Weiß-Ferdl
O mei!
Weiß-Ferdl

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Beim Zahnarzt.

Im Wartezimmer eines Zahnarztes sitzen an zwei kleinen Tischen, auf denen alte Zeitschriften liegen, fünf Patienten. Drei Männer und zwei Frauen. Alle fünf mit griesgrämigen, verdrossenen Gesichtern, teils mit Zahnbund, teils mit vor dem Mund gehaltenen Taschentüchern. Der Raum ist nüchtern, schmucklos, die Stühle nicht zusammenpassend und unbequem. An der Wand hing eine Tafel mit der Aufschrift: »Bei künstlicher Zahnersatz-Bestellung ersuchen wir die verehrlichen Patienten, die Hälfte anzuzahlen.« Obwohl im schönen Goldrahmen, trug das auch nicht zur besseren Stimmung bei. Wortlos saßen die Zahnleidenden da, blätterten uninteressiert in den alten Zeitschriften und horchten mit Mißbehagen auf das durchdringende Surren der Bohrmaschine aus dem Ordinationszimmer. Eine ältere, magere Frau mit bissigen Zügen ging an den Tisch, an dem drei Männer saßen, und wollte von dort eine Zeitschrift holen. Aber Patient Nummer eins, ein kleiner, dicker Mann mit einem riesigen Bund ums Gesicht, das auf einer Seite angeschwollen war, entriß ihr die Zeitschrift und knurrte: »Dö wollt jetzt grad i lesen, Sie hab'n doch selber was drübn!« – »Eine solche Unverschämtheit ist mir doch noch nie vorgekommen«, zischte die magere Frau und ging, giftige Blicke auf den Mann werfend, auf ihren Platz zurück.

Zwischen Patient Nummer eins und der Patientin Nummer drei bestand von diesem Augenblick an grimmige Feindschaft. Einige Minuten herrschte düsteres Schweigen, da ertönte aus dem Ordinationszimmer ein gellender Schrei. Alle fünf 143 Patienten fuhren in die Höhe, schüttelten mißbilligend die Köpfe. »Das ist ja nicht zum Anhörn!« »Entsetzlich, was man da aushalten muß!«

»Ich bin seit acht Uhr da«, fing Patient Nummer eins an, »jetzt ist es dreiviertl neun, seit dreiviertl Stund bohrt er jetzt an der Frau rum!«

Alles schüttelte voll Mitleid die Köpfe. Patientin Nummer drei nuselte mit ihrer dünnen, faden Stimme: »Ach ja, mir armen Frauen, was wir alles aushalten müssen, das is ja nicht zum sagn!«

Das reizte aber ihren Widersacher Nummer eins: »Dumms Geschwätz. Meinen Sie, mir Männer spürn das nicht grad so?« – »Ach, ein starker Mann«, meinte Patientin Nummer fünf, »hält das doch viel eher aus, als wir Frauen!« – »Da kennen Sie die Mannsbilder schlecht«, bemerkte Nummer drei, »die sind viel wehleidiger wie wir!«

Dagegen protestierten aber einmütig alle Männer. »Bei uns sind aber auch die Schmerzen viel größer!« – »Wieso größer?« – »Weil wir größere Zähn haben!« – »Jawohl, bei uns ist alles größer!« – »Bei uns ist auch der Nerv viel länger!«

»Hörns mir nur grad mitn Nerv auf!« winselte Nummer drei und preßte ihr Taschentuch an den Mund.

»So sans die Frauen«, sagte Patient Nummer zwei, »zuerst fangens an, dann wollns nix hörn davon!« Patient Nummer vier brummte: »Ach, die Frauen machen einen ganz narrisch mit ihrem Gewinsel!« Die Männer waren sich einig. Nummer eins fügte noch hinzu: »Wir Männer ertragen die Schmerzen still. Wenn wir wirklich Schmerzen haben, beißen wir eben die Zähn übereinander!« 144 Er biß wirklich die Zähn übereinander und fuhr im selben Augenblick mit einem lauten Geheul in die Höhe. Er hatte auf seine Zahnfistel gebissen. Er wimmerte und winselte vor Schmerzen. »Was habns denn um Gotteswillen?« fragte ihn die gutmütige Patientin Nummer fünf. »Auf meine Fistel hab i bissen!« – »O Gott, da gibts mir gleich einen Stich, ich hab nämlich auch eine Zahnfistl, sie ist noch ziemlich klein, aber sehr schmerzhaft!« – »Die meine ist schon ganz entwickelt!« – »Dann wird er sie Ihnen heut aufschneiden«, warf mitleidlos Nummer drei ein. Der »Einser« warf ihr einen bösen Blick zu. Er sagte nichts, aber man merkte es ihm an, daß er sie am liebsten vergiften tät. Nach einigem Schweigen fing Patient Nummer vier an: »Bei mir kommt heut der Nerv raus!« –»Ach Gott, redens net davon, bei mir auch«, wimmerte die Nummer drei.

Man versuchte sie zu trösten, das mit dem Nerv sei nicht gefährlich, wenn er eine Einlage gemacht, dann spüre sie fast gar nichts. Dies paßte aber ihrem Feind, der Nummer eins, nicht. Seine Augen funkelten boshaft, als er anfing: »Sagns das net. Man spürt das schon. Das ist ein hundsgemeines Gefühl, wenn er so mit der Nervnadl hinaufstiert und den Nerv sucht!«

»Hörns auf«, wimmerte seine Feindin.

Aber er hörte nicht auf, o nein. »Gemein ist es, wenn ihm der Nerv abreißt!«

Die Magere stieß einen hysterischen Schrei aus. Die neben ihr sitzende Frau wollte sie beruhigen: »Bei Ihnen reißt er net ab!« Aber Nummer eins fuhr mit sadistischer Freude weiter: »Warum soll 146 er bei dieser Frau nicht abreißen? – Die macht sowieso einen unterernährten Eindruck, da wird der Nerv auch nicht viel wert sein. – Ich garantier, daß er bei dieser Frau zwei-, dreimal abreißt!«

»Wenns net aufhörn, dann lauf i auf und davon!«

Patient Nummer zwei wollte beruhigen und meinte: »Es gibt schon Zahnärzte, die das heraushaben, mit dem Nerv!«

»Aber wenig«, warf der boshafte »Einser« dazwischen. »Einen hab ich gekannt, der war Spezialist im Nervrausnehmen. Der hat das herausgehabt. Das war eine Freude, wie der die Nerv herauskitzelt hat!«

Patientin drei wartete, daß er Näheres über diesen Spezialisten sagen würde. Aber er schwieg sich aus. Sie überwand die Abneigung und fragte mit gequälter, süßlicher Stimme: »Bitte, können Sie mir sagen, wo der wohnt?«

Der boshafte Mann kostete dies mit teuflischer Schadenfreude aus. Er nickte und sagte dann: »Ja – der Mann ist gestorben!« –

»Ach, die guten Leute sterben alle!« – »Die anderen, die bleiben da!« – »Wie ist denn der da drin?« – »Er wird sehr gelobt!« – »Er soll die Leute sehr human behandeln!« –»Ja, das hab ich auch schon g'hört!« Alle beteiligten sich an dieser Unterhaltung, nur der kleine, dicke Mann, Nummer eins, schwieg ostentativ. Schließlich fragte ihn einer direkt: »Wissen Sie was von ihm?« Er schüttelte den Kopf und nach kurzer Pause warf er hin: »Mir kommt das verdächtig vor, weil er von der Ortskrankenkasse aufgestellt ist!« 147

Die einigermaßen hoffnungsvollere Stimmung war wieder verdorben. In selbstquälerischer Boshaftigkeit fuhr er dann noch fort: »Die Milchfrau, da drüben, die kennt ihn und seine Familie sehr gut. Sein Vater war ja – Scharfrichter!«

Die Patienten schauten sich gegenseitig betroffen an, aus dem Ordinationszimmer drang auch noch ein unterdrückter Schmerzensschrei. Es war soweit, daß die Patienten daran dachten, wieder zu gehen. Da betrat ein junges, hübsches Mädchen das Wartezimmer und brachte Sonnenschein und Lebensfreude herein. Sie grüßte freundlich und fing sofort zu reden an: »O je, soo viel sind da, da dauerts lang, bis ich dran komm!«

Alle hatten recht freundlich gegrüßt, insbesondere die Herren. Sogar der bösartige Kleine, Nummer eins, verzog seinen geschwollenen Backen zu einem Lächeln und nickte ihr freundlich zu. Nur Nummer drei, die magere, gallige Frau, sagte bissig: »Da muß man halt früher aufstehn, wenn man gleich drankommen will!« – Aber das Mädchen ging nicht darauf ein. »Wenns mir zu lang dauert, dann geh ich halt wieder. Mir tut ja nichts weh!« Sie lachte und zeigte dabei ihre schönen, weißen Perlenzähne. Die männlichen Herzen flogen ihr opferbereit entgegen. Nummer zwei, ein Kavalier, sagte: »Bleibns nur da, Fräulein, jetzt tut mir schon nichts mehr weh!« Alles bis auf Nummer drei grinste. Sie hatte sich zu den Frauen am Tisch gesetzt, und Nummer fünf fragte: »Was fehlt denn bei Ihnen. Fräulein?« – »Net viel. ich hab da zwischen den Zähnen ein kleines Löcherl entdeckt, es tut mir net weh, aber i möcht net habn, daß es größer wird!« Alle nickten der hübschen Kleinen freundlich 148 zustimmend bei. Nur die gallige Nummer drei meinte: »Sie kommen also nur wegen der Eitelkeit!«

Diese Äußerung rief ihren Erzfeind, Nummer eins, auf den Posten. »Das geht Ihnen gar nix an, wegen was das Fräulein kommt. Sie brauchen aus Eitelkeit nicht zu kommen, das sehen wir. Ihnen kann der da drin nur einen Gfallen erweisen, wenn er Ihnen Ihren verunglückten Kohlrabi ganz runterreißt!«

Das war grob – aber die anderen konnten ein schadenfrohes Lächeln nicht unterdrücken. Das junge Mädchen wollte die Spannung überbrücken und meinte: »Ich laß das lieber gleich machen, bevor es zu spät ist. Jetzt ist es nur eine Kleinigkeit!«

Alle stimmten ihr eifrig bei. »Da haben Sie recht, Fräulein!« – »Je früher man dazu tut, desto besser! – Daher kommen ja die Sachen, weil man immer zu lang wartet!« – »Sehr gscheit von Ihnen, Fräulein, ja nicht warten, bis der Nerv angegriffen ist!«

Bei dem Wort »Nerv« gab es der Nummer drei einen Riß: »Jetzt hörns nur bloß vom Nerv auf!«

Teilnahmsvoll fragte das junge Mädchen: »Fehlts Ihnen am Nerv? O je, gellns, das ist recht schmerzhaft?«

»Wohl tuts nicht«, zischte die Gallige. Das junge Mädchen schwieg und blickte der Reihe nach alle an. Der kleine Dicke mit seinem großen Zahnbund bekam wieder recht boshafte Augen. Er zwinkerte dem jungen Mädchen zu und sagte dann mit zynischem Lächeln: »Bei der Frau kommt er heut raus!« Dazu machte er die Bewegung des Herausreißens. »O je, o je«, seufzte mitleidig die Kleine. 149

Der Zahnfistelzüchter konnte sein sadistisches Gefühl nicht zähmen. Boshaft bohrte er weiter: »Bei den Mageren tun sich die Zahnärzte recht schwer, weil da auch die Nervkanäle recht eng sind. Ich hab einmal einen Fall erlebt bei einer Frau, das war auch aa so a Krischperl wie die da. Da ist er mit seiner Nervnadl einfach nicht durchgekommen. Zwei Nadeln sind ihm schon abgebrochen, bei der dritten Nadl hat er, als er wieder net durchkam, ein bisserl mit dem Hammer drauf ghaut. Natürlich hat er da nicht das feine Gefühl ghabt; der Schlag war a bisserl zu stark, und die Nadl ist oben bei den Augen herauskommen.«

Die magere Frau war einer Ohnmacht nahe: »Jetzt, wenns net aufhörn, dann geh ich«, stöhnte sie.

Das allgemeine Mitleid wandte sich der mageren Frau zu. Der boshafte Giftnickl mit seinem Zahnbund hatte es zu weit getrieben. Das junge Fräulein fragte ihn: »Haben Sie auch mit dem Nerv zu tun, weil Sie alles so genau wissen?«

»Nein, ich habe eine Zahnfistl, sehr schmerzhaft!«

Nun wurde dem bösartigen Kleinen seine Spitzbuberei zurückbezahlt. Patient Nummer vier sagte sehr energisch: »Bei dem Herrn wird heut geschnitten!« Der »Einser« schaute ihn bös an und sagte: »Kümmern Sie sich um Ihre Pappn und lassen Sie die meine in Ruh!« Jetzt schaltete sich auch seine Feindin mit Wollust ein und warf bedeutungsvoll hin: »Das soll ja nicht ungefährlich sein, dieses Schneiden!« Da jammerte Patientin Nummer fünf: »Machen Sie mir doch net Angst!« – »Bei Ihnen ist das nicht gefährlich, aber bei dem Herrn, wo doch alles schon entzündet ist!« – »Ja, da ist schon allerhand passiert!« – »Wenns amol 150 mit dem Schneiden angeht, dann ist die G'schicht brenzlich!«

Der Dicke, Kleine, wurde immer noch kleiner, wie ein Häufchen Elend sank er in sich zusammen. Die Gallige zahlte es ihm schön heim. Ganz ruhig, als ob es ihr unangenehm wäre, dies zu sagen, fing sie an: »Ich kenn einen Fall, da ist der Mann daran gestorben!«

Nummer zwei, der bisher ganz wenig gesagt, setzte dem noch die Krone auf. Er sagte zu dem kleinen Dicken, der mit verglasten Augen vor sich hinstierte: »Wenns Eahna verbrennen lassen wolln – die ›Flamme‹ ist sehr zu empfehlen!«

So bös werden die Menschen, wenn sie vom Zahnweh geplagt sind. Gewiß hatte es der boshafte dicke Mann verdient, denn er war sehr bösartig zu der mageren Frau – aber daß der gleich mit der Feuerbestattungsreklame auftrat, das war schon ein bißchen stark. In diesem Augenblick riß der Zahndoktor auch noch die Türe auf, sein fuchsroter Bart baumelte über dem weißen Mantel, als wäre dieser mit Blut befleckt. Seine Brillengläser funkelten voll Mordlust, wenigstens kam es dem kleinen Dicken so vor – schaurig klang die Aufforderung: »Der Nächste!«

Nummer eins wankte wie ein zum Tod Verurteilter zur Türe des Ordinationszimmers, vor derselben blieb er noch stehen, blickte Mitleid erheischend im Raum umher, durch eine Geste deutete er an, daß er bereit sei, jedermann vorzulassen. – Niemand machte davon Gebrauch. Auf allen Gesichtern las man nur mitleidlose Befriedigung.

Zahnweh verdirbt den Charakter! 151



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