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XL.

Es folgten schwere Zeiten.

Ein typhöses Fieber, dessen Keime Ulrich wahrscheinlich schon vom Krankenbette seines Stiefsohnes her mit sich herumgeschleppt hatte, war in den Erregungen jener Nacht zum Durchbruch gekommen.

In Leos Arbeitszimmer lag er nun zwischen Leben und Tod.

In den ersten Stunden nach der Ueberführung hatte Leo gefürchtet, daß Felicitas dreist genug sein würde, ihm seinen Kranken streitig zu machen.

Er war entschlossen gewesen, bis über die Grenzen der Gesetzlichkeit hinaus mit ihr zu kämpfen.

Doch seine Sorge erwies sich als überflüssig.

Der Bote, den er nach Uhlenfelde geschickt hatte, brachte die Nachricht zurück, daß die gnädige Frau in der Morgenfrühe mit zwei Koffern zur Bahn gefahren sei. Eine Adresse habe sie nicht hinterlassen.

Im Gefühl des Erlöstseins kniete er vor dem Krankenbette nieder, um in des Freundes magere, heiße Hand hinein die tausend Schwüre abzulegen, die er nicht mit Namen nennen konnte und die alle nur den einen Sinn hatten: »Sieh, ich bin wieder der Alte – und will es bleiben.«

Leben für ihn – sterben mit ihm, das war fortan sein einziger Zukunftsplan.

Er wich nicht mehr von Ulrichs Bette.

Seine Nachtruhe hielt er auf der Erde zu dessen Füßen und half mit Cognac und Champagner nach, wenn seine schlafbedürftige Natur sich den Strapazen der Pflege nicht länger fügen wollte.

So sehr entmutigt und verängstigt war er durch die Erlebnisse der letzten Monate, so ganz hatte die kaum erwachte Glückszuversicht ihn wieder verlassen, daß ihm die Genesung noch als ein Märchen erschien, als Senftleben sie schon in nahe Aussicht stellte.

Neues Unheil fand sich ein.

Eines Abends erschien Johanna vor der Thür des Krankenzimmers und erklärte, die Zeit sei gekommen, sie müsse zu Ulrich, – Gott habe ihr befohlen, mit ihm zu reden, ehe er stürbe.

Umsonst waren Leos Versicherungen, daß der Kranke sie nicht hören könne; und als er, zum Aeußersten getrieben, sie mit Gewalt aus dem Korridor entfernen wollte, fing sie zu toben an.

Am nächsten Morgen verlangte sie selbst, in eine Anstalt geschafft zu werden. Und so geschah's. –

In dieser Prüfungszeit, in der selbst die alte Großmama ihre Spannkraft ganz verloren hatte und weinend von einer Thür zur andern lief, erwies sich Hertha als eine nimmermüde Helferin und Gehilfin. Sie sorgte dafür, daß alles in der Wirtschaft die gewohnten Wege ging, sie vermittelte die Befehle des Herrn an seine Beamten, selbst nach dem verwaisten Uhlenfelde hin erstreckte sich ihre emsige Hand.

Zwischen ihr und Leo hatte ein stillschweigendes Verstehen sich herausgebildet, das von jedermann als eine natürliche Zusammengehörigkeit empfunden wurde. Wenn er ihren klugen Blick fragend an sich hängen sah, dachte er oft: »Die hat mitgelitten – drum wird sie auch vergeben können.«

Erst die Genesung! Das übrige mußte sich finden.

 

* * *

 

Und die Genesung kam.

Um die Mitte des Februar erwachte Ulrich zu neuer Besinnung. Doch blieb er noch wochenlang zu schwach, um eine geordnete Gedankenreihe festhalten zu können. Er hatte einen Teil seines Gedächtnisses verloren und ließ sich willenlos und dankbar hätscheln wie ein Kind.

Mit der wiederkehrenden Geisteskraft fand eine gewisse Unruhe sich ein, die erst einen rein physischen Charakter trug, sich aber alsbald auf seelische Zerklüftungen zurückführen ließ. Er schien fragen, forschen zu wollen, wagte es aber nicht, und versank dann in ein mutloses, stummes, fahriges Grübeln.

Mit wachsender Besorgnis sah Leo seinem Treiben zu. Von einer Aussprache konnte keine Rede sein, und doch wurde sie dringender von Tag zu Tag.

Um die Mitte des März erklärte der Arzt nach einer Unterredung, die der Genesende unter vier Augen mit ihm gehabt hatte, es sei dringend notwendig, daß er auf sechs bis acht Wochen nach dem Süden ginge, und zwar, was die Hauptsache wäre, ohne vorerst nach Uhlenfelde zurückgekehrt zu sein.

Begleitung? … Etwa er, der Herr von Sellenthin? … Kein Gedanke … So ein armer, schwacher Kopf müsse seine Ruhe haben … Fremde Menschen thäten not … Freunde wären Gift …

Leo schwieg betroffen.

Am folgenden Tage schon kam aus Königsberg ein junger, praxisloser Doktor, der Geleit und Pflege auf sich genommen hatte, um, wie er freimütig erklärte, seinen leidenden Finanzen aufzuhelfen.

Der Abschied der Freunde war weich und scheinbar ohne inneren Vorbehalt. Es zitterten darin stumme Bitten: »Vergib mir« und stumme Beteuerungen: »Ich habe dir vergeben.« –

Eine Woche nach der andern ging dahin. Leo arbeitete mit übermenschlicher Kraft, denn auch die Aufsicht über Uhlenfelde ruhte auf seinen Schultern.

Seiner einstigen Geliebten gedachte er ohne Groll und ohne Selbstvorwurf, nur was aus ihr geworden sein mochte, bereitete ihm Sorge.

Eines Tages erreichte ihn unerwartet, auf Umwegen, eine spärliche Nachricht.

Er war zu Brenckenberg gegangen, dem er die Schuld jener Nachtstunde abzubitten gedachte. Da erzählte der Alte, der seinen Groll allmählich fahren ließ, daß sein Junge, der Schlingel, der Baronin Kletzingk in Berlin begegnet sei; sie hätte ausgesehen wie immer, wäre nicht im mindesten verlegen gewesen und hätte ihn mit Fragen überschüttet.

»Uebrigens – an dem Jungen,« fuhr er fort, »hast du wahrhaftig ein gutes Werk gethan … Zwar aus dem Corps ist er raus. Da war nichts zu machen … Aber dafür ist er wie umgewandelt seit der Haue, die du ihm verabfolgt hast … Er ludert nicht mehr und macht keine Schulden – er verdient sich ordentlich sein tägliches Brot und büffelt auch noch zum Examen … Verzeih mir, Fritzchen … ich bin wieder mal ein alter Esel gewesen. Und hab schönen Dank!«

Leo drückte ihm lachend die Hand und dachte: Hoffentlich abenteuert sie nicht! – – – –

Von Ulrich kam in jeder Woche ein kurzer Bericht. Anfangs schrieb der junge Arzt, dann auch er selber. Wenige flüchtige Zeilen, die als Hoffnung und als Halt genügen mußten.

Langsam verlor sich die nagende, auf Ahnungen horchende, nach Merkzeichen schielende Angst aus Leos Seele, seine Zuversicht spannte sich wieder, der cynisch-gesunde, lärmsüchtige Frohmut, der unsern ostelbischen Recken so wohlsteht, spukte anfallsweise bereits durch sein gesundendes Gemüt. –

*

Es war an einem grauen Morgen in der zweiten Woche des Mai. Leo, von seinem Frühritt ausgehungert, kam zum Kaffee in das Familienzimmer, dessen weitgeöffnete Glasthür die weiche Regenluft in Strömen einziehn ließ.

Da war es ihm, als sähe er die Augen der Seinen mit einem seltsam gespannten und verfänglichen Blicke sich entgegenleuchten.

»Was macht ihr heut für putzige Gesichter?« fragte er.

Mama wandte sich ab und lächelte. Elly sah in den Schoß und lächelte. Herthas Auge blieb an ihm hängen und verklärte sich vollends.

Um sich schauend bemerkte er ein Couvert auf seiner Kaffeetasse liegen, das Ulrichs Handschrift, doch – keinen Poststempel trug.

Das Herz stand ihm still.

Er las:

»Lieber Junge! Ich bin gestern abend angekommen und erwarte Dich. Grüße die Deinen. – Ulrich.«

Da er seine Bewegung nicht verraten wollte, blieb er schweigend hinter dem Stuhle stehen und zerknitterte das Papier in seiner Hand. Leise kam eine nach der andern und brachte ihren Glückwunsch.

»Kinder,« sagte er, »sein Haus ist nun ganz leer. Er hat niemanden außer uns. Wollt ihr mir helfen, daß er sich hergewöhnt? … daß er uns hier als seine Heimat betrachtet? Wollt ihr mir helfen – alle drei?«

»Das versteht sich ja von selbst, mein Jung',« sagte die Mutter und streichelte leise seinen Oberarm.

»Versteht sich das auch bei dir, Hertha?« fragte er.

Sie sah ihn mit großen, ruhigen Augen an und nickte. Er drückte ihr stumm die Hand. – Dann aß er und trank und zählte die Sekunden. –

Auf regendurchweichten Wegen ging's dem Strome zu. Ringsum auf Rain und Feldern ein weites Gären und Keimen und Knospen.

In ihm jauchzte es: »Jetzt gehört er mir ganz! Jetzt gehört er mir ganz!«

Doch als er auf der Dammhöhe stand und das Uhlenfelder Schlößchen in seiner koketten Pracht still vor sich liegen sah, kroch ein erstes Bangen über sein Herz.

Für sie war es gebaut worden. Sie trieb sich heimatlos und vielleicht schon halb verdorben in der weiten Welt umher, er aber sollte straflos auf der Stätte aus und ein gehen dürfen, die er ihr geholfen hatte zu entweihen?

»Ach was!« lachte er und reckte seine stählernen Glieder. »Kraft muß man haben und Glück muß man haben. Auf einen Schuß Unrecht kommt's dabei nicht an.«

Dann ließ er die Ruder ausgreifen.

In ihrem lichtgrünen, gelbgetüpfelten Maienkleide stand rechter Hand die Freundschaftsinsel da und beguckte sich in den spiegelnden Wassern.

»Die hat uns gerettet,« dachte er und spähte nach dem Tempel aus, den das dünne Blattwerk noch nicht zu decken vermochte.

Als das Boot den Uhlenfelder Sand hinanschrammte, kam ihm ein neues Bangen. Und als er den Hof betrat, atmete er hastig und schwer wie ein Engbrüstiger. Ob vor Angst oder Glück, wußte er nicht.

Und dann gab er sich einen Ruck und biß die Zähne zusammen.

Vorwärts!

Vorn in der Halle stand Ulrich, der ihn hatte kommen sehen und ihm selbst die Thür öffnete. – Das mattweiße Wolkenlicht fiel auf ein ernstes, starres Angesicht, das sich in der Sonne des südlichen Frühlings zu einem leichten Gelbbraun abgetönt hatte.

Leo fühlte, wie er zitterte. Er hatte eine jähe Empfindung, als müßte er ihn in seinen Armen begraben, aber er wagte es nicht – das starre Gesicht hielt ihn im Banne. So streckte er ihm nur die beiden Hände entgegen und murmelte ein zages: »Geht's gut?«

Ueber Ulrichs Züge flog ein Schimmer schwermütiger Zärtlichkeit.

»Mein Junge!« sagte er und biß die Lippen ein, »mein alter Junge!«

Und dann führte er ihn in das Gartenzimmer, in dem auf einer Tischdecke einsam eine Kaffeetasse stand.

Leo warf einen scheuen Blick nach links, wo vordem Lizzies Allerheiligstes gewesen war. Die Thür war verschlossen. Kein Schlüssel steckte darin.

Noch hatte kein Dienstbote sich sehen lassen. So öde, so ausgestorben schien das ganze Haus, als gäb' es neben dem Herrn kein menschliches Wesen darin.

In der einen Fensterecke stand eine Chaiselongue mit einem Rauchtischchen und einem Sessel davor. Das war der Platz, auf welchem Felicitas in einem Verzweiflungsanfall zusammengesunken war, als sie an jenem Herbstnachmittag zum erstenmal in alten Erinnerungen zu wühlen begonnen hatten.

Leo dachte daran und empfand ein leises Widerstreben, als Ulrich ihn bat, dort Platz zu nehmen.

Das ganze Haus bis hinauf zum Giebel schien voll gefüllt mit den schamvollen Bildern dessen, was gewesen war.

»Die Winterung steht gut,« begann Ulrich.

Leo stutzte. Sogar in der selbstverständlichen Bemerkung des heimkehrenden Landmannes fand er die Spuren geheimen Ausweichens.

»Ja, sie steht gut,« meinte er gedehnt.

»Und Uhlenfeldes hast du dich auch angenommen,« fuhr Ulrich fort. »Hab schönen Dank, lieber Junge!«

»Nicht der Rede wert,« erwiderte Leo, die ausgestreckte Hand abwehrend, »deine Leute sind ja ans Alleinwirtschaften gewöhnt.«

»Das sind sie freilich,« sagte Ulrich, »aber es ist trotzdem gut, wenn jeder seinen Herrn fühlt.«

»Wie mag er das meinen?« dachte Leo in stets zitterndem Argwohn.

Und drüben das reglose, feierliche Gesicht!

Die Freundschaft, die alte dreiste, fröhliche Freundschaft – wo war sie geblieben?

In Leo erwachte ein dumpfes Verlangen, irgend etwas Widersinniges zu thun, wenn es nur diesem Zwang ein Ende machte. Er wollte juchzen, tanzen oder ihm zu Füßen stürzen und seine Hände küssen. »Verzeih, verzeih!« wollte er schreien, aber es war ja alles verziehen.

In dem ruhigen gesammelten Blicke drüben lag kein Schatten eines Vorwurfs mehr. Eher ein liebevolles Mitleid lag darin.

»Und du selbst, Ulrich?« fragte er stotternd, »bist du zufrieden mit dir? Fühlst du dich gut?«

»Hm,« machte Ulrich, »ja – ich fühl' mich ganz gut.«

Eine Pause entstand.

Draußen tropfte der Regen in feuchtwarmen Schauern auf das trinkende Erdreich herab … An den junggrünen Ruten hingen graue Perlenreihen … Die halbentrollten Blättchen dehnten sich und leuchteten in dem stärkenden Bade.

Jugend und Segen überall! – Doch die beiden Menschen, die einander liebten wie nichts sonst auf der Welt, umwehte etwas wie ein Hauch von Herbst und Sterben.

Und Ulrich begann: »Du weißt, wir haben miteinander zu reden, lieber Junge … Was auf uns beiden – ich meine aus unsrer alten Freundschaft – nun werden soll, muß klargestellt werden.«

Das Gesicht drüben war wie eine Maske in seiner eisernen, ruhevollen Entschlossenheit. – Jeder Kampf schien ausgekämpft in dieser kranken, gemißhandelten Seele.

Leo nickte, fühlend, wie er selber ruhig wurde. Was auch geschehen mochte, es geschah nach ihrer beider Wesen innerster Notwendigkeit, – das wußte er.

»Es ist gut, daß so viel Zeit verflossen ist – seit jener Nacht,« fuhr Ulrich fort, »Ich habe über manches nachdenken können … und glaube den rechten Weg klar vor uns zu sehn … Deine Leidensgeschichte, wie du sie mir damals erzählt hast, ist mir jetzt Zug für Zug auch von Felicitas bestätigt worden.«

Leo fuhr in die Höhe.

»Du hast sie gesprochen?« stammelte er.

Ulrich bejahte ernst.

»Sie hatte an mich geschrieben … wegen der – wegen der – Scheidung. Das kannst du dir doch denken. Und da hab' ich sie aufgesucht … Ich durfte doch das arme Geschöpf nicht sich selber überlassen – auf die Gefahr hin, daß sie zu Grunde geht?«

Leo fühlte eine Art von dumpfer Eifersucht in sich erwachen. Von ihr sprach er so weich. Was würde er zu seinen Gunsten zu sagen wissen?

»Als ich sie jetzt wiedersah – rosig und lustig und wie von einem Alp befreit –«

»Also so fandst du sie?« fragte Leo gedehnt.

Ulrich nickte, während für einen Augenblick ein mild ironisches Schmunzeln um seine Mundwinkel flog.

»Da ist mir so recht klar geworden, wie viel ich an ihr gesündigt hab' … Einer wie ich, ein gebrechliches, kaputes Subjekt – gerade gut genug, sich allein durchs Leben zu schleppen – ich durfte meine Hand nach keinem vollgesunden, jungen Wesen ausstrecken, in dem jeder Nerv nach Liebe zuckt. Mag sie glücklich werden! … Ich bin innerlich fertig mit ihr … Ich war es eigentlich schon seit dem Tage … na, lassen wir den Jungen ruhen. Aber einen Stein soll mir keiner auf sie werfen.«

Leo atmete auf … Er bangte sich also nicht nach ihr, er nahm sie vielleicht kaum noch ernst …

Dann stand auch dieser Schatten nicht mehr zwischen ihnen!

Ulrich lehnte sich in einem Anfall seelischen Ermüdens gegen die Rückwand seines Sitzes. »Nun zu uns beiden,« sagte er.

Seine Züge verloren die mühsam festgehaltene Strenge. Sein Mund öffnete sich – zwei Schmerzlinien gruben sich rechts und links in die plötzlich einsinkenden Wangen.

»Noch böse fünf Minuten,« dachte Leo, dessen Hoffnung nunmehr auf festem Boden stand, »dann ist zwischen uns alles beim alten.«

»Erinnerst du dich, lieber Junge,« fuhr Ulrich fort, während sein Auge sich weit zu gramvoller Starrheit öffnete, »an die Stunde nach deiner Rückkehr, als wir in der ›Preußischen Krone‹ saßen und tranken? Damals sagtest du zu mir: ›Deine Heirat hat unsre Freundschaft zum Opfer gefordert!‹ … Ich hab' dir nicht glauben wollen … Aber jetzt weiß ich, daß du tausendmal recht hattest.«

»Wie meinst du das?« stammelte Leo, dem ein Angstgefühl kalt über den Leib lief.

»Mach mir keinen Vorwurf, lieber Junge. Und laß es mich nicht entgelten … Ich strafe mich ja selber mehr, als ich dich strafe … Ich hab' dich so lieb, wie ich dich je gehabt habe … Ich möchte mein Herzblut für dich hingeben … Aber verkehren kann ich nicht mehr mit dir.«

»Ulrich!« schrie Leo aus, »du hast mir also nicht verziehen, Ulrich?«

Ulrich lächelte schmerzlich. »Was heißt verzeihen?« sagte er. »Das einzige Weib auf der Welt, das ich nicht berühren durfte, wollte ich dein Freund sein, das hab' ich zu meiner Frau gemacht … Ich denke, unser Conto steht gleich … Wenn's damals zum Schießen zwischen uns gekommen wäre, und du hättest es mit mir gemacht, wie mit ihrem ersten Mann, lieber Junge, ich hätte dir noch im Sterben die Hand gestreichelt … Und da red'st du mir von Verzeihen!«

Leo war in die Höhe getaumelt. Er streckte die Hände nach dem Freunde aus, als wollte er ihn greifen und festhalten, ehe seine Seele ihm für immer entwischte.

»Aber dann ist es ja Wahnsinn,« rief er, »was du da thust!«

»Nein, lieber Junge … Ich möchte dir das gern erklären, siehst du. Ich hab' mir eine lange Rede ausgedacht für mich … Aber halten kann ich sie nicht … Ich hatte – weiß Gott! – den festen Willen, alles begraben sein zu lassen … Aber ich kann mich doch nicht anders machen, als ich bin … Wie ich alles schwer nehm' und nicht übers Herz bringe, was nicht bis aufs Tüpfelchen mit mir zusammenstimmt, das weißt du ja … doch denk mal gar nicht an mich … Du greifst doch das Leben wie irgend einer dreist und unverfroren an … Aber wie willst du's übers Herz bringen, hier – zwischen diesen Wänden – aus und ein zu gehen? Vorhin, bei deinem Eintritt, da sah ich, wie du nach der Thür dort hinschieltest … Dir war, als müßte sie dir wieder entgegenkommen … Ich hab' mit ihr abgeschlossen und du hoffentlich auch … Aber ihr Geist geht hier herum, das fühlst du so gut wie ich.«

»Es wird sich verlieren mit der Zeit,« murmelte Leo, immer mutloser werdend.

»Glaub das nicht,« entgegnete Ulrich. »Wir müßten anders erzogen sein, als wir sind … Wir müßten andre Eltern gehabt haben … und uns müßte andres Blut eingepumpt werden. Aber wie wir nun einmal sind, würden wir unsrer Würde und unsrer Männlichkeit geradeswegs ins Gesicht schlagen … Wir würden schlapper werden von Tag zu Tag und uns schließlich gegenseitig zum Vorwurf machen, was wir an Selbstachtung eingebüßt haben? … Nein – das soll nicht sein, dafür ist unsre alte Freundschaft zu schade … Und denk mal an unsre beiden Väter. Die hatten sich – weiß Gott – auch lieb! Aber wäre ihnen passiert, was uns beiden passiert ist, so hätten sie sich gegenseitig die Hälse gebrochen … Und zwar ohne erst viel zu fragen: ›Wer ist der Schuldige und wer nicht?‹ … Sag selbst, hab' ich nicht recht?«

Leo schwieg. »Also hat er mich doch verworfen,« dachte er.

Ihm war, als sänke alles zusammen, was er an Hoffnung und Kraft, an Weichheit und Treue frisch in sich auferbaut hatte.

Vor ihm lag das Nichts.

»Da ist's wohl das beste,« sagte er, »ich schnür' mein Bündel und mach', daß ich wieder rüberkomm'.«

Ulrich trat neben ihn und legte die Hand auf seine Schulter. »Das wirst du nicht, lieber Junge,« sagte er. »Sieh hinaus übern Strom! … Dort drüben liegen deine Felder … Der Roggen steht gut … Die Rüben sollen umgesetzt werden … Der Sommerweizen ist auch schon aufgegangen … Dazu ist als beste Gottesgabe Regen gekommen … Das grünt alles und drängt sich in die Höhe. Und will blühen und Frucht tragen. Und du, dem das alles gehört, der du verantwortlich bist für jedes Pflänzchen, du sollst wie ein verflogenes Korn verkommen und verfaulen – ohne Nutzen und ohne Aussaat für die Zukunft?«

»Wenn du mich im Stich läßt,« sagte Leo verbissen, »hat das alles keinen Zweck.«

»Ich lass' dich aber nicht im Stich. Ich werde still zusehen von weitem und mich an allem freuen, was dich freut. – Ich werde in meinen Gedanken die Halme zählen auf deinen Aeckern. Und deine Kinder werd' ich in meinem Herzen hegen, als wären sie meine.«

»Meine Kinder!« stammelte Leo.

Ulrich lächelte. »Glaubst du, ich hab' die Augen nicht aufgemacht?« fragte er. »Ich weiß ja nicht, ob du schon bald im reinen sein wirst mit dem Gewesenen … Aber laß das liebe Mädel nicht zu lange warten … Und beklag dich nicht! … Denn du hast's gut … Bei dir ist's Frühling draußen und drinnen.«

Leo fühlte, wie ihm das Wasser in die Augen schoß … Er wandte sich ab und drückte die Fäuste vors Gesicht.

»Und du selbst, Ulrich?« fragte er, sich fassend.

Ein Schimmer ruhiger Hoffnungslosigkeit flog wie eine Ahnung von Todesfrieden über das müde, gelbe Gesicht.

»Ach, ich!« sagte er, »bei mir ist nicht viel mehr zu wollen. Um mich mach dir keine Sorgen. Ich habe mir mein Leben geschaffen, so gut ich konnte … ich nehm' als Geschenk, was mir davon noch übrig bleibt … Und nun gib mir die Hand … Hab Dank für alles … Und leb wohl!«

Sie lagen sich in den Armen.

»Wollen tapfer sein, mein Alter,« mahnte Ulrich. »Schließlich sind wir ja nur da wieder angelangt, wo wir an dem Tage waren, als du heimkamst.« – – –

»Vergib mir meine Schuld,« bat Leo leise, als schäme er sich dieser Bitte.

Dann stürzte er zur Thür.

Der Regen hatte von neuem zu sprühen begonnen … Ein warmer Wind jagte funkelnde Schauer vor sich her … Zwischen den Wolkenballen hindurch blinzelte hie und da ein mattes Silberlicht … Das Erdreich duftete … Vom Teiche her kam das Schmatzen des wohlig im Schlamme watenden Geflügels … In den Aesten der blühenden Schlehen jagten sich singend die Finken.

Das ganze Weltall schien aufs Scherzen abgestimmt.

Wie von einem frischen Grabe in das fremd gewordene Leben zurück, ging Leo dahin. Das Herz war ihm weit und weh.

In seinem Geiste dämmerte etwas wie von einer ewigen Zweck- und Sinnlosigkeit, unter deren Banne nun auch sein Dasein ins Nichts verrollen sollte.

Sein armer Schädel vermochte nicht den Gedanken zu klären und weiterzuspinnen, aber angst ward ihm dabei. Und dann begann etwas in ihm sich zu empören gegen das Schicksal, das er sich hatte aufzwingen lassen ohne Trotz und Gegenwehr – aus dem lähmenden Gefühl der weiterwirkenden Schuld heraus.

In dem demütigen, widerspruchslosen Entbehren, zu dem er verurteilt war, mußte sie nun für immer an ihm hängen bleiben.

Dort stand das Boot, zum letztenmal zu Gast auf dem weißen Uhlenfelder Sande. Zum letzten Male schob er es mit diesen seinen Armen in den Strom hinaus.

Zum letzten Male!

Die Kiesel knirschten unter dem schrammenden Kiel … Das Vorderteil wühlte sich tief in das aufspritzende Wasser.

Zum letzten Male stand sein Fuß auf Uhlenfelder Boden … Zögernd sprang er in das Boot. Verdrossen wog er die Ruderstiele in der hohlen Hand.

Es war ein Widersinn, was hier geschah, ein Verbrechen an ihm wie an jenem!

Da – als er in die Strömung hinauslenkte, den Blick zum Abschiede fest auf Uhlenfelde geheftet, sah er an dem Fenster des Turmzimmers Ulrichs Gesicht auftauchen. Er erkannte es genau mit seinem hellen, runden Faserbart und den großen, dunkeln Augenhöhlen.

Sein Herz machte einen Sprung.

Augenscheinlich war Ulrich zum Turm hinaufgestiegen, um ihm zurückzuwinken.

»Ich komm' – ich komm'!« jubelte es in ihm. Schon holte er aus, um mit einem Ruck das Boot herumzureißen.

Doch nein – er winkte nicht. Er trat sogar zur Seite, um nicht bemerkt zu werden.

Enttäuscht fuhr Leo weiter, aber er freute sich doch.

Und wie er den Freund in seiner großen, stillen, scheuen Liebe, von dem Vorhang halb verborgen hinter sich herschauen sah, da kam ihm plötzlich aus all der wiedergeborenen Kraft und Tüchtigkeit, die er von neuem in Leib und Seele quirlen fühlte, die alte, strahlende, breitbrüstige, unwiderstehliche Siegeszuversicht zurück, die über seinem Leben gewaltet hatte von Anbeginn, und um die er von jenem Weibe schmählich betrogen worden war.

Er warf die Ruder hin, reckte sich hoch empor, und die geballten Fäuste nach Ulrich hin ausstreckend, schrie er lachend übers Wasser:

»Dich hol' ich mir noch zurück! … Da paß mal auf!«

Der Schimmer drüben verschwand.

Er aber setzte sich wieder auf seinen Platz und trieb das Boot still auf den Halewitzer Strand – hohen Feiertag im Herzen.

*


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