Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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II   Deutschnationales Haus

Der Buchdrucker Louis-Ferdinand Schimmel saß in seinem kleinen Kontor unter der grünbeschirmten Schreibtischlampe und kalkulierte einen Druckauftrag, den er eventuell hereinbekommen würde, wenn er zehn Prozent billiger liefern könnte als die Firma Meisel. Es handelte sich um 15 Millionen Flugblätter für die NSDAP. Format 20 mal 16, doppelseitig bedruckt. Der Preis der Konkurrenz war ihm unter der Hand mitgeteilt worden. Prozente an einen Vermittler brauchten nicht gezahlt zu werden. Die Möglichkeit des Auftrages wurde von seinem Sohn August, der die Sache arrangiert hatte, als eine Freundschaftsangelegenheit bezeichnet.

Schimmel rechnete hin und her. Ein Verdienst an dem Auftrag sollte doch herausspringen. Aber wie? Bis jetzt hatte er sich immer einen Verlust ausgerechnet. Ja, wenn er zum gleichen Preis hätte liefern dürfen wie die Firma Meisel, dann würde man sagen können: Gut, weg mit Schaden! Es wäre immerhin das Salz zum Brot dabei herausgekommen. Und die Maschinen hätten laufen können.

Die drei Leute, die in dem kleinen Anbau, hinten über dem Hof, arbeiteten, waren sowieso nicht vollauf beschäftigt. Visitenkarten? Wer legte sich heute noch welche zu, wo die Uniform und das Parteiabzeichen alles Notwendige schon ausdrückten? Und Hochzeiten mit hundert Einladungen nebst Festzeitung? Das kam jetzt nur noch zwei-, höchstens dreimal im ganzen Jahr vor. Die meisten Brautpaare begnügten sich mit vorgedruckten Karten, zum Ausfüllen des Datums und der Namen entsprechend eingerichtet. Solch ein Zeug druckte man zehntausendweise in der flauen Zeit weg. Und es schienen auch weniger Leute zu sterben, oder man legte keinen Wert mehr darauf, den Bekannten und Verwandten einen Todesfall anzuzeigen. Und Werbung . . . bei diesem schlechten Geschäftsgang sparten die Ladenbesitzer sogar am Licht. Für die Auslagen in den Fenstern interessierten sich im besten Fall die Kinder 25 und machten bei dieser Gelegenheit auch noch die Scheiben schmutzig. Es war Essig mit der ganzen Akzidenzdruckerei. Und es waren Galläpfel, was man sonst noch an Aufträgen hereinbekam. Dabei mußten die Leute gelöhnt werden. Sie arbeiteten schon unter Tarif, bloß um nicht auf der Straße zu liegen. Die Miete für die Werkstatt rechnete man schon gar nicht, denn das Haus trug sich so gerade noch, weil man die Etagenwohnungen gut vermietet hatte. Aber der Haushalt verschlang viel. Zwei Söhne, studiert und immer noch keine Position; eine Tochter, lange Sekretärin bei einem Rechtsanwalt gewesen . . . die Stelle plötzlich verloren. Die Hausfrau im dritten Jahr schon bettlägerig. Und dann war da noch für die gröbere Arbeit in der Wirtschaft ein älteres Mädchen, eine arme Verwandte. Alle wollten sich am Tisch satt essen. Alle hatten Bekleidungswünsche. Söhne und Tochter beanspruchten sogar Taschengeld.

Er nahm die Brille ab und putzte die angelaufenen Gläser mit dem großen bunten Taschentuch wieder blank. Er kniff die Augen zu und dachte eine Weile nach. Dann setzte er sich die Brille wieder auf und rechnete den ganzen Zimt noch einmal durch. Es kam kein anderes Resultat als das schon einmal festgestellte heraus.

Er las, um auf andere Gedanken zu kommen, den Text des Manuskriptes durch. Eine ruppige Sprache, dachte er. Als wäre jeder, der heutzutage wählen geht, ein angetrunkener Müllkutscher oder Möbelträger. Ein Ton, als ginge man nicht mehr, seiner Staatsbürgerpflicht sich bewußt und durchdrungen von der Ehre, teilhaben zu dürfen am Geschick des Vaterlandes, in die Wahlzelle, sondern mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und geballten Fäusten zum Raufen.

Schimmel hatte bis zur Novemberrevolution nie anders als konservativ gewählt. So, wie er es von seinem Vater, der Pfarrer gewesen war, übernommen hatte. Seitdem es aber eine deutschnationale Front gab, wählte er mit und für Hindenburg deutschnational. Dazu brauchte er keine Aufforderung durch Flugblätter, darüber wurde höchstens einmal kurz am Stammtisch gesprochen. National . . . das war man seiner treudeutschen Gesinnung, dem Andenken der verstorbenen Eltern und dem Kaiser schuldig. Man wollte und wünschte jetzt, daß er wiederkäme und endlich »Ruhe und Ordnung« schaffen möchte. Es war von Anfang an nichts Richtiges gewesen mit der Republik. Regieren kann nur, wer von Gott dazu bestimmt ist. Und die Hohenzollern haben immer mit Gott für das Vaterland regiert. Die Arbeiter haben dabei gute Löhne und eine bodenständige und dauernde Arbeit gehabt. Die Beamten bekamen die Gehälter vierteljährlich im voraus und konnten solide leben und ihre 26 Kinder etwas werden lassen. Die Geschäfte florierten, die Steuern drückten nicht, die Menschen hatten vergnügte Gesichter; wer sparsam war, konnte sich mit sechzig Jahren zur Ruhe setzen und die Abendpfeife in Frieden und Ruhe zu Ende rauchen.

Ja . . . in den damaligen Zeiten, so erinnerte Schimmel sich noch ein Stück weiter rückwärts, standen fünf und sechs Gehilfen im Anbau, druckten fleißig und sauber, und die Arbeit brachte ein schönes Stück Geld ein. Wovon hätte man sich denn sonst dieses große Zinshaus kaufen können und zehn Jahre später noch ein zweites gegen bar hinzu?

Er nahm wieder das Manuskript in die Hand und kam über den rauhen, schon längst nicht mehr soldatischen Ton hinweg, Er hatte, wie gesagt, Wahlaufrufe anderer Parteien nie gelesen. Und diese Partei hier war ja erst in den letzten Jahren hochgekommen. In Scharen liefen ihr jetzt die Leute zu, Arbeiter, Beamte, Mittelstandsleute und sogar Rechtsanwälte und Ärzte. Jeder glaubte von dem anderen, der ein wenig höher oder finanziell besser gestellt war, daß er mit Absicht ein gutes Beispiel gäbe, und was der Herr Oberpostdirektor konnte, das durfte dem Briefträger nicht unbillig sein.

Mit einem Mal fiel Schimmel auch ein, daß sogar seine beiden Söhne dieses braune Hemd trugen. Er hatte nie mit ihnen über parteipolitische Fragen gesprochen. Sie waren hier im Hause aufgewachsen in Gottesfurcht und Kaisertreue. Aber schon auf der Universität hatten sich die Ansichten, die sie an gelebten Beispielen aus dem Hause mitnahmen, verschoben. Es fiel zunächst einmal die Kaisertreue ab, weil man sich einredete, der Hohe Herr habe sich im entscheidenden Augenblick nicht bewährt, sich die Autorität von schlechten Beratern wegschwatzen lassen. Der neue Staat soll sein, von Grund auf erneuert, ein Gebäude des Volkes für das Volk. Das Kapital dürfte nicht mehr raffen und mit Zinsen wuchern, sondern schaffen, die Wirtschaft solle nicht von artfremden Juden geführt werden, sondern von Beauftragten eines autoritären Führers. Und jedem Arbeitnehmer ein reeller, zum Sattessen ausreichender Lohn garantiert . . .

Das hatte er sich ein paarmal mitangehört und zu seinen beiden Söhnen Karl und August gesagt: »Das hört sich zwar nicht an wie ein Märchen, aber mir ist das alles zu plötzlich und zu neu. Ich habe das Meinige gelernt und bin bis zum Kriege nicht schlecht gefahren dabei; zum Umlernen aber bin ich zu alt. Wenn es kein Kommunismus ist, zu dem ihr jungen Leute euch bekennen wollt, meinetwegen versucht es. Ich glaube aber, es wird nicht lange dauern, dann kommt ihr wieder auf das Alte 27 und Bewährte zurück. Preußen ist groß geworden dabei. Die Redensart, es habe sich durchgehungert, lasse ich nicht gelten.« (Vom Kommunismus wußte er allerdings nur so viel, wie in der Kreuzzeitung für die Abonnenten zu lesen stand. Und das war der alte, große Kinderschreck vom Schwarzen Mann, der neuerdings Bolschew hieß, unter Bismarck aber Bebel.) »Sorgt mir aber dafür, Jungens, daß eure Hände sauber bleiben. Ich möchte in meinem Hause nicht in Handschuhen herumlaufen. Und wenn ihr miteinander über diese neuen Dinge, die euch bewegen, streiten wollt, weil sie euch im Letzten wohl doch noch nicht klar sind, dann, bitte, oben in eurem Zimmer.«

Oben in ihrer Stube hatten die Söhne auch das Radio stehen, das sie sich gebastelt hatten und mit allen Schikanen ausgerüstet. Ein großer Apparat, acht Röhren, die halbe Welt konnte man heranholen. Und wenn Liesa, die Tochter, einmal mithören wollte, wie man in Argentinien Tangos spielte oder in Honolulu das Banjo wimmern ließ, dann mußte sie sich schon nach oben bemühen.

Der alte Schimmel hielt nichts von dieser neuen, gesprochenen und gesungenen Zeitung. »Sie stiehlt«, sagte er, »den Menschen noch mehr Zeit als das Kino. Sie lenkt die Gedanken ab. Sie vermehrt die Halbbildung und erzieht zu einer nichtsnutzigen Bequemlichkeit. Man geht nicht mehr in die Philharmonie, sonntagmittags, um ein Beethovenkonzert zu hören für eine Mark. Man stellt den Lautsprecher an, hört die Eroica, polkt sich dabei in der Nase herum, brennt die Haare, wäscht Windeln, schält Kartoffeln und versohlt nach dem Takt der Kesselpauken den Rotznasen den Hintern. Oder geht zwischendurch auf den Lokus, immer mit Beethoven, oder sieht zum Fenster hinaus, mustert den neuesten Sommerhut der Frau Nachbarin und hört von fern eine Marschmusik schmettern, beinahe wie Beethovens Neunte. Und wenn man nicht Beethoven hört oder Bruckner, dann ist es die Jazzband aus dem Großen Schauspielhaus, mit einem Zwischenschmus von Alfred Braun, oder es ist die Reportage von einem Fußballkampf Berlin–Hamburg. Ja sogar den Gottesdienst kann man sich mit einer kleinen Drehung des Knopfes an der Skala vom Dom in die Badestube verlegen und mit dem Schwamm auf dem Kopf und das Maul prustend voller Seifenschaum den Choral mitsingen und das Vaterunser nachplappern.«

Die Söhne hatten nicht lange Protest erhoben, als ihr Vater diese Ansichten über das Radio entwickelte. Ein in seinen graumelierten Gedanken stehengebliebener alter Mann. Er wollte den Kasten nicht mehr unten in der Wohnung haben. Gut, sie sahen sich an und hätten gern über diese 28 Verschrobenheit gelacht. Aber laut auslachen konnte man den Alten schließlich denn doch nicht. National war er bis auf die Knochen, und was er sonst noch tat, um diese ewige wirtschaftliche Krise zu bezwingen, war, den Verhältnissen entsprechend, vernünftig. Im Geschäft wurde nach wie vor auf saubere Arbeit und pünktliche Lieferung gesehen.

Schimmel sah die Kalkulation nun schon zum dritten Mal durch, legte sie wieder fort und dachte: Ich werde warten, bis August kommt. Vielleicht kann er mir ausnahmsweise einen Rat geben, wie man diesen Auftrag, dem andere eventuell folgen sollen, so unter Dach bringen kann, daß wenigstens der Lohn für die Gehilfen dabei herauskommt und die Kosten für die elektrische Kraft.

Er hörte nebenan den Tisch decken. Er sah durch die Scheibe in der Tür den Kopf von Liesa. Seitdem sie ihre gutbezahlte Stelle verloren hatte, schienen Wandlungen mit ihr vorgegangen zu sein. Sollte es allein das Nachgrübeln über den verlorenen Verdienst sein? Liesa so materiell mit einem Male? Sicher wird sie sich doch in den Jahren ein paar Tausend Mark gespart haben, denn von dem verdienten Geld hat sie nie einen Pfennig abgeben müssen. Sie hat auch jetzt hier ihre Wohnung und ihr Essen. Und über Nichtbeschäftigung zu klagen ist keine Ursache vorhanden. Dennoch ist in ihrem Gesicht nicht mehr die alte, gesunde Frische. Es steht oft eine senkrechte Falte von der Nasenwurzel bis zur Stirn hinauf. Es kann nichts anderes sein, als daß sie mit dem politischen Treiben der Jungens nicht einverstanden ist. Denn als sie einmal voller Unruhe am Tisch saßen und heftig aßen, weil sie zu einer Versammlung kommandiert waren, die in Spandau stattfinden sollte, lag eine merkwürdige Betonung in dem Satz, den Liesa fallen ließ: »Es gibt doch auch in Spandau sicher genug Leute, die diesem Putschverein angehören. Und auch Gummiknüppel werden sie dort in Mengen parat haben. Weshalb müßt ihr eure Stahlruten noch hinzutun?«

Und als Karl naiv antwortete: »Wir haben Wind davon bekommen, daß die Kommune unsere Versammlung sprengen will; die roten Schweine werden aber eine Abreibung bekommen, die Pflaumenmus zurückläßt!«, da zischte Liesa ihm ins Gesicht: »Hört der Jud nicht auf zu hetzen, werden wir ihm eins versetzen!« Und drehte sich um und ging in die Küche. Karl hob die Schulter. Und August bemerkte: »Man hat es jetzt deutlich vor Augen, wie schwer Liesa von diesem Juden Joachim infiziert worden ist. Das ist nun meine Schwester!« Mit dem Juden Joachim meinte er den Anwalt, bei dem Liesa als Sekretärin bis vor kurzem tätig war. 29

Und Schimmel dachte weiter: Also mit den Jungens ist sie bestimmt nicht einer Meinung. Wahrscheinlich will sie überhaupt von der ganzen Politik nichts wissen. Das wäre ganz in der Ordnung, denn ihre Mutter hat sich auch niemals in diese Männersachen gemischt. Ein Unfug und ein Unglück, daß Frauen überhaupt wählen dürfen.

Karl und August kamen heute nicht zum Essen. Man saß eine geschlagene Viertelstunde am Tisch und wartete. Das war etwas ganz Neues und Unerhörtes in diesem Hause, wo sich alles haargenau nach dem Glockenschlag abspielte. Schimmel hatte sich noch nie in seinem Leben von Ärger oder Wutanfällen hinreißen lassen. Seine Nerven waren urgesund. Und von seinem Vater her, von dem die Leute selbst heute noch, zwanzig Jahre nach seinem Tode, nicht anders sprachen als von »unserem Vater Schimmel«, hatte er das Milde, das Versöhnliche und das stete gute Zureden geerbt.

Es war jetzt aber ein eigentümlicher Klang in seiner Stimme, als er Liesa frug: »Hat Mutter schon gegessen? Und habt ihr heute früh die Injektion gemacht? Fühlt sie sich besser danach?«

»Sie aß heute ihre Suppe mit gutem Appetit. Es muß also doch geholfen haben. Und schließlich hat sie ja auch Vertrauen zum Doktor Frankenstein. Ich denke, das wird einen großen Teil mit beitragen zur Genesung.«

»Ja, man möchte beinahe glauben, der Frankenstein kennt deine Mutter besser als ich, obwohl ich schon dreißig Jahre mit ihr verheiratet bin und er sie erst seit einem halben Jahr behandelt. Ich meine jetzt nicht ihren jetzigen Zustand, nein, ganz allgemein, und wie er mit ihr so zu sprechen versteht. Immer findet er das richtige Wort. Man hätte ihm schon früher die Behandlung übergeben müssen.«

»Karl und August sind genau entgegengesetzter Ansicht. Sie wundern sich heftig, daß du diesen ›hebräischen Pfuscher‹ immer noch ins Haus kommen läßt.«

»Nun hör mal, Mädchen, den Doktor Frankenstein kenne ich fast ein Menschenalter lang. Er hat deinen Großvater schon behandelt. Es gibt hier in der Kolonnenstraße überhaupt keine alteingesessene Familie, glaube ich, bei der er nicht Hausarzt ist. Ich habe nie gehört, daß man jemals abfällig von ihm gesprochen hätte. Seine Honorarforderungen sind mäßig, man kann das Geld noch aufbringen. Und wenn du meinen Gehilfen Busch einmal fragen würdest, dann wird er dir antworten: ›Wenn ein armer Mann den Doktor Frankenstein mitten in der Nacht ruft, und es wird ihm von vorneherein gesagt, daß man kein Geld 30 habe, dann ist er trotzdem da und sorgt auch noch für Medikamente und bezahlt, wenn es notwendig ist, auch die Schwester noch aus seiner Tasche.‹ Ja, meine Tochter, solche Kulanz seinen Mitmenschen gegenüber kannst du dir im allgemeinen heute auf ein Stück Papier malen. Die meisten Ärzte sind zunächst einmal Geschäftsleute, manche sogar Großverdiener. Auch die allerchristlichsten Leute beten das liebe Geld an und betrachten ihren Beruf wie ein Kattunabmesser den seinen. Den Juden Frankenstein muß man als eine Ausnahme ansehen. Und wenn man zwanzig Jahre hindurch solch einen Mann dazu auch noch als Mieter im Hause hat, dann lernt man ihn wohl gründlich genug kennen. Ich würde ein hundsgemeiner Lügner sein, wollte ich von Frankenstein als einem üblen Kerl sprechen, er ist mir immer ein sehr angenehmer Mitmensch gewesen.«

»Vielleicht kannst du dir auch nicht erklären, wie es möglich sein kann, daß August sich zu bemerken erlaubt: ›Die deutsche Frau, die sich von einem Juden den Leib abtasten läßt und ihre Scham vor ihm aufdeckt . . . die muß entweder den Verstand nicht mehr beisammen haben oder sie hat in erbkranker Verwirrung vergessen, daß sie als Deutsche geboren wurde.‹ Und das, mein lieber Vater, war doch wohl deutlich genug auf meine Mutter gemünzt.«

Er sah Liesa an, und sie hielt seinem Blick stand. Und er wunderte sich über den bitterverkniffenen Mund, der das Gesicht dieses Mädchens um zehn Jahre älter machte. Und fast kam es ihm so vor, als würden hier im Haus sich Dinge abspielen, die auf Zehenspitzen an ihm vorüberschlichen und hinter seinem Rücken skandalöse Formen annahmen.

»Wir werden jetzt essen, Liesa!« sagte er kurz. Und Liesa klingelte und gab dem Mädchen Anweisung, aufzutragen. Sie aßen schweigend. Von der Straße herauf schallte, rauh gesungen und von stampfenden Schritten begleitet, das Marschlied des Zuhälters Wessel. Und jetzt frug Schimmel: »Was ist das eigentlich für ein Lied? Jeder Zug, der hier vorüberkommt, singt es. Jede Kapelle, die man hört, spielt es. Und als wir neulich vom Kirchhof zurückkamen, wo wir den alten Wilhelm Born begraben hatten, er war nämlich einer der letzten Veteranen von 1870, da marschierten auch die Kameraden vom Kriegerverein nach diesem Lied. Sonst hatte man immer den ›Hohenfriedberger‹ geblasen.«

»Ja . . . das ist das Lied, das ein Studienfreund von Karl gedichtet und komponiert hat, vielleicht auch gestohlen. Ein verkommenes Subjekt, dem nichts Gutes nachgesagt wird. Wenn du dich noch erinnerst, stand von diesem Fall auch einiges in deiner Zeitung. Die Worte, die man 31 dort brauchte, um den eigentlichen Beruf dieses sogenannten Studenten zu kennzeichnen, möchte ich vor dir nicht in den Mund nehmen. Wie gesagt, er soll dieses Lied in die Welt gesetzt haben, und es wird wohl auch bald die deutsche Nationalhymne werden. Meine auf diesen zweifelhaften Bürger auch noch stolzen Brüder schmeißen die Beine noch einmal so hoch, wenn sie nach diesem Totschläger-Lied marschieren dürfen.«

»Ich wundere mich immer mehr, Tochter, mit welchen bissigen Worten und in welcher abweisenden Art du in den letzten Wochen von deinen Brüdern sprichst. Leben wir denn hier in meinem Hause jeder für sich in einer anderen Welt? Und ist jedem die Welt des anderen eine wildfremde, sogar hassenswerte? Alles schon offene Feindschaft? Ich stell mir vor, daß die Wilden einander friedlicher begegnen und nur die Weißen fressen, weil sie sich den Teufel darunter vorstellen.«

»Wenn du das erst jetzt bemerkt hast und darüber ins Nachdenken gekommen bist, Vater?! Wolltest du es ändern, es dürfte schon zu spät sein. Und selbst wenn du es vermöchtest: deine Kräfte reichen nicht mehr aus dazu. Alle eure Kräfte nicht mehr. Die Wandlung der Söhne, die euch für den verlorenen Krieg und die danach gekommene Republik haftbar machen, euch die Schuld an der Inflation und dem wirtschaftlichen Chaos zumessen, ist geschehen. Mit eurer Duldung gegen euch.«

Er brannte sich eine Zigarre an und blies ein paarmal den Rauch scharf gegen die Decke. Der Rauch senkte sich wieder von der Decke herab und kreiste um die Tischlampe. Und plötzlich hob er die Augen und fing an: »Hör mal, Mädel, unsere Jungens sind doch keine Dummköpfe. Ich habe noch nicht bemerkt, daß sie das Leben leichtnehmen und sich womöglich gar mit Absicht von der Arbeit drücken. Du weißt es ja selbst, daß es nicht ihre Schuld ist, wenn sie hier herumsitzen, anstatt in einer Stellung, die ihren Fähigkeiten und Kenntnissen entspricht, für das Allgemeinwohl zu wirken. Sie haben nicht studiert, um das Saufen zu erlernen. Sie haben redlich gebüffelt und dafür auch glänzende Zeugnisse erhalten. Sie haben die allerbesten Empfehlungen. Und sie mühen sich doch auch mit allem Fleiß und aller Umsicht ab, unter Dach und Fach zu kommen. Wäre das nicht, ja, dann hätte ich ihnen gewiß schon die Meinung gegeigt. – Aber daß sie dieser neuen Partei nachlaufen . . . nein, so wollte ich es eigentlich nicht sagen . . . daß sie für diese Partei sich geradezu aufopfern, das muß doch einen tieferen Grund haben als nur, wie du immer sagst, kindlichen Spaß an Uniform und Marschieren. Vielleicht ist diese NSDAP wirklich die Partei der Jugend. 32 Und wie eine noch nicht ausgegorene Jugend scheint sie sich ja auch zu äußern. Oder hast du beweiskräftige Gründe, nicht bloß Gefühle, anderer Meinung zu sein? Denn neuerdings scheinen sich ja auch die Mädchen stärker für Politik zu interessieren als für das, was sie einmal nötig haben werden, um als Mutter und tüchtige Hausfrau zu bestehen. Nun . . . du antwortest ja nicht?«

»Ich halte es für richtiger, Vater, du läßt dich von Karl oder besser noch von August über Wesen und Ziel der neuen Partei aufklären. Dann bekommst du es wenigstens aus erster Hand und brauchst auch nicht mitanzusehen, wie mir die Galle hochkommt. Ich kann von diesen Dingen wirklich nicht mehr sprechen, ohne daß es mir kalt und heiß über den Rücken läuft.«

»Es ist nun schon beinahe so, Liesa, als bestünde die Gefahr von Mord und Totschlag zwischen euch. Was ist denn eigentlich vorgefallen?«

»Vorgefallen . . .?«

»Ja, es muß doch etwas geschehen sein!«

»Es geschieht alle Tage etwas. Und mit jedem Tag Schlimmeres.«

»Das ist mir zu allgemein; Genaueres möchte ich wissen.«

»Gut, sollst du wissen. Was würdest du zum Beispiel dazu sagen, wenn Karl und August heute nacht hingingen und den Doktor Frankenstein mir nichts dir nichts aus dem Bett herausholten. Ihn verprügelten, wie man einen tollwütigen Hund nicht einmal zerschlagen würde, in einen Keller würfen, wo weiter geprügelt wird, und mit den genagelten Stiefeln das Gesicht zertreten. Was würdest du dazu sagen?«

»Weshalb sollen meine Söhne den Frankenstein, der ihnen nichts getan hat, wie einen Schwerverbrecher behandeln? Und ich habe auch noch nicht gehört, daß selbst die Polizei mit Schwerverbrechern so umgehen soll. Denn täte sie es, läge Amtsmißbrauch vor. Ein schweres Delikt, ein krimineller Fall, der die sofortige Absetzung und Bestrafung solcher pflichtvergessenen Beamten nach sich ziehen würde. Vor dem Gesetz und vor dem Gericht, das im Namen Gottes Recht spricht, kennt man keine Parteien. Nicht Hoch und nicht Niedrig. Alle sind gleich.«

»Gewiß, das würde vielleicht einem Polizeibeamten geschehen sein, sagen wir mal, vor dreißig Jahren. Aber du wirst deine Söhne doch nicht mit Polizeibeamten vergleichen wollen und den Doktor Frankenstein mit einem Schwerverbrecher?!«

»Nein, denn das ist ja auch schon beinahe Irrsinn, was du dir vorstellst, wozu Karl und August, meine Söhne, fähig wären.«

»Deine Söhne waren dazu fähig!« 33

»Aber Kind, der Doktor Frankenstein war heute vormittag doch noch hier. Und wenn er morgen kommt, werde ich ihn bitten, daß er auch dich einmal gründlich untersucht.«

»Ein Jude braucht nicht immer Frankenstein, er kann auch Joachim heißen, ein bekannter Anwalt sein und Kommunisten vor Gericht verteidigt haben. Und vor einem Jahr schon auf der schwarzen Liste gestanden haben.«

»Joachim . . . Joachim . . . bei einem Advokaten Joachim bist du doch Sekretärin gewesen?«

»Richtig, Vater. Diesen Doktor Joachim hat die Kolonne, der Karl und August angehören, in der vorigen Woche aus der Wohnung geholt und ihn so ›fertig‹ gemacht . . . ich sage dir: so ›fertig‹, daß es nur noch eine Frage von Stunden ist, bis man ihn verbrennt, damit keine Spur von den grauenhaften Mißhandlungen auf die Nachwelt kommt.«

»Mädchen!«

»Diesen Doktor Joachim, der mir ein höchst anständiges Gehalt gezahlt, nie etwas Unmenschliches von mir verlangt, mich wie eine Dame behandelt hat und armen Leuten die Prozesse umsonst geführt . . . hat dieses ›neue Deutschland‹ auf dem Gewissen.«

»Meine Söhne?«

»Ja . . . deine Söhne Karl und August. Die Kämpfer. Die Bundesbrüder von dem Zuhälter Horst Wessel, die nationalen Sänger – ›Frei ist der Bursch . . .‹ und ›Schlagt ihn tot, den Rathenau, die gottverfluchte Judensau . . .‹ – Sie haben jetzt endlich, worauf sie, nach all den Saalschlachten und Straßenkämpfen, schon lange brannten, ihre eigentliche Feuertaufe erhalten. Sie haben sich ›bewährt‹. Sie dürfen die Blutfahne küssen. Silberne Sterne werden ihren Uniformkragen zieren. Der Weg zu den höchsten Führerstellen steht ihnen offen. Des Buchdruckers Schimmel Söhne gehen in die Geschichte ein.«

Er hatte zugehört mit Augen, die noch einmal so groß, als sie in Wirklichkeit waren, aus dem Gesicht herausbrannten. Auf seiner Stirn stand eine Falte, die Liesa noch nie, so alt sie war, bemerkt hatte. Er fuhr sich mit der flachen Hand durch das Gesicht, als müßte er einen Ölspritzer von der Maschine schnell wegwischen, und sagte mit einer plötzlich ganz heiser klingenden Stimme: »Geh, und mach deiner Mutter die Packungen!«

Und als Liesa die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er ein paar Minuten lang in dem Zimmer auf und ab, blieb am Fenster stehen, holte tief Atem und stieß ihn wieder hinaus – zugleich mit den Worten: »Diese Flugblätter werde ich nicht drucken!« 34

 


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