Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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III   Flugblätter und alte Flaschen

In der Sedanstraße, in der Gustav-Müller- und Naumannstraße und zugleich auch noch in der Torgauer Straße war Etzien treppauf, treppab gelaufen. Jedes Haus in diesem Schöneberger Viertel hatte jetzt die Flugblätter in den Briefkästen stecken. Die Tarnung als Flaschenaufkäufer war gut gewählt und auch die Zeit. Von den Männern, sofern sie nicht arbeitslos waren, mit Bittgesuchen die Warteräume aller möglichen Ämter frequentierten und auf den Stempelstellen herumlagen, war selten einer schon zwischen ein und vier Uhr nachmittags zu Hause. Und viele Frauen drückten sich um diese Zeit im Zentrum oder im Westen der Stadt herum, in den Warenhäusern und großen Spezialgeschäften, auch wenn sie nichts kauften. Sie wollten wenigstens sehen, was es an neuen modischen Dingen zu kaufen gab und was man sich zulegen würde, morgen, übermorgen, wenn die Gehälter und Löhne ein Stück weiter reichen würden als heute. An diesen kommenden Tag, der das bessere Leben endlich wahr machen wird, glaubten sie jetzt felsenfest. Weil es ihnen noch niemand so felsenfest versprochen hatte wie neuerdings dieser Adolf Hitler, der erklärte, der vergötterte Liebling der Portiersfrauen und Milchhändlerinnen, der kleinbürgerliche Gigolo all dieser jungen und alten »Mädchen für alles«, der Schwarm von Frauen der unteren Beamten, Handwerkern, Angestellten, Zwischenagenten und Arbeitern in staatlichen und städtischen Betrieben.

Solch eine Gemischt-Gesellschaft bevölkerte das ganze Viertel mit Ausnahme der Sedanstraße. Und hier hingen auch die wenigsten Hakenkreuzfahnen. Hier sah man vielmehr, als eine stille, aber wirksame Demonstration, vom frühen Morgen bis zum späten Abend die roten Inlette der Betten auf den Fenstersimsen. Hier, besonders in den Hinterhäusern, waren in jeder Familie ein paar Arbeitslose. Bis hierher reichte das schleichende Gift der »Morgenpost« nicht mehr; sie gehörte nicht zu den täglichen Bedarfsartikeln, denn Zeitungen konnte man sich 35 schon längst nicht mehr halten. Hier war man in einem gewissen Sinn auch noch ganz unter sich, wohnte Tür an Tür, ein jeder wußte von jedem alles, und die vielen Äußerungen der Not brachten es mit sich, daß man aufeinander angewiesen war. Oft bildete so ein baufälliges, schäbig-schmutziges Haus, voller Wanzen und in einem ewigen Halbdunkel, eine einzige Familie, die aber zwanzig, dreißig verschiedene Familiennamen trug. Die Alten schon waren zusammen aufgewachsen, und die Kinder kannten sich meist nur mit den Vornamen.

Hier hatte es Etzien bisher auch am leichtesten gehabt mit seiner illegalen Arbeit. Er gehörte zu einer dieser großen proletarischen Familien. In der Sedanstraße war er geboren. Ein Mädchen aus der Sedanstraße hatte er geheiratet. Die halbe Sedanstraße war mitgegangen, als die Frau im ersten Wochenbett starb und das Kind eine Stunde danach. Die Trauer der Leute vor dem offenen Grab war gewiß nicht geringer gewesen als die des Witwers und der leiblichen Geschwister der Frau. Sie kümmerten sich um Etzien, bis er das Unglück endlich weit genug hinter sich gebracht hatte.

Und hier nahm man ihm auch die Flugblätter aus der Hand, als wären sie etwas, wonach man schon lange gehungert hatte und was man sich für die Bettelgroschen der Wohlfahrt nicht kaufen konnte. Man wußte, was Etzien riskierte, aber niemand machte ein Aufhebens davon, am wenigsten er selber. Er tat seine Pflicht, und das nahm jeder als selbstverständlich hin.

In der Naumannstraße hingegen wimmelte es von Nazis. Hier, in den sogenannten besseren Häusern mit Vorgärten und Erkern, brüstete man sich bei jeder Gelegenheit mit dem braunen Hemd. Hier führte man es spazieren wie einen neuen Pfingstanzug von der Stange oder auf Abzahlung von einem der armen Maßschneider. Man las zwar immer noch den »Lokalanzeiger« und selbstverständlich die »Morgenpost« und die »Illustrierte«. Aber diese Blätter unterschieden sich jetzt nur noch wenig vom »Angriff«. Sie gehörten, der schmalzigen Romane einer Vicki Baum oder Thea von Harbou wegen, der Hausfrau. Mit den Romanen wurde die braune Seuche ins Haus geschleppt, so, wie Jahre vorher schon das »Vaterländische«, das »Nationale«, der hysterische Veitstanz um den »Dolchstoß von hinten« und die Vorbereitung auf ein »starkes Heer«, auf die Rückforderung der Kolonien (ohne Kolonien keine Teebutter, keine Aprikosenmarmelade zum Morgenbrötchen, keine Seide für das Sonntagsnachmittagsfittchen) und aus »des Volkes tiefster Seele« der Ruf nach dem Revanchekrieg. Die Nörgelei an der »Schwatzbude« und 36 den Abgeordneten, die in einem festen Monatsgehalt standen. Und seit Jahren schon das Winseln und Beten um die Ankunft eines neuen, eines starken Mannes. Der war nun endlich auch erschienen, ein kakaobrauner Lohengrin mit der Nilpferdpeitsche in der einen Hand und der Zuckertüte in der anderen.

Und doch war es Etzien nur einmal passiert, daß ein Lausebengel im braunen Hemd die Wohnungstür aufriß und mit dem Gummiknüppel herumfummelte. Etzien war aber schon auf der untersten Treppenstufe und hörte nur das Geschimpfe hinterher: »Verfluchtes Kommunistenschwein! Roter Hund! Laß dich bloß nicht hier noch einmal sehn!«

Tausend Flugblätter hatte Etzien im Sack gehabt und vier alte Flaschen als Ausrede, wenn ein Schutzmann ihn angehalten hätte. Und von diesen Blättern war vielleicht ein Drittel in die richtigen Hände geraten, als letzte Mahnung sozusagen: fest zu bleiben. Die anderen Empfänger aber sollten wenigstens wissen, was es mit der Hetze gegen die Marxisten in Wirklichkeit auf sich hatte. Und daß die künftigen paradiesischen Tage, unter dem Zeichen des Hakenkreuzes und von dem wilden Gebrüll im Radio in eine nahe Aussicht gestellt, nur eine Fata Morgana wären, eine grell gepinselte Kulisse, hinter der das Grauen hockt und lauert, um in einem Furioso sondergleichen den neuen Totentanz zu kreieren.

Und wenn sich diese neugebackenen Braunhemden, diese einstigen Wechselgänger von einer Partei zur anderen, diese ewigen Herumhorcher und Mitläufer, heute nicht mehr überreden ließen, an ihre proletarische Herkunft zu denken, es sei denn, man hätte Keulenschläge anstatt Worte und Banknoten anstatt Flugblätter ausgeteilt, so würden sie doch Zeile für Zeile lesen. Und heftig protestieren und den Gott Hitler nicht von der Stelle rücken lassen. Aber es wird etwas zurückbleiben, für morgen, für übermorgen, für den Tag, da man sich keinen anderen Ausweg aus dem Betrug mehr weiß, als zu meckern. Für den Tag, an dem man plötzlich eingesehen hat, daß die Gehälter und Löhne sich nicht verdoppelt haben; daß Fleisch, Brot, Kartoffeln und Milch nicht um die Hälfte billiger geworden sind, sondern um das Doppelte teurer und wieder, wie in den letzten Kriegsjahren, rationiert. Und daß aus dem Hakenkreuz schließlich vier Galgen geworden sind, an die man jene wünscht, die sich heute mit geschwollenen Worten die Kinnlade ausrenken.

»An den vier Galgen sollen sie sich den Halswirbel ausrenken, alle diese Streicher-Gesellen!« sagte Etzien einmal zu einer Briefträgersfrau, die eine Hakenkreuzbrosche trug und deren Mann sich früher so 37 radikalrevolutionär gebärdet hatte, als würde er das Pulver erfunden haben, den Kapitalismus in einer Nacht und für ewig zu beseitigen.

Daß dieser Tag einmal da sein wird, an welchem die vier Galgen ihre Schuldigkeit tun, an den Urhebern des aufreizenden Symbols natürlich, dafür allein wurden diese Flugblätter in Kellerverstecken oder weit draußen in den Lauben, oft auf der Handpresse, mit den letzten Groschen, die sich die Proleten aus den Taschen gefegt hatten, gedruckt. Und dafür riskierten diese Tausende von Etziens mindestens die Freiheit. Der Tod stand ihnen näher zugemessen als das Leben. Sie lebten eigentlich nur noch von Stunde zu Stunde. In jeder Stunde wurden sie neu geboren für die nächste, die unterwegs war. Und es konnte ihnen niemand einen einträglichen Posten in Aussicht stellen. Es verlieh ihnen niemand Litzen, Sterne und goldene Schnüre, Offiziersstellen und den Rang und die Einkünfte eines Generals. Sie sahen die »sagenhaft schönen Autos« um die Ecken fegen und bekamen die Dreckspritzer ab auf ihre durchgesessenen und ausgefransten Hosen, auf ihre ausgeblichenen und verschlissenen Pullover. Sie wurden nicht von Gulaschkanonen gespeist oder gar in den vornehmsten Restaurants der Stadt. Es kam oft nur einmal in der Woche vor, daß sie im Stehen, irgendwo bei einem mitleidigen Menschen, schnell eine Bohnensuppe löffelten. Den Rest der Woche lebten sie von trockenem Brot. Sie schliefen schon längst nicht mehr den geruhigen Schlaf in warmen Federbetten. Sie lagen in den Kiefernwäldern herum, unter den Brücken, in verlassenen Schrebergärten, im Heuschober und im Versteck der Dachkammer. Sie hätten mit einem Ruck das Rad ihres Daseins herumreißen und die bequeme Straße jener Menschen fahren können, die ihre Gesinnung für das Maulhalten verkauft hatten. Sie blieben, was sie gewesen waren. Sie wollten das werden, was nach diesem allen kommen mußte. Das schrie ihnen keine Stimme zu in den großen Versammlungshallen. Das lasen sie nicht in der Zeitung, denn ihre Zeitungen gab es nicht mehr. Das sagten sich nur die Augen, wenn zwei Menschen der gleichen Art einander trafen. Das wurde dann und wann auch einmal Wort im Umgang mit Kameraden, von denen jeder haargenau wußte, wie sie zueinander standen.

Die letzte entscheidende Schlacht war noch nicht geschlagen. Und vorerst durften sie nur heimliche Teilnehmer dieser Schlacht sein, gejagt von den Kommandos, die aufrollten, dazwischenschlugen, einfingen und verschleppten. Obwohl die kommunistische Partei offiziell noch nicht verboten war: die geäußerte Gesinnung für diese Partei war einem kriminellen Vergehen gleichgestellt, von Leuten, die durch Verbrechen 38 zur Macht gekommen waren, die aus ihren irren Gehirnen eine Staatsräson zurechtzimmerten und die Rechtlosigkeit als ein neues, aus Blut und Boden gewordenes deutsches Recht auf allen Märkten austrommelten. Die den Mörder heiligsprachen und den Ermordeten zum Unrat verdammten, wenn er ein Jude war, ein Pazifist oder Marxist.

Durch diese Kehrseite einer zivilisiert sein wollenden Welt trugen die entrechteten, gejagten, bitter darbenden und frierenden Menschen die Gewißheit, daß sie sich rein hielten von schurkischer Verräterei, daß sie sich durchkämpfen mußten, sich in neuen Formationen wieder sammeln und nicht aufhören, aktiv und Proletarier zu sein.

Etzien ging jetzt in die Naumannstraße hinauf, an der Müllverbrennungsanstalt vorüber, wo er bis zum Oktober 1929 gearbeitet hatte und dann an die Luft gesetzt wurde, weil der Ingenieur ihn nicht »riechen« konnte. Dieser Kommunalbeamte einer sozialistisch-demokratischen Stadtverwaltung, der schon damals das Hakenkreuz unter dem Kragenaufschlag trug und aus den unteren Beamten im Büro und einigen Maschinisten eine Nazi-Zelle hatte bilden können, während Etzien der Obmann der revolutionären Gruppe war.

Etzien erinnerte sich jetzt auch an Tumbich, mit dem er 1919 in dieser Bude angefangen hatte. Tumbich, aus dem gleichen Haus, Sedanstraße Nr. 14a, dritter Hof links. Tumbich, der mit ihm alle Klassen der Volksschule durchlaufen hatte und der schon als Junge ein bißchen wirr im Kopf gewesen war. Ein Tierquäler, der mit einem Strohhalm Frösche aufblies, bis sie zerplatzten, und Maikäfer in Ketten zusammenband und sie so fliegen ließ. Die Mädchen wollten nichts mit ihm zu tun haben, er lief in den Anlagen als Exhibitionist herum und schiß den Nachbarn dicke Haufen auf die Flurmatten. Trotzdem war er hinter Martha Pahlke her wie ein läufiger Hund. Bis jener Abend kam, da er das Mädchen allein in der Laube erwischte, und – als sie sich sträubte, ihm zu Willen zu sein – ihr die Kehle zudrückte und den erkaltenden Körper schändete.

Das Gericht mußte ihn freisprechen, denn die Ärzte, Magnus Hirschfeld an der Spitze, hatten ein Gutachten abgegeben, wonach er vom Vater her erblich belastet sei und oft in Dämmerzuständen lebe, die das klare Bewußtsein ausschließen.

Der Alte war natürlich ein Säufer und Radaumacher gewesen, auf der Straße im Suff gestorben. Ein Opfer der Gesellschaft, die ihn ausgebeutet und ausgebeutelt hatte, bis er diese Ruine wurde.

Jetzt hockte dieser Tumbich in der Irrenanstalt Buch, spielte den 39 Kaiser Wilhelm, telefonierte mit dem Alten Fritz, vergewaltigte Fliegen und fraß seinen eigenen Dreck.

Und unsereiner, so dachte Etzien, ist wohl auch nicht mehr weit von diesem Dreckfressen. Aber den Kaiser Wilhelm: besser, es spielt ihn ein Tumbich in der Gummizelle als der wirkliche sich selber oben auf dem Thron.

Er wischte die Zeit der Arbeit in der Müllverbrennung fort aus seinen Gedanken. Er hatte eigentlich auch den anderen Weg nehmen wollen, den an der Englischen Gasanstalt vorüber. Es war ihm aber plötzlich eingefallen, Richard Bohle aufzupassen, der in der Waggonfabrik arbeitete. Und so bog er jetzt in die Straße links ein. An der Eisenbahnbrücke standen zwei Braune schon parat, die Arbeiter mit Flugblättern zu bombardieren. Es war dreiviertel fünf, bald würde die Sirene heulen und die Straße schwarz sein von Proleten, die noch in Lohn und Brot standen. Das war zwar auch nicht viel mehr, als sich den brutalsten Hunger vom Leibe zu halten. Was dem Leib aber sonst noch fehlte, um in einer gesunden Funktion zu bleiben, das mußte auf bessere Tage verschoben werden. Auf diese besseren Tage hoffte man schon seit dem Krieg, dessen Urheber die besseren Tage versprochen hatten, und als die Katastrophe hereinbrach, sich verdrückten. Jetzt waren sie wieder da und versprachen aufs neue die besseren Tage.

Auf den gelben Ziegeln der Unterführung zog sich ein zwanzig Meter langes Band hin: Wir wollen Arbeit! Arbeit! Arbeit! Die Farbe hatte sich so tief in die porösen Steine hineingefressen, daß sich das Abkratzen und Auswaschen als zwecklos erwiesen hatte. Drei Tage lang war eine Kolonne von der Bahn daran tätig gewesen. Die Schrift hatte standgehalten. Jetzt standen die Braunhemden davor; ihre Gegenwart verstärkte nur noch den Kampfruf. Das hatten sie nicht einmal begriffen.

Etzien bewegte sich auf der linken Seite der Straße. Er wußte, daß Richard Bohle die Angewohnheit hatte, bei dem Budiker Jäckel noch schnell »einen zu heben«, ehe er die Treppen zur Ringbahn hochstieg. Und Jäckels Lokal befand sich auf dieser linken Straßenseite.

Die Straßenbahnen, die von Mariendorf herunterkamen, waren noch leer; in zehn Minuten würden die Leute auf den Trittbrettern hängen. Es war ziemlich dunkel auf der Straße. Die Stadt sparte Licht, und die kleinen Ladenbesitzer knauserten auch schon mit der Beleuchtung ihrer Läden und Schaufenster. Schlechte Zeiten: was kauften die Leute schon groß? Die Metzger konnten nicht soviel an Knochen heranschaffen, als von den Frauen verlangt wurde. Ein Viertelpfund Fleisch, zwei Pfund 40 Knochen, ein Löffel voll Talg, der Rest Kartoffeln . . . und das warme Mittagessen für einen harten Arbeitstag stand auf dem Tisch. Wem es flau schmeckte, der goß sich Essig zu, und wem es nicht dick genug war, der brockte sich altes Brot hinein.

Es war eine laue, mit einem leichten Nebel angefüllte Luft. Etzien schwitzte in seiner ausgeblichenen Windjacke. Das graue Flanellhemd war an vielen Stellen löchrig und ließ die blanke Haut sehen. Am ganzen Körper verspürte er jetzt einen ekelhaften Juckreiz. Er hatte nicht die Krätze. Er hatte keine Läuse. Aber von einer Badewanne wußte er seit acht Wochen nichts mehr. Und so lange saß ihm auch schon das Hemd auf dem Leibe. Sein Koffer stand draußen in Karow bei Hillmann. Von Hillmann hieß es, man hätte ihn geschnappt. Man wird nächsten Samstag mal nachsehn, was daran wahr ist. Man sprach auch von einem ganz großen Fischzug, den die Braunen neuerdings in den nördlichen Vororten planten.

Er hatte jetzt das Haus, wo Jäckel seinen Saftladen im Keller, von außen kaum erkennbar, durch ein Schild avisierte, erreicht. Er nahm den Jutesack vom Buckel, klemmte ihn mit einem Bein am Zaun fest und wartete. Fünfzig Schritte schräg gegenüber lagen die beiden großen Tore der Fabrik. Die weißen Lichtkugeln blitzten auf. Die Zeit war haargenau abgepaßt; jeden Augenblick mußten die Tore ihre Menschenflut auf die Straße hinausschwemmen.

Auf der anderen Seite, am Rinnstein, hatte sich ein Obsthändler mit seinem Karren aufgestellt: amerikanische Äpfel, Ausschußware, angefault, das Pfund fünfunddreißig Pfennige. Die Karbidlampe, an einer schräggestellten Stange aufgehängt, begrellte das blatternarbige Gesicht des Händlers. Die paar Groschen, die er heute einnehmen würde, vielleicht werden sie kaum reichen, das bißchen Brot und Fett zu kaufen. Seine Frau stand neben der Waage und drehte Tüten aus Zeitungspapier. Sie hatte dicke, erfrorene Hände, und ihr Leib war von der Schwangerschaft hoch aufgedunsen. Etzien kannte die beiden Leute. Sie wohnten in einem Hinterhaus der Kolonnenstraße. Früher hatten sie auch einmal einen Laden besessen, als die Arbeiter noch mit dicken Lohntüten nach Hause kamen und lebten und leben ließen. Jetzt fristeten sie aber nur das nackte Leben und brachten den vielen kleinen Geschäftsleuten das Geld nicht mehr ins Haus . . . Daran waren, in der Hitlerschen Version, die »vierzehn Jahre der Schmach« schuld und das zersetzende Gift des Bolschewismus, Versailles, die Juden und der Feindbund. 41

Etzien hob den Kopf, die Muskeln in dem knochigen, aschgrauen Gesicht strafften sich, als er die ersten Kumpel anmarschieren sah. Was jetzt zuerst sich aus dem Tor auf die Straße schob, war die Belegschaft der Bude eins, der Modelltischlerei. In dieser Abteilung wurden die höchsten Stundenlöhne gezahlt. Die Männer kamen in gutsitzenden Mänteln, und die meisten trugen sogar Kragen und Krawatte. Viele Gesichter staken hinter schwarzgeränderten Brillen, die Reflexe des Lichtes verwischten die Züge. Aber an der Sicherheit, mit der die Körper sich vorwärtsbewegten, war zu erkennen, daß der Magen noch zufriedengestellt werden konnte, daß die Gliedmaßen nicht unterernährt waren und das Blut nicht dünn und sauer gemacht.

Es war kein Gefühl des Neides, was sich in den Gedanken Etziens bewegte, als er die Leute sah. Er dachte gewiß nicht so dumm und brutal wie die Mehrzahl der verarmten Mittelständler: ›Wenn es mir so sauschlecht geht, muß es den anderen noch viel schlechter gehen!‹ Er dachte nur: Ich kenne den einen und kenne den anderen von diesen Leuten. Als Arbeiter haben sie sich immer gefühlt, und Solidarität haben sie oft bewiesen. Aber wie mögen sie den Geschehnissen von heute gegenüberstehen? Glauben sie an einen nationalen Sozialismus? Worunter man sich zwar etwas vorstellen kann, wofür aber konkrete Beispiele, an die man sich halten könnte, bis heute noch nicht vorliegen. Und werden sie das, wozu sie sich bisher bekannt hatten, für diesen faulen Zauber fallenlassen? Oder werden sie stärker sein als die Umstände, die mit der besonderen Art des Betriebes als eines ausschließlichen Lieferanten für den Staat zusammenhängen? Und womit und wodurch werden sie die alten bewährten Kräfte, die immer oppositionell, immer aktiv waren, neuen Maßnahmen gegenüber unter Beweis stellen?

Sie sagen: die Gewerkschaften werden unangetastet bleiben. Vom Politischen endlich befreit, werden sich alle Energien wieder um den urtümlichen und wesentlichen Kern des gewerkschaftlichen Gedankens sammeln. Wir werden nunmehr das Mitbestimmungsrecht am Produktionsprozeß ohne Kampf, ganz einfach auf dem Verordnungswege, erhalten. Schrieb das nicht in einem ähnlichen Sinn klar und deutlich auch schon der Aufhäuser in der letzten Nummer der »Metallarbeiterzeitung«? War das nicht schon eine Schwenkung nach ganz rechts, aufs Glatteis? Der Aufhäuser hätte wissen müssen, welche Wirtschaftsgruppen die braune Bewegung alimentierten und was Hitler diesen seinen Auftraggebern unverblümt zu verstehen gegeben hat:

»Besitz und Leitung, Kapital und Gewinn . . . nichts wird bei mir 42 verändert. Selbstverständlich nicht! Glauben Sie denn, meine Herren, ich bin so wahnsinnig, die Wirtschaft zu zerstören? Wir werden nie damit rechnen können, die Arbeiter in einem erheblichen Maße für uns zu gewinnen. Wir wollen eine Auswahl der neuen Herrenschicht, die auf Grund ihrer besseren Rasse das Recht hat, über die breite Masse rücksichtslos zu herrschen . . .«

Das ist 1930 von ihm gesprochen und den Schlotbaronen in die Hand gelobt worden, feierlich bei schönen Reden, Sekt, Kaviar und Austern. Und als einige Zeitungen davon berichteten, haben das die wenigsten Arbeiter, und ihre Führer schon gar nicht, für bare Münze genommen. Das hat sich nie zu einem Kampfruf der Gewerkschaften gegen Hitler verdichtet. Das schrie man nicht einmal von der Tribüne des Reichstages den Protagonisten des Nazitums zu: »So also sieht euer nationaler Sozialismus aus?!«

Man hatte sich, aus einer nichtswürdigen Überheblichkeit heraus, ein geringschätziges Lächeln angewöhnt, wenn Goebbels und ihm verwandte luziferische Seelen mit einem Pathos, das an Felix Dahn erinnerte, die Nacht der langen Messer für die allernächste Zukunft heraufbeschworen . . .

Etzien spie aus und hielt sich die Gurgel fest, als wolle er den Strick, der ihm zugemessen war, abwehren.

Fast zweitausend Menschen strömten aus den Werkstätten. Lohnempfänger zwischen einundzwanzig und zweiunddreißig Mark die Woche. Männer, die zehn, dreißig, oft sogar schon vierzig Jahre ihres Lebens diesem Betrieb hingegeben hatten mit Schweiß, Schwielen, Abzehrung und Wunden; für einen Lohn, der gerade nur ausreichte, die Arbeitsmuskulatur leistungsfähig zu erhalten – ihnen von den »wissenschaftlich« tüftelnden Spezialisten haarscharf zugemessen, so, wie man das Gewicht der Kohle und die Mengen von Öl feststellte, um mit einem Mindestquantum den höchsten Nutzeffekt zu erzielen.

Und schon jetzt hieß die Frage, so wie sie Hitler im Eigentlichen sich auch gedacht hatte, als er den Betrugspakt mit der Schwerindustrie abschloß: Wie drücken wir das Mindestquantum an Lohn noch tiefer herunter und erhöhen dabei den Umfang der Leistung?

Wenn diese zweitausend Arbeiter in vierzehn Tagen ihre Stimme abgeben werden, ob sie sich dann klar sind über diesen »nationalen Sozialismus«?

Sie werden es sicher der Zufallsstimmung, am Tag der Wahl, überlassen und sich teils für, teils gegen Hitler erklären. Und wenn sie dennoch ein 43 wenig über die Lage nachdenken sollten, dann nur, um herauszubekommen, wo größere Chancen vorhanden sind, den Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Das schreckliche Gespenst der Arbeitslosen – sieben Millionen –, das war nicht einfach wegzufegen mit einer Handbewegung: »Es ist nun einmal so!«

Etzien bemühte sich, aus Gesicht und Bewegung der Vorübermarschierenden, aus einem aufgefangenen Wort, aus einer Gebärde der Hand, wenn sie etwas unterstreichen wollte, das zu erfahren, was in diesen Menschen vorging. Er beobachtete scharf. Die Leute waren ihm nicht fremd. Er war einer der ihren. Er ist nie mit Scheuklappen durch die Betriebe gegangen. Und noch weniger waren ihm diese Menschen in ihrem Privaten ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch gewesen. Es schien ihm, als dürfe er hoffen, daß ein großer Teil der Masse doch andere Wege gehn wird als die, die den einstweilen noch amtierenden Gewerkschaftsführern vorschwebten als eine neue taktische Wendung, die aber in Wirklichkeit bedeutete, sich vom Politischen zu lösen, von der Idee des Klassenkampfes. Dabei haben sie längst verlernt, Streiks im Sinne des Klassenkampfes zu führen. Und vor einem Generalstreik gar packte sie ein Grauen, als würde man sie zwingen, das Fronterlebnis Verdun strafweise nachzuexerzieren. Die wenigsten noch hatten die sogenannte Tuchfühlung mit denen behalten, von deren Beiträgen sie gut gelöhnt wurden.

Richard Bohle war tatsächlich einer der letzten heute, die aus dem Tor herausspazierten. Er schien einen dicken Kopf zu haben. Er schlenkerte nicht so wie sonst mit den Armen, woran man ihn schon auf hundert Schritt hatte erkennen können. Und Etzien ließ ihn ganz dicht herankommen und warf dann erst seinen Oberkörper etwas vor.

Richard Bohle erschrak und beugte sich ein wenig zurück, als müsse er sich erst erinnern, wer dieser Mann eigentlich war, der sich ihm in den Weg stellte. Das dauerte aber nur Sekunden. Dann nahm er den Arm und sagte: »Komm mit!«

Etzien griff mit der linken Hand schnell nach dem Sack und warf ihn über die Schulter. Und er sagte nichts, als sie an dem Schnapskeller vorübergingen und auch nicht nach der Ringbahn abbogen. Sie schritten an den beiden Braunhemden vorüber, die immer noch unter der Brücke standen und sich jedem Passanten mit Flugblättern entgegenstürzten. Die Arbeiter, die hier die Stelle passieren mußten, hatten die Flugblätter zwar angenommen – aber ein Stück weiter hinten sah die Straße aus wie mit Schnee bedeckt, und der Wind raschelte in dem weggeworfenen 44 Papier und wirbelte es durcheinander. Und als sie jetzt auch die Ecke der Naumannstraße überschritten, da wollte Etzien endlich Bescheid wissen, wohin die Reise gehen sollte. Er frug: »Was hast du vor, Richard?«

»Ich möchte zu Gustav Schlieper in die Laube. Er hat schon ein paarmal gefragt, was du jetzt treibst.«

»Ich bin in der vorigen Woche mal dagewesen und habe an der Tür gerüttelt. Und dann auch gerufen. Aber es blieb alles dunkel und still.«

»War das am Freitag?«

»Ja, das war am Freitag; ich kam gerade von der Tour, so wie heute. Und im Sack hatte ich noch eine größere Wucht Papier gehabt und glücklich unter die Leute gebracht.«

»Du bist bis jetzt immer noch gut durchgekommen?«

»Ja . . . mal gut, mal weniger gut. Aber man hat jetzt so seine Taktik. Und von Tag zu Tag wird man immer gelenkiger, verstehst du?«

Richard Bohle war nicht ganz bei der Sache, das merkte Etzien endlich. Seine Gedanken schienen zu klopfen wie das Herz, dessen schnelle Lauftakte deutlich zu hören waren. Etzien wollte aber nicht fragen. Man darf heute nicht mehr von seinen Freunden wissen als man unbedingt braucht, um damit über den Tag und die Nacht zu kommen. Denn am nächsten Morgen hat die Welt schon wieder ein anderes Gesicht, ein womöglich noch verzerrteres.

»Sage mal, du kanntest doch Tumbich?« fing Richard Bohle endlich an, das auszupacken, was sich in seinem Kopf drehte.

»Den Verrückten, meinst du? Den Aujust mit der weichen Birne? Ja, Junge, das ist schon lange her, daß er mal vorhanden war.«

»Wann eigentlich kam er in die Anstalt?«

»Das kann ich dir zufällig genau sagen, Richard. Das war 1926. Wir hatten damals in der Müllverbrennung gerade Streik.«

»Und zwischendurch herausgekommen ist er wohl nicht?«

»Nee, Richard, der kommt nie mehr raus.«

»Das denkst du dir so . . .«

»Mir hat es Hillmann gesagt, der muß es doch wissen, denn in dem Flügel von Hillmann liegt Tumbich ja. Aber wie kommst du jetzt gerade auf den Verrückten? Ebensogut hättest du auch auf den Kaiser Wilhelm kommen können; denn den markiert der Tumbich in der Gummizelle oder im Wasserbad.«

»Es sollen sich sehr hochgestellte Leute, so munkelt man in Buch, um seine Freilassung bemüht haben.«

»Hochgestellte Leute . . . na ja, warum auch nicht? Wer heute 45 Gummizelle hinter sich hat, dem fliegen die Chancen, eine große Nummer zu werden, nur so zu.«

Sie nahmen jetzt den schmalen Feldweg, der zwar nicht direkt zu der Laubenkolonie führte, dafür aber sicherer war als die eigentliche Straße dorthin. Es war an einem jeden Abend jetzt damit zu rechnen, daß eine Radaukolonne die Kolonie unsicher machte. Und wenn ein einzelner ihnen in die Hände fiel, blieb keine Stelle heil an seinem Leibe, von Stahlruten und Stiefelabsätzen getroffen. Und oft genug auch die Gurgel durchgeschnitten . . .

Schließlich sagte Richard Bohle: »Wir werden nur die Frau von Gustav Schlieper antreffen und die beiden Töchter. Die eine war vorgestern abend bei mir draußen. Weil sie den Gustav, als er in der Ebertstraße war und sich nach der neuen Zahlstelle erkundigen wollte, mit drei anderen Genossen gleich aufgeladen haben. Die Mordkolonne hat ein gewisser August Schimmel kommandiert, ein junger Bengel. Der Wirt kannte ihn, weil er früher einmal in der Kolonnenstraße eine Kneipe hatte, gleich neben dem Haus, das dem Vater von diesem Rotzbengel gehört. Ich war heute über Mittag bei dem Budiker. An dem Lokal ist von dem Vorfall nichts mehr zu sehen. Es war alles sehr schnell gegangen. Und nun war am Mittag bei dem Budiker auch noch ein Mann da, der kennt viele Leute von dieser braunen Totschlägergarde. Sind auch Jungens von unseren Genossen darunter. Ja . . . das ist nun einmal so. Und dieser Mann erzählte mir auch die Geschichte, daß man auf Tumbich ein Auge geworfen hat.«

»Ja . . . Richard . . . das tut mir nun sehr leid um den Gustav Schlieper. Wir haben uns zwar oft in die Fresse gespuckt bei den Debatten . . . verflucht noch mal! Aber er war doch ein richtiger oller Sozialist . . . bei Bebel stehengeblieben.«

»Ich habe mir gedacht, gleich, als du mir da den Schrecken eingejagt hattest . . . ob du nicht mal herumhorchen könntest, wo sie Gustav hintransportiert haben. Es wollen manche wissen: nicht Hedemannstraße, sondern oben . . . General-Pape-Straße. Und in dieser Ecke kennst du dich doch gut aus, wie?«

»Klar kenn ich mich aus. Und was getan werden muß für Gustav, das soll man nicht auf die lange Bank schieben.«

»Wenn du ein paar Sechser brauchst . . . wir haben heute gesammelt. Wir dachten zuerst an den Anwalt. Aber diese Leute wollen sich nicht mehr die Finger für uns verbrennen. Und der krumme Weg, denke ich, der ist heutzutage besser als ein grader.« 46

»Das Geld, das ihr gesammelt habt, das laß man lieber der Frau Schlieper. Für mich keinen roten Heller. Das gibts nicht. Aber wenn du der Frau nachher mal flüstern möchtest, daß sie mir ein Hemd pumpt von Gustav, vorläufig wird er keine brauchen . . . und vielleicht hat die Frau auch noch etwas vom Mittagessen übrig, das sie mir aufwärmen kann . . . Das Herumbetteln bei fremden Leuten, jetzt, wo sie mir die Unterstützung gestrichen haben, verstehst du . . . das fällt einem schwer.«

»Weshalb bist du nicht zu mir gekommen? Heute wird es zu spät werden. Aber Montag kommst du, bestimmt. Ich denke, bei mir wird sich noch allerhand finden, was mir nicht weh tut, wenn du damit abziehst. Wer dich kennt und jetzt so sieht, der glaubt natürlich, du markierst bloß, damit du in Ruhe gelassen wirst. Nun ist es also doch nicht so . . . mit dem Markieren, wie?«

»Teils, teils, Richard. Aber was man unter der Windjacke auf dem Leibe hat, wen kümmert das?« Und als Richard Bohle ihm die Hand auf die Schulter legte, versuchte er zu lächeln: »Eigentlich, Richard, ist auch das Lumpenhemd noch zu schade, das Blut aufzufangen, wenn diese braunen Bestien einem das Fleisch vom Leibe reißen.«

Sie hatten jetzt die Kolonie vor sich. Zwischen Zäunen, Gesträuch und niedrigen Bäumen flimmerten die Lichtpunkte schlecht schließender Türen und der mit Brettern verdunkelten Fenster. Und man hörte kaum ein Wort aus den einzelnen Lauben herausschallen. Hier hatten sie alle gelernt – seit Monaten schon –, über die wesentlichsten Punkte der Hitlerei sich mit den Augen zu unterhalten und die nebensächlichen und tagtäglichen Dinge im Flüsterton zu erledigen. Und wenn die Zeitung ausgelesen war, dann verschwand sie sofort unter dem Komposthaufen. Und wenn die Tempelhofer und alle die anderen benachbarten Straßen ihre Hakenkreuze von den Giebeln bis zu den Kellern herunter den Passanten und Nazipatrouillen in die Augen warfen: Seht, wir sind längst schon so, wie es gewünscht wird, denn man möchte endlich doch seine Ruhe haben vor den Nachbarn, die aufpassen und denunzieren . . . so blieben in der Kolonie Priesterweg nach wie vor die Lauben schwarz . . . und schwiegen.

Und als sie auf das Grundstück von Schliepers zugingen, sagte Etzien: »Es gab mal eine Zeit, da dachte ich, man braucht die Kumpels erst gar nicht aufzurufen zum Generalstreik. Das haben sie in den Fingerspitzen sitzen. Und sie sind da, alle, bis auf den letzten Mann, wenn die Zeit herangerückt ist, loszuschlagen. Solche unnützen Gedanken hat man sich gemacht, anstatt darüber nachzudenken, wo man den Kerl ausfindig 47 machen kann, der eine Stimme hat, laut aufzurufen. Und ein Wort, welches die Stimme so bewegt, daß die Menschen lahm werden in ihren abwegigen Gedanken, wenn sie das Wort dieser Stimme hören.«

»Solche Erwägungen, Genosse, machen einem die Nächte nicht mehr leicht. Wenn ich frühmorgens um vier aufsteh, bin ich wie aus dem Wasser gezogen. Und die Kinder liegen auch schon da mit offenen Augen und sehen ihren Vater an, als wäre es nur ein Traum, daß er noch da ist.«

Sie brauchten am Tor nicht zu rütteln. Frau Schlieper hatte sie schon kommen gehört. Und die beiden Mädchen Hilde und Lina saßen am Radio mit Kopfhörern und hatten den Sender Moskau eingestellt. Und die Stimme aus dieser Ferne erzählte, wie es trotz allem möglich gemacht werden muß, daß dieser Hitler zum Teufel fliegt . . . »Wenn ihr wählen geht, die Augen der ganzen Welt sind auf euch gerichtet, Genossen!«

Scheiße ist auf uns gerichtet . . . dachte Etzien. Das müßtet ihr dort oben nun endlich wissen und Maßnahmen treffen, die uns den Rücken stärken!

Und als er dann die beiden Mädchen begrüßte, fühlte er am Druck der Hände, daß das Letzte noch nicht verloren war und daß es vielleicht doch noch zu einer Besinnung kommen könnte, an dem Tag, da man wieder einmal den Stimmzettel in der Hand hatte. 48

 


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