Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXXIII   Kartoffelpuffer

Wenn eine von den Frauen aus dem Berliner Stadtviertel Gesundbrunnen in diesem Winter mehr als fünf Pfund Kartoffeln hatte auftreiben können, dann sagte man ihr mindestens nach, daß sie wahrscheinlich Beziehungen intimer Art zu einem der Kartoffelhändler habe. Man sagte das nicht in gehässiger Form, sondern etwa so, wie es in den beiden letzten Kriegswintern üblich gewesen war, von intimen Beziehungen zu Lebensmittellieferanten ganz allgemein zu sprechen. Hämisch gemeckert haben eigentlich immer nur die, die physisch nicht in der Lage waren, den Anschluß zu guten Beziehungen zu finden. Auch waren die materiellen Hintergründe nie so groß, daß man davon in Saus und Braus hätte leben können. Denn was bedeutete schon ein Viertelpfündchen Butter, das man hintenherum ergatterte, gegen die Gemeinheiten, die man hinunterwürgen mußte!

Viele von den armen Frauen, die auch jetzt wieder von der Lebensmittelnot betroffen wurden, hatten den barbarischen Winter von 1917 zu 1918 wahrhaftig noch nicht aus dem Gedächtnis verloren. Sie zogen, erst ganz still für sich, in den schlaflosen Nächten, wenn die kranken Kinder röchelten, den Vergleich mit damals; und dann im Gespräch mit den Flurnachbarinnen. Und sie erklärten den jüngeren Frauen, die damals noch Schulkinder waren, was man alles habe anstellen müssen, um den hungrigen Kindern die Mäuler still machen zu können. Und daß es damals mit den Männern auch nicht viel anders gewesen sei als heute. Sie meinten, es wäre eigentlich kein großer Unterschied zwischen den gewesenen Schützengräben vor Verdun und in Flandern und einem Konzentrationslager, heute, im friesischen Moor.

Manche widersprachen und erklärten, der Unterschied wäre immerhin doch so groß wie zwischen einem hergelaufenen böhmischen Anstreicher und einem ehemals Königl. Preußischen Hauptmann. Bei dem Herrn Hauptmann wären die Landsturmmänner zwar auch nur 459 »dreckige Schweine« gewesen. Aber er hatte seinen Leuten schließlich doch erlaubt, sich das Brot vom Munde abzusparen und in Pfund-Paketen nach Hause zu schicken. Dann und wann auch mal ein Stück Käse oder ein Glas Rübenmus dazu. Und wenn wieder mal ein Jahr herum war und die verfaulten Fetzen von den Männern nicht im Stacheldraht herumhingen, dann durften sie auch mit einem Heimaturlaub von drei Wochen rechnen.

Und wenn dieser Hauptmann einmal seinen guten Tag hatte, dann kam er auch auf die große Scheiße zu sprechen, in der sie nun alle drin steckten bis über die Ohren. Und er fragte seine Leute, ob sie eigentlich wüßten, wofür und weshalb man mit der Nase im Dreck läge. Und wenn die Männer dann keine Courage hatten, sich so auszukotzen, wie sie es taten, wenn sie unter sich waren und sich die Läuse aus den Geschwüren herauspolkten, dann hielt er ihnen einen Vortrag über alle die Dinge, die nach seiner Meinung schuld daran waren, daß es noch immer nicht zu Ende sei mit dem Krieg. Und wenn er endlich gar sein würde, in dem Augenblick, wo das Vaterland nicht einmal das Holzmehl mehr auftreiben konnte, um Brot daraus zu backen und vom Heldentod nur die satt werden, denen die Erde das Maul stopft und die Würmer das Gedärm, dann käme erst der richtige Krieg; nämlich der im eigenen Land, zwischen denen, die sich haben satt essen können und den Krieg verloren, und den anderen, die hungern mußten und ihre Rübe hinhalten und dafür den Frieden verloren haben. Den Frieden, sich wieder eine neue Existenz aufzubauen.

Das hatten sich die Männer angehört und sagten dazu: Der Olle hat wieder mal gesoffen, das häuft sich jetzt bei ihm, und der Teufel soll wissen, was dabei noch herauskommt. Und die ganz Schlauen hinwiederum meinten: Er will uns bloß ein Bein stellen. Denn wie kann ein Hauptmann, auch wenn er mit uns aus der Gulaschkanone frißt und sich genauso kratzen muß wie wir, wie kann der so sprechen, nicht anders auch als wir auf der Latrine, wenn der Dreck meilenweit spritzt, weil es ein wäßriger Dreck ist und nach Kohlrüben stinkt.

Manche auch hätten dem Hauptmann gern die Hand geschüttelt, und schon wollten sie sich einen Ruck geben dazu. Aber dann hieß es wieder: Stillgestanden! Und es kam oft tagelang kein warmes Fressen nach vorn. Und aus jedem Brief, der von zu Hause kam, schrien die Kinder: Vater, uns hungert so!

Bei dem Anstreicher aber gibt es nie einen Urlaub für die Männer, die im Bunker mit dem Tod im Nacken aufstehn und sich mit ihm schlafen 460 legen, die Leiber von den Peitschenschlägen zerfetzt und die Därme trockengelegt vom Hunger.

Und jetzt müssen sich die Frauen alles vom Munde absparen und den Männern ins Moor die Pakete schicken, die meist aber nicht ankommen, weil sie weggestohlen werden von den Nazis, die sich den Wanst davon immer fetter mästen und aus den Gefangenen eine Herde Tiere machen. Und man wird die eingebunkerten Männer wohl erst wiedersehn, wenn dem Anstreicher die braune Farbe ausgegangen ist.

Von solchen Unterhaltungen auf den Treppen der Hinterhäuser wurden die Kartoffelzufuhren gewiß nicht häufiger; denn dort, wo die Kartoffeln wuchsen, waren faktisch nicht mehr vorhanden, als auf die Märkte kamen. Entweder hatten die Bauern andere Sorgen als Kartoffeln für die armen Leute anzubauen, oder der größte Teil der Ernte steckte schon in den Vorratsmagazinen der braunen, schwarzen und feldgrauen Soldaten. Und viele Millionen Zentner Kartoffeln wurden von den Spritfabriken zu Treibstoff verarbeitet. Und der Treibstoff wird in riesigen unterirdischen Tanks für einen bestimmten Zweck aufgespeichert.

Um diesen geheimgehaltenen Zweck wußten natürlich auch die Frauen, die mit den fünf Pfund Kartoffeln pro Woche und Familie nichts Rechtes anfangen konnten. Denn diese armseligen fünf Pfund reichten nicht zum Sattessen, sie ließen den Magen immer mehr und mehr einschrumpfen. Es hatte niemand den Frauen etwas davon gesagt, was mit den geernteten Kartoffeln eigentlich geschah. Es stand davon auch nichts in der Zeitung zu lesen. Aber manchmal sagte jenes Flugblatt davon aus, das in den Briefkästen steckte, oder das man in die Hand gedrückt bekam, wenn die Aufrufe für die Winterhilfe verteilt wurden.

Und man hatte auch noch nicht alle Männer zu den Moorsklaven eingezogen oder in die Bunker gesteckt. Viele mußten Sümpfe trockenlegen, unterirdische Flugplätze bauen, Berge versetzen und Schluchten aufschütten für die breiten Autostraßen, oder in der Heide lernen, wie man mit Handgranaten umgeht, mit Minenwerfern und Gasbomben.

Und einige durften auch zu Hause bleiben; aber sie mußten in den Fabriken Granaten drehn und Tanks montieren. Von diesen Männern konnte man hören, daß es bald wieder Schützengräben geben würde, Granattrichter und Massengräber. Nur deshalb, weil ein Krieg sich vorbereitet, sind Butter, Milch und Fleisch so knapp, die Eier eine biblische Sage geworden und die Kartoffeln auf fünf Pfund die Woche bemessen. 461 Und es kam auch noch dieser infame Hintergedanke der obersten Naziotie dazu: »Gut so, damit sich die Leute an das Wenige langsam gewöhnen, für später, wenn es noch weniger geben wird. Und ein Volk, das man tüchtig auf Hunger trainiert hat, dem kommt dann auch so leicht nicht die Idee auf, zu murren oder gar sich zusammenzurotten wie damals in den letzten Monaten des Krieges, als man dem siegreichen Heer im Hinterhalt ein Bein stellte.«

»Es geht nichts über die sachgemäße Anwendung von Erkenntnissen, gezogen aus früheren Erfahrungen . . .«, so trompetete eine Stimme im Radio, siebenmal in der Woche. Und diese selbe Stimme grunzte auch noch: ». . . daß alle Menschen, die nur an das Essen denken, gehirnlich überfettet sind. Die neue deutsche Gesundheitsordnung, von Autoritäten begutachtet, kommt ohne Fett aus, weil man das Fett heute für Kanonen notwendiger braucht. Und überhaupt: für die konsequente Züchtung der nordischen Rasse sind Kartoffelbäuche geradezu eine Faust aufs Auge. Fünfzig Prozent weniger gegessen von dem, was ihr in den liberalistisch-marxistischen Zeiten verschlungen habt . . . und ihr erlebt wieder das biblische Alter. Auf diesem Standpunkt steht quasi gleichsam sozusagen das Heil aller Heile . . . das Wunder des Allmächtigen, der wiedergeborene deutsche Gedanke Adolf Hitler, das Sakrament des blinden Gehorsams und das Gesetz der Vernichtung aller Schwachen und Verkrüppelten mit Stumpf und Stiel . . .«

Und wenn diese verbogene und blecherne Stimme im Radio ununterbrochen, Tag und Nacht, solche und ähnliche Arien gesungen haben würde, es befand sich an einem jeglichen Apparat ein Abstellknopf. Damit gingen die Frauen vom Gesundbrunnen nicht sparsam um. Nur die Kartoffelsuppe mußten sie mit Essig und Leitungswasser in die Länge ziehn, und das Fleisch hatte schon längst einen Ersatz gefunden in Zwiebeln und Petersilie, Mohrrüben und Mehlklößen.

Und doch existierte ein Mann am Gesundbrunnen, der wußte sich mindestens die zehnfache Menge von diesen rationierten fünf Pfund Kartoffeln zu verschaffen. Woher, das hätte er nicht einmal seiner Frau in einer schwachen Stunde verraten. Jedenfalls gab es bei ihm an einem jeden Mittwoch und Sonnabend knusprige, auf beiden Seiten goldbraun gebackene Kartoffelpuffer. Die Bretterbude, wo sie hergestellt, verkauft und sogleich auch verzehrt wurden, stand in einem Winkel zwischen den beiden Fußballplätzen. Für zehn Personen hatte die Bude genug Raum. Es waren aber oft mehr als zwanzig Leute dort. Und ein einfaches, aber sinnreiches Markensystem sorgte dafür, daß kein 462 Besucher mehr als drei Kartoffelpuffer für zehn Pfennige das Stück bekam. Sonderbarerweise waren es immer dieselben Menschen, die hier jeden Mittwoch und Sonnabend erschienen und die drei Kartoffelpuffer in Empfang nahmen. Stammgäste. Eigentlich schon ein geschlossener Verein; denn es schien so, als würde niemand einem Fremden das Geheimnis verraten haben. Vielleicht, weil die drei Kartoffelpuffer die einzige Nahrung waren, von der die meisten der Besucher einen Tag über leben mußten.

Die beiden Tage Mittwoch und Sonnabend von sechs bis um neun galten als offiziell bei den Stammgästen. Montags aber, von neun bis um elf Uhr abends, gab es diese auf beiden Seiten braun und knusprig gebackenen Kartoffelpuffer nur für eine ausgewählte Gesellschaft von sieben oder acht Personen. Auch stand die Tür der Bude nicht sperrangelweit offen wie an den beiden anderen Tagen. Es drang kein Licht nach außen. Man mußte, wenn man in die Bude hineinwollte, an der zweiten, ganz schmalen Hintertür klopfen. Und es war auch ein bestimmtes Klopfzeichen erforderlich, um hineingelassen zu werden. Seltsamerweise wußten auch einige von den Schupos, die in diesem Dreh des Gesundbrunnens ihre Streife machten, Bescheid. Sie klopften zwar ein wenig anders als die Stammgäste dieser Montagabende. Sie setzten sich aber auf die Holzbänke genau so ungeniert wie die Nichtuniformierten und vertilgten aus der Hand ihre drei Kartoffelpuffer.

Der Kartoffelpuffer-Bäcker verfolgte mit der Speisung der Schupos eine bestimmte Absicht. Von dieser Absicht wußten seine Montags-Stammkunden, und es war, von ihrem Standpunkt aus, nichts dagegen einzuwenden, daß die Schupos hier sitzen durften und essen.

Es kam auch oft vor, daß der Funktionär Franz Lück dieser Kartoffelpuffer-Bude, wenn er gerade im »U.B. Gesundbrunnen« zu tun hatte, einen Besuch abstattete. Hier traf er die Kameraden, die den »Klassenkampf« herausgaben. Und manchmal kamen auch die Leute von der »Wahrheit« aus Pankow herüber. Und alle waren sie fleißige Kartoffelpuffer-Esser. Zwischendurch sprach man von der Organisationsarbeit. Man hätte sogar ganz laut und deutlich sprechen können, denn die Wände waren dreifach abgedichtet. Und von den Schupos, die dann und wann kamen, war keiner auf den Kopf gefallen, auch wenn sie im Dienst den Arm mit »Heil Hitler« hochrissen.

Der Kartoffelpuffer-Bäcker kannte seine Leute. Das Kartoffelpuffer-Geschäft war erst wenige Monate alt. Vorher gab es in dieser Bude nur Bier, Mineralwasser, Schnaps und Kaffee, warme Würstchen und 463 Zigaretten; und meist auch nur an den Tagen, wenn auf den beiden Plätzen Fußballkämpfe stattfanden.

Der Budenbesitzer besaß die volle Konzession. Das Kartoffelpufferbacken war eine Einrichtung, auf die ihn erst die illegale Arbeit gebracht hatte. Und sonderbarerweise hatte er noch nie den Besuch der Gestapo bekommen. Spitzel ließen sich öfter sehen. Die kannte man, noch ehe sie den Versuch machten, Violen zu schieben. Und es war auch eine ausgemachte Sache, daß illegales Material hier nicht verteilt wurde. Man traf sich zum Kartoffelpuffer-Essen. Was aus dem Mund dem einen oder anderen zwischendurch herausfiel . . . das stand nicht schwarz auf weiß auf einem Flugblatt, das war auch nicht gemeckert, das war Privatsache und bezog sich auf die Karnickel oder die Marder in den Hühnerställen.

Und als Franz Lück wieder einmal Appetit auf Kartoffelpuffer hatte, das heißt, seit drei Tagen nichts Festes mehr im Bauch, und er das verabredete Signal klopfte, es war schon halb elf, da saßen auch wieder die beiden Schupos der Streife da und zermahlten mit den gesunden Zähnen die Kuchen. Und der linke Verteidiger von »Norden-Nordwest« erzählte ein paar der neuesten Flüsterwitze. Die Schupos grinsten; sie kannten viele von diesen fein gedrechselten Dingen schon von der Runde her, die sie im Revier gemacht hatten. Wenn man sich dieses Zeug aufgeschrieben hätte, was man so im Verlauf einer Woche beim Friseur, im Pissoir, in der Kantine, vor den Schaltern der Wohlfahrtsämter und in den Fabriken zu hören bekam, ein Buch hätte man davon machen können. Tausende von Menschen dichteten daran und gaben die Schnurren umgehend weiter. Man hörte sie auf der Börse, in den Offizierskasinos, in den Sportklubs, in den SA-Kasernen, beim Gemüsehändler und bei den Frauen in der Butterschlange. Selbst in den Ministerien wurden sie schon geflüstert. Und die sogenannten bösen Zungen behaupteten, daß die besten und derbsten Witze auf Göring meist auf dem Mist des Zynikers Goebbels gewachsen seien. Göring konnte sich nicht revanchieren, denn alles an diesem Fettkloß war humorlos, vom Ordensstern bis zum Richtschwert, von den grinsenden grünen Schweinsaugen bis zu den Elefantenbeinen. Goebbels aber, dieser Hinkefoot, war zusammengesetzt aus Bissigkeit, Hinterhältigkeit, Falschheit und Verräterei. Er dichtete sogar Blubo.

Die Flüsterwitze konnte man aber nicht ernst nehmen, nicht als ein Symptom für eine Dämmerung der besoffen gemachten Gemüter. Man kolportierte sie und fand sich doch wohl in dem, was man dank Hitler 464 vorstellte, wenn man eine Charge war in der SA oder ein Amt bekleidete, das man einem Juden oder Marxisten gestohlen hatte.

Für die Illegalen waren die Flüsterwitze nur das Vorgeplänkel, das Tor, durch das sie in die Gemüter, die anfingen, wach zu werden, eindrangen und ganze Arbeit machten.

Als die beiden Polizisten sich das Fett von den Lippen wischten, sich zum Weggehn rüsteten und den Budenbesitzer, den sie Hermann nannten, daran erinnerten, daß um zwölf Schluß sein müsse und er die Tür hinter ihnen absperrte, fragte Franz Lück, ob Martin schon hier gewesen sei und ob jemand etwas Genaueres davon wisse, daß die Gestapo heute früh in der Fabrik von Seiffert zwanzig Mann von den Drehbänken weggeholt habe.

Hermann erwiderte, daß Martin seit langem schon nicht mehr an den Montagen gekommen wäre, meist sei er jetzt nur samstags da. Und das mit der Verhaftung der zwanzig Dreher stimme. Den Grund hätte man allerdings nicht erfahren können.

Auch die drei anderen Kumpels, die noch dasaßen, wußten nichts Bestimmtes. Jedenfalls aber hinge es mit dem neuen Werkmeister zusammen. Der wäre ein ganz Forscher und sei bis vor wenigen Wochen Verwalter in einem Arbeitsdienstlager gewesen, dort wegen Unterschlagungen, die man noch rechtzeitig vertuschen konnte, weggejagt. Die Oberschieber, die er decken mußte, hatten ihm diese Stelle bei Seiffert verschafft.

Max Grünberg, einer der rührigsten Funktionäre in diesem Bezirk, sagte: »Man muß den Fall genau klären und ihn in der nächsten Nummer vom ›Roten Sprachrohr‹ mit allen Daten und Namensnennungen veröffentlichen. Denn bei den zwanzig Kumpels, die dieser Spitzbube der Gestapo ausgeliefert hat, wird es bestimmt nicht bleiben. Von den zweihundert Mann der Belegschaft sind mindestens achtzig in den Zellen organisiert. Wenn dieser gefährliche Bonze nicht bald wieder an die Luft gesetzt wird, kann unter Umständen die ganze Organisation im Betrieb zusammenbrechen. Denn dem Schweinskerl geht es vor allem darum, sich oben wieder verdient zu machen. Je mehr Kumpels er der Gestapo ausliefert, um so geringer wiegt nach und nach sein Schuldkonto.«

Darüber, welche Methode man anwenden müsse, um das braune Gespenst aus der Seiffertschen Fabrik wieder hinauszuschmeißen, wurden verschiedene Meinungen laut. Es kam zu einer langen und erregten Debatte. Man vergaß darüber sogar das Kartoffelpuffer-Essen. Und 465 Hermann hätte jetzt eigentlich sagen müssen: »Polizeistunde! Schluß für heute!«

Vielleicht hatte er es auch schon auf den Lippen, nur kam er nicht mehr dazu, es laut auszusprechen. Denn es klopfte an der Hintertür, und dem Signal nach konnten es nur die Schupos sein. Und als Hermann öffnete, waren es tatsächlich wieder die beiden, die vorhin hier schon gesessen hatten. Sie meinten, sie kämen jetzt »außerdienstlich«, und vielleicht könnte man noch einen Puffer zum Abgewöhnen bekommen.

Hermann wußte sehr wohl, was die beiden Jungens vorhatten. Den älteren nannte er jetzt Richard und sagte auch du zu ihm. Und weil sie nunmehr Privatpersonen waren, genau solche wie die anderen, die hier saßen und sich endlich geeinigt hatten über das Vorgehn gegen den Werkmeister von Seiffert, mußte man die »zivilen« Schupos schon teilnehmen lassen am Kartoffelpuffer-Essen. Und an dem, was man hier sonst noch trieb.

Max Grünberg aber erklärte Franz Lück trotzdem noch, weshalb man ruhig weitersprechen konnte: »Sieh dir den blauen Richard mal genau an. Der hat schon die neunte Zelle bei seinen Leuten organisieren können. Richard hat uns gewisse Formulare besorgt. Richard hat uns rechtzeitig Warnungen zugehn lassen. Wenn wir Richard nicht von Anfang an gehabt hätten, dann säßen wir wohl alle hier nicht so vergnügt bei den Kartoffelpuffern. Dann hockten wir wahrscheinlich schon bei ›Windstärke vier‹ im Columbia-Haus. Oder im Moor mit einem eingebrannten Hakenkreuz auf dem Hintern.«

»Das ist nett von dir, Richard!« sagte Franz Lück. »Vor einem Jahr hätte ich es dir noch nicht zugetraut, obwohl du schon früher zu uns gehalten hast.«

»Das hättest du auch vor einem Jahr schon riskieren dürfen. Allerdings waren wir damals knapp drei, die bei der Stange geblieben sind.«

»Franz, nun zeige Richard auch mal das Blatt, worin die Äußerung steht, die Hitler über die Masse und den Sozialismus hat fallen lassen«, sagte Max Grünberg. »Richard meinte nämlich, als ich es ihm neulich sagte, es wäre schlecht zu glauben, daß Hitler sich so ausgedrückt haben kann.«

»Was habe ich gesagt?« fuhr der Schupo hoch. »Max, du mogelst. Ich habe dir erklärt, mein Kamerad Karl hält das nicht für möglich. Und ich möchte es ihm erst einmal schwarz auf weiß zeigen.« 466

»Das stimmt!« meldete sich Karl. »Ich habe zu Richard gesagt, wenn der Kerl sich so ausgelassen hat, dann muß man alles tun, um es unter die Leute zu bringen.«

»Wenn die Leute, das wären in diesem Falle also deine Kameraden, erst auf solche Art reagieren, dann hat die illegale Arbeit bei euch wenig Wert. Hätten wir so gearbeitet . . . dann wären wir vielleicht noch nicht ein Viertel so weit, wie wir es heute schon sind. Bezweifelst du etwa die Tatsache, daß Hitler sich so ausgedrückt hat?«

»Ich möchte es beinahe nicht glauben . . .«

»Mensch, dann kannst du einem beinahe leid tun. Es passieren doch noch ganz andere Dinge, die dich überzeugen müßten, daß dieser Zauber von einem nationalen Sozialismus ein hundsgemeiner Schwindel ist. Heute stolpert darüber schon ein blinder Regenwurm.«

»Ich habe mit dem Mann, zu dem Hitler sich so ausgelassen haben soll, einmal im selben Haus gewohnt. Ich weiß, wie er zu Hitler stand und wie hoch er ihn gehalten hat. Ich wußte es bloß noch nicht, daß die beiden auseinandergekommen sind. Ich halte meinen Bekannten aber für einen anständigen Kerl. Wenn er jetzt auspackt, muß er wohl auch triftige Gründe dafür haben.«

»Meinetwegen, wenn der Mann dir als solch eine entscheidende Instanz gilt«, antwortete Franz Lück, hielt dem Schupo einen Zeitungsausschnitt unter die Nase und las die blau angestrichene Stelle vor: »Was Sie unter Sozialismus verstehn, ist krasser Marxismus. Sehen Sie: Die große Masse der Arbeiter will nichts anderes als Spiele, die hat gar kein Verständnis für irgendwelche Ideale. Wir werden nie damit rechnen können, die Arbeiter in erheblichen Massen zu gewinnen. Wir wollen eine Auswahl der neuen Herrenschicht, die nicht, wie Sie, von irgendeiner Mitleidsmoral getrieben wird, sondern die sich darüber klar ist, daß sie auf Grund ihrer besseren Rasse das Recht hat, zu herrschen und die Herrschaft über die breite Masse rücksichtslos aufrechterhält und sichert . . . Dazu muß uns jedes Mittel, aber auch jedes, recht sein. Und wenn wir sagen: der Zweck heiligt die Mittel, so ist das nicht etwa jesuitisch gedacht. Nein . . . nein . . . das ist schon bei den Griechen oberstes Gesetz der Herrenschicht gewesen. Die Jesuiten haben dieses Gesetz von den Griechen gestohlen. Im Stehlen sind sie gleich, die Jesuiten und die Juden. Deshalb können uns auch nur die Griechen Vorbild sein. Und so, wie die großen Männer der Griechen die Masse fest in der Hand hatten, durch Spiel und mit der Peitsche, müssen auch wir handeln . . . Wir sind die Erben! Wir wollen sein Herr im Hause, für tausend, für 467 zehntausend Jahre. Wir wollen sein der Gott, zu dem die Masse aufschaut in Andacht, aber auch in Furcht und mit Schrecken. Die Masse war erst dann immer ein vollkommener Körper, wenn sie keinen anderen Besitz hatte als den Schurz für die Lenden und den Stein, worauf sie sich legte, um von der Arbeit zu ruhen . . .«

Der Schupo Karl ließ sich das Blatt geben und las den Inhalt noch einmal still für sich. Seine Hände zitterten dabei. Und es schien auch so, als wäre sein Gesicht um einen Schein blasser geworden.

Und als Richard ihn fragte: »Nun, mein Lieber, was hast du uns jetzt zu flüstern?«, da antwortete er: »Daß man weiß, wohin der Weg zu gehen hat.«

»Welcher Weg, Schupo?«

»Der Weg, der schnell, aber ganz schnell aufräumt mit den Schwindlern und Volksbetrügern.«

Franz Lück wollte noch einen kräftigen Senf hinzutun. Er sah aber, daß dieser Mann einen scharfen Knick im Gehirn bekommen hatte, der ihm wahrscheinlich sehr wehe tat. Und deshalb unterließ er jede weitere Bemerkung. Er sagte sich nur: Es gibt doch sonderbare Heilige auf dieser Welt; denen muß man alles erst von einer sogenannten Autorität mundgerecht gemacht werden. Jeder Deutsche schwört auf einen anderen Götzen. Der eine auf seinen früheren Hauptmann, der Nachbar auf den Papst oder das Horoskop. Nur auf den gesunden Menschenverstand, den sie alle doch besitzen wollen, kommen sie nicht. Vielleicht wissen sie gar nicht einmal, wo sie ihn sitzen haben. Deshalb fliegt er bei manchen unbemerkt zum Fenster hinaus und ein Bündel Stroh dafür hinein. Und wenn es in diesem Stroh von Ratten raschelt, halten sie es für eine Eingebung und denken sich noch ein paar Gespenster hinzu.

Draußen aber sagte der Schupo Karl zu seinem Kameraden Richard: »Daß wir es mit solchem Lügner zu tun haben, das wollte mir bisher nicht richtig in den Kopf hinein. Mindestens dem Hitler gestand ich zu, daß er zwar ein verdrehter, aber nicht hinterhältiger Kerl ist. Jetzt aber bin ich auch von diesem Irrtum kuriert.«

»Durch das Zeitungsblatt?«

»Das ist mir eine Bestätigung dessen gewesen, was du ja immer schon gesagt hast. Es ist aber nun einmal so: man muß es auch noch von anderer Seite hören. Und nun ich es gehört habe, soll die liebe Seele auch ihre Ruhe haben.«

Als sie über die Brücke gingen, kam von der Bahn herauf ein Trupp 468 der Hitlerjugend mit Fackeln und wehenden Bannern und sang, daß es die Häuser hochknallte:

Auch die Hohenzollern hängt an den Laternenpfahl,
laßt die Hunde baumeln, bis sie runterfaulen.
In die Synagogen aber sperrt ein schwarzes Schwein,
und mit Handgranaten schmeißt dem Papst die Fenster ein! 469

 


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