieur die einzig mögliche Antwort: »Ich bin allerdings immer der Meinung gewesen, daß Sie nicht zu uns gehören.«

»Wie ist das aufzufassen? Doch nicht etwa in politischer Hinsicht?«

»Ich wundere mich über Ihre Weltfremdheit.«

»Gott, so viel herumgereist wie Sie, allein zehn Jahre lang als gutbezahlter Schiffsarzt, bin ich natürlich nicht. Als Ingenieur wäre es mir natürlich ohne weiteres möglich gewesen. Verstehns? Aber ich begnügte mich mit Deutschland. Und das hat mir bislang auch alles gegeben, was ich brauchte, um ein echter deutscher Mann zu sein. Und bald, sehr bald, wird dieses Deutschland ja auch noch ein Stück weiter in die weite Welt hineinreichen. Lassen Sie es erst mal richtig erwachen. Ich las in einer Zeitung neulich: Eigentlich ist Deutschland schon mit Barbarossa schlafen gegangen. Und im Schlaf hat es dieser Bazillus der Zersetzung überfallen.«

»Bist du vorhin in einer Versammlung gewesen, Reinhold?« frug jetzt Alma. »Mir scheint nämlich, daß sich das Mühlrad in deinem Kopf immer noch dreht. Und davon bist du wahrscheinlich auch so überwach, daß die Gespenster schon Fangball mit dir spielen.«

»Das war heute bloß eine Vorversammlung. Eine öffentliche Generalprobe, wie Kamerad Goebbels sehr richtig sagte. Morgen spricht der Führer im Sportpalast. Hätten Sie Lust mitzugehn, Herr Grätz? Großartiges Theater, sage ich Ihnen.«

»Ich gehe morgen in das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Dort wird der zweite Teil von Goethes Faust gegeben.«

»Der Faust wird, wenn es hochkommt, zu fünfhundert Menschen sprechen. Und diese Sorte kommt für unsere Bewegung gar nicht in Betracht. Die haben ihre Zeit verschlafen. Aber Adolf Hitler wird zu 15 000 Menschen sprechen. Und 60 Millionen werden ihn aus dem Lautsprecher heraus hören. Die sind erwacht. Die haben ihre Zeit nicht verschlafen. Ich finde: in ein Theater soll man nur gehn zwischen dem vierzehnten und achtzehnten Lebensjahr, und dann wieder, wenn man sechzig ist, oder wenn man sonst nichts mit sich anzufangen weiß. Ausnahmsweise auch, wenn man eine Braut hat, die ein bißchen spazieren geführt werden will. Aber wenn Sie sehen wollen, wie ein richtiges und zeitgemäßes Wort auf die Massen wirkt, wenn es von einem ungewöhnlichen Menschen gesprochen wird, dann müssen Sie schon, auch 21 wenn Sie nicht zu allem ja und amen sagen mögen, den Führer hören.«

Doktor Grätz hatte sich erhoben. Und als auch der Ingenieur seinen Stuhl losließ und an der Tür die beiden Männer sich gegenüberstanden, da sagte der Doktor: »Auf die Wirkung eines Wortes kommt es auch mir, morgen im Faust, an. Und wenn es nur hundert sind, die im Parkett sitzen und es begreifen.«

»Ach so, Sie meinen wahrscheinlich die komische Stelle: ›Wer ruft mir . . .‹?«

»Das ist Faust Erster Teil, Herr Oberingenieur. In Teil zwei aber heißt es:

› . . . und kann ich, wie ich bat,
mich unumschränkt in diesem Reiche schauen,
so küß ich, bin ich gleich von Haus ein Demokrat,
dir doch, Tyrann, voll Dankbarkeit die Klauen.‹«

»Damit kann ich nichts anfangen, Herr Grätz. Das ist alter, abgestandener Kohl. Mich wundert nur, daß Sie erst jetzt die Demokratie richtig einschätzen. Es wäre gerade für Sie viel aufschlußreicher, Sie kämen morgen mit mir. Dort gibt es auch Faust. Eine geballte. Die zerschmettert den letzten Gedankenrest der Demokratie.« –

Alma ging mit Doktor Grätz noch ein Stück durch den Park. Der Regen hatte aufgehört. Die Wolken flogen höher. Aus den Fetzen brachen in Pausen Sterne durch.

»Sie nehmen den Mann immer noch zu ernst, Doktor. Im Grunde ist er doch nur ein großes, ungezogenes Kind. Die Bewegung betrachtet er als eine neue Art von Verein. Seit seinem achtzehnten Jahr schon hat er Vereinen angehört, irgendwelchen. Erst war es die Verbindung, dann kamen die Turner, nachdem ging er zu den Sängern, bald war er im Kegelklub, bald im Schützenverein. Soldat ist er zwar auch gewesen, den Krieg aber hat er nicht mitmachen müssen, dauernd war er reklamiert. Und jetzt hat er mit Schrecken gemerkt, daß ihm zu einem Frontsoldaten die entsprechenden Ordensbänder fehlen. Vielleicht will er sie sich nachträglich bei der SA verdienen.«

»Ohne daß er Menschen auf eine bestialische Art totschlägt, wohl kaum. Steckt er denn überhaupt schon in Uniform?«

»Er macht Dienst als Amtswalter. Gaskurse hält er ab. Und Fechtstunden gibt er wohl auch.« 22

»Lassen wir ihn, ob gefährlich oder harmlos, ob Kralle oder bloß gesträubte Mähne! Jedenfalls machen er und alle seinesgleichen das Raubtier erst komplett. – Aber Sie . . . Alma . . . wollen Sie nicht auch ein wenig an sich denken? Ich fürchte, die rauhen Tage, die jetzt kommen, werden für Ihre Nerven sehr schädlich sein. Packen Sie das Notwendigste für sechs oder acht Wochen in den Koffer und fahren Sie nach der Schweiz. Warten Sie dort ab, bis die langen Messer stumpf geworden sind. Der Übergang in das Nachher wird Ihnen dann auch leichter fallen.«

»Und mein Mann?«

»Sie sagten ja, daß er darauf schwört, die Position zu halten. Vielleicht hat er entsprechende Informationen oder gar schon Zusicherungen. Alles ist möglich. Ich kenne zwei Judenabkömmlinge, die spielen eine große Rolle in der Bewegung.«

»Wenn Sie glauben, daß ich fahren müßte . . .weshalb aber lassen Sie Anni hier?«

»Sie wissen doch: Anni ist keine schreckhafte Natur und auch sonst sehr robust. Außerdem wird sie hier sehr notwendig sein, glaube ich. Ich allein werde wohl nicht alles bewältigen können.«

»Sie glauben wirklich, daß es so böse werden wird?«

»Vielleicht bin ich in meinem Glauben noch zu optimistisch, Alma. Fahren Sie . . . ruhen Sie sich aus und kommen Sie mit frischen Nerven wieder.«

»Ich werde es mir überlegen und Ihnen Donnerstag sagen, wozu ich mich entschlossen habe. Sie kommen Donnerstag doch und Anni sicher auch? Doktor Steg hat schon fest zugesagt. Gestern übrigens war seine Frau hier. Sie fürchtet das Schlimmste von einer gewissen Ecke her für ihren Mann. Im Amt hat er nur Feinde: Alle sind seit Jahr und Tag schon braun.«

»Wenn ich noch funktionieren sollte, Alma . . . natürlich komme ich. Und mit Robert Steg kann man sich immerhin aussprechen. Aber im Amt . . . das ist jetzt eine mehr skandalöse als nur unerquickliche Situation für ihn. Um den Hinauswurf, heute oder morgen, wird er wohl nicht herumkommen. Ihr Mann, der Herr Stadtrat, hat einen groben Fehler begangen, daß er dem Steg nicht einen anderen Direktor gegeben hat, als es noch Zeit war.«

»Ich wußte es von Anfang an, daß es ein Fehler war, diesen rabiaten Deutschtümler auf einen so wichtigen Posten zu setzen.«

»Ach, Alma, das war nur einer von vielen Fehlern. Jetzt kommen sie alle zum Vorschein. Aber Ihr Mann ist es ja nicht allein gewesen. In 23 den preußischen Ministerien hat es noch viel trostloser ausgesehen. Leider werden die Opfer für das jahrelange unsichtbare Martyrium, das sie haben tragen müssen, nun auch noch den Hinauswurf in das Nichts erfahren und die Quäler in höhere Positionen einrücken sehn. Die Quäler und Nichtskönner.«

Alma erinnerte sich jetzt, daß um sieben der Kapellmeister von der Städtischen Oper kommen wollte, um sich zu verabschieden. Man hatte ihn für eine Tournee durch Südamerika engagiert. In Florenz sollte sich die Truppe sammeln, drei Wochen dort proben und dann Anfang Mai fahren. Der Kapellmeister hatte gern und schnell zugegriffen, als ihm unverhofft das Angebot gemacht wurde. Er war Jude, ein in der nationalen Presse viel befeindeter, weil er wiederholt in Moskau Sinfoniekonzerte dirigiert hatte.

»Um den ist mir nicht bange, dem stehen viele Türen offen«, sagte Doktor Grätz.

Sie kürzten jetzt den Weg ab. Sie sahen schon das Gitter, das den Park von der Straße trennte. Mit Trommelwirbel und Hörnerklang, mit Pechfackeln und flatternden Fahnen marschierte eine Kolonne SA, einen der jetzt tagtäglich üblichen Reklameaufzüge vollführend.

Sie ließen den Zug, der von einem Schwarm halbwüchsiger Burschen und Mädels flankiert wurde, vorüberziehn. Sie blieben solange auf der Brücke stehen, Hand in Hand wie ein Liebespaar. Aber keine Erotik war zwischen ihnen, sondern eine Freundschaft, die begründet war durch die gemeinsam verlebten Jugendjahre in einer stillen Stadt an den mecklenburgischen Seen. Durch das Einanderverstehen in den wesentlichsten Fragen des Lebens. Sie trugen beide schwer an der Verwirrung dieser aus den Fugen geratenen Zeit.

Alma schloß jetzt das Tor auf. Sie gaben sich die Hand. Doktor Grätz rannte quer über die Straße, um die Bahn noch zu erreichen, deren Anrollen schon hörbar war.

Alma blieb so lange stehen, bis der Vorortzug aus dem Bahnhof in Richtung Karow herauslief. Sie sah Doktor Grätz am Fenster stehen und winken. Und erst als die roten Schlußlichter von der Dunkelheit aufgesogen wurden, drehte sie sich um und ging wieder auf das Haus zu mit zögernden Schritten – wie in ein unbekanntes Wasser hinein. 24

 


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