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X.

Um dieselbe Stunde hielt der Halewitzer Staatswagen vor dem Thorwege des Vorwerks Wengern.

Die Gutsherrschaft begab sich in die Kirche, um dem lieben Gott für die glückliche Heimkehr des Herrn ihren feierlichen Dank zu sagen.

Die beiden jungen Mädchen in ihren weißen Mullfähnchen – Großmama hielt auf Einfachheit – gingen eng verschlungen voran und machten ehrbare Gesichter. Leo mit der Mutter am Arme folgte. Breit und behäbig, im Vollgefühle seines Patriarchentums schritt er dahin … Seine weiße Weste leuchtete wie frischgefallener Schnee, und die Berloques darauf, die festlich auf die schlanke Fülle seines Leibes niederhingen, gaben bei jedem Tritte ein leises, liebliches Klirren von sich, das sein stilles Behagen noch erhöhte.

Das war ein Sonntagmorgen! Die schon gemähten Felder strahlten gleich goldgewirkten Teppichen, und die Wiesen, deren Gras sich von dem Schnitt der Sense schon zu erholen begann, funkelten tausendfältig im Morgentau. Noch rötlich überhaucht vom Frühlicht lag im Lindenschatten das feiertägliche Dorf. Ueberall spielten krause Sonnenflecke auf der glattgefahrenen Straße, und aus den verfallenen Schornsteinen wirbelte der lustige Rauch empor, sonndurchleuchtete Streifen über die blaue Himmelsdecke ziehend – anzuschauen wie Opferdampf auf Dankaltären.

In den Gärten der Instleute blühten schon Kressen und Sonnenblumen: – eine holde Herbstahnung, eine Ahnung von Ernten und Genießen lag über dem Bilde.

Die Leute, die vor den Hütten standen, rissen die Mützen vom Kopfe, und die Kinder, von Ehrfurcht überwältigt, verkrochen sich hinter den Bohnenspalieren.

»Vorwärts in die Kirche!« rief er den Männern zu. »Wer fromm ist, kann nachmittags zu Freibier kommen.«

Er wollte, daß jedermann mit ihm zusammen glückselig und dem lieben Gott dankbar sei.

Leise drückte er der Mutter Arm.

Sie, die in ihrem schwarzen Atlaskleide und dem silberdurchwirkten Spitzentuch darüber – stolz und stumm vor Wonne – neben ihm herging, schaute zu ihm empor und fragte zärtlich:

»Was willst, mein Jung'?«

Er neigte sich zu ihr nieder und küßte sie durch den Schleier auf beide Wangen…

Sie schwieg und verschluckte ein paar Thränen.

Fast in demselben Augenblick hatten auch die Backfische das Bedürfnis empfunden, einander einen Kuß zu geben, und sich sodann scheu umgeblickt, als gäb's eine Sünde zu verheimlichen.

»Guck mal,« raunte Leo der Mutter zu, »wie die Alten sungen!«

»Es ist eben zu viel Liebe in der Welt, die nicht weiß, wo sie mit sich hin soll,« sagte sie.

»Mutting,« lachte er, »dieser Gedanke hat Hosen an!«

»Warum, mein Jung'?« fragte sie.

»Weil er beinahe zu gescheit für eine Frauensperson ist.«

Die Mutter fand diese Bemerkung abscheulich, und auf Hertha übergehend, gab sie ihrer Befürchtung Ausdruck, daß er sie nicht richtig behandle und daß sie im Begriff stände, scheu zu werden, vielleicht gar sich gegen ihn zu verbittern.

Er wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblicke betraten sie den geheiligten Bezirk, welcher die kleine, anspruchslose Dorfkirche umgab, und wo unter dem Schatten uralter Linden die Sellenthins seit Jahrhunderten ihre Ruhestätten fanden. Eine Reihe epheuumschlungener Rasenhügel, jeder von einem schmucklosen Eisengitter eingefriedigt, zog sich längs der weißgetünchten Kirchenmauer hin, von dieser nur durch einen schmalen, kiesbestreuten Pfad getrennt.

Die Lindenkronen rauschten leise, und durch die hohen Bogenfenster drang in gedämpftem Brausen unbestimmt und dunkeltönig der Orgelklang an Leos Ohr.

Unwillkürlich blieb er stehen und faltete die Hände.

Die Mutter, die ihn wohl verstand, zog leise ihren Arm aus dem seinen und trat zurück. Die Mädchen waren vorangeeilt und auf der Giebelseite längst verschwunden.

Er fühlte, wie es aus seinem Herzen flutengleich emporschwoll.

Seit seinem vierten Jahre war er diesen Pfad gewandelt, und alles, was von Schmutz und Wegstaub je seinem Wesen angehaftet hatte, der Uebermut und die Schulnot des Knaben, der Trotz und der Sinnendrang des Jünglings, die Herrschsucht und die Wirtschaftssorge des Mannes, selbst jenes wilde, süße, unheimliche Etwas, das nunmehr ausgewischt sein sollte für immerdar, war dort vor dem kleinen, weißgestrichenen Bretterzaune abgeschüttelt worden, an dem die Gefährte wartend standen und an dessen Pforte – heute wie immer – zur rechten Seite die Brotfrau mit ihrem Semmelkorbe, zur Linken der Kirchenvater mit seinem Stelzfuß und der Veteranenmütze auf den Prellsteinen kauerten. – Stets war von den Gräbern der Ahnen her ein reiner, friedevoller Schauer ihm entgegengeweht, so daß er als ein Reiner, ein Entsühnter das Gotteshaus hatte betreten dürfen.

Und doch war das Gefühl andächtiger Weihe, das jetzt in ihm erwachte, mit nichts vergleichbar, was je sein leichtsinniges Herz mahnend und segnend durchbebt hatte … Staunend fragte er sich, wie er den dumpfen Druck, der all diese Jahre auf ihm gelastet, so unbekümmert hatte ertragen können, ohne an sich und der Welt irre zu werden … Jetzt erst, da er von ihm gesunken war, erkannte er, wie schwer er daran hatte schleppen müssen, und ein Gefühl unendlicher Seligkeit erfaßte ihn, daß er sich fortan als ein Befreiter würde fühlen dürfen.

Er ergriff die Hand der Mutter, die sich derweilen mit dem Unkraut zu schaffen gemacht hatte, welches aus den Ritzen der Gitterfundamente in die Höhe sproßte, und trat mit ihr gemeinsam vor das letzte Grab der Reihe – das des Vaters.

Leo Eberhard von Sellenthin.

Wehe dem, der da geizt zum Unglück seines Hauses.

Habakuk 3, V. 9.

So stand – nach dem Wunsche des Verewigten – auf dem schräg geschnittenen Marmorblock geschrieben.

Er war ein gewaltiger Mann gewesen, unwiderstehlich in Liebenswürdigkeit und fürchterlich im Zorn. Er hatte sich ein Heer von Liebsten gehalten und zur Ehre seines Hauses zwei herrliche Güter, Ellernthal und Rottwitz, von den Gästen aufessen lassen … Der alte Kletzingk, Ulrichs Vater, und Graf Prachwitz, Johannas späterer Gatte, waren seine Kumpane gewesen. Im Volksmunde erzählte man sich sogar das Märchen, er hätte in einer Stunde des Rausches seine älteste, jungerblühte Tochter an den waghalsigen Reiter und Wettrennenvagabund verspielt. –

Nun lag er schon im siebenten Jahre unter der Erde, und sein vernachlässigtes Weib, für das nur von Zeit zu Zeit ein Brocken nicht zu verwendender Liebe abgefallen war, seufzte noch heute, wie in seligem Traume, wenn es seiner gedachte.

Mutter und Sohn beteten ein stilles Vaterunser und sahen sich derweilen verstohlen an. Sie wollte wissen, ob er dem Vater den Verkauf der Güter verziehen habe – er, ob sie noch immer in sehnsüchtiger Liebe an dem Verewigten hinge.

Und dann lächelten sie beide.

»Hab schönen Dank,« sagte sie, leise seinen Arm streichelnd, »ich würde ihn noch lieb gehabt haben, und wenn er uns nackt am Wege zurückgelassen hätte.«

»Aber warum dankst du mir denn?« fragte er.

»Weil ich in deinem Gesicht lese, daß du ihm nichts mehr nachträgst.«

»Würde sich recht für mich passen!« erwiderte er, »da ich gerad so anfing, wie er aufgehört hatte … Aber schad't nichts, Mutting, jetzt geht's bergauf … Einen schönen Wahlspruch hab' ich, mit dem mach' ich alles, – der hilft mir über Dod und Deiwel hinweg. – Wie er heißt, behalt' ich lieber für mich … Denn wenn du wüßtest, was alles drum und dran hängt, du würdest schön Ach und Wehe schreien … Laß uns in fünf oder zehn Jahren mal über diese Sache reden: dann werd' ich dir auch sagen können, ob er Stich gehalten hat.«

Sie schritten nach der Sakristei, in welcher die beiden Mädchen auf sie warteten. – Die Gutsherrschaft hatte das Recht, von hier aus den Kirchenraum zu betreten, wo die ersten zwei Bänke, die mit Polstern belegt und von den hinteren Reihen durch eine hohe, eichengeschnitzte Lehne getrennt waren, zu ihrer alleinigen Verfügung standen. Der Pfarrer mußte die Kanzel schon bestiegen haben, denn die Sakristei war leer. Leo hatte ihn vor dem Gottesdienst zu begrüßen gedacht und ärgerte sich ein wenig, den vorherigen Besuch in seinem Hause versäumt zu haben.

»Ist Johanna da?« fragte er nach Elly hin, die durch die Ritze der Sakristeithür in die Kirche hineinschielte.

Sie, die im Anblick des Kandidaten versunken gewesen, welcher auf dem Platze der Pfarrfamilie schon saß, schrak zusammen, wie auf Diebeswegen ertappt.

»Was hast du?« fragte Leo.

Da schlang Hertha schützend den Arm um ihre Taille und maß ihn mit einem langen, feindseligen Blicke.

»Allons!« sagte er lächelnd und zog dann rasch die Stirn in würdige Falten, denn er wußte, daß beim Betreten des Kirchenraumes die Blicke all seiner Unterthanen auf ihm hafteten.

Das erste, was er gewahrte, war Johannas dunkles Auge, das eigentümlich flammend ihm entgegen sah und nicht von ihm weichen wollte.

Gleichmütig nickte er ihr zu, ließ aber die beiden Mädchen samt der Mutter vorangehn, um möglichst viel Zwischenraum zwischen sich und die Schwester zu legen. Er mochte sich durch ihre düsteren, rätselhaften Mienen die Behaglichkeit seines Zwiegesprächs mit Gott nicht stören lassen.

Der Pfarrer hatte sich in der Kanzelhöhlung auf die Kniee geworfen und den Kopf gegen die Kante des Betpults gestützt. Das Gesicht blieb in den Armen verborgen, und nur die wohlgeölte Wölbung des Schädels leuchtete zu der Gemeinde hernieder.

Leo warf einen prüfenden Blick zu ihm empor und murmelte mit verschmitztem Lächeln:

»Hat Katzenjammer!«

Der Haarpinsel, der just von dem Scheitel des würdigen Mannes lotrecht emporstieg und gleich einem Rohr im Winde hin- und herschwankte, war schon für Leos Vater ein untrügliches Zeichen gewesen, um den sabbatlichen Schlaftrunk des wackern Seelsorgers abzumessen. Von ihm war diese Wissenschaft schon frühzeitig auf den Sohn übergegangen, der seinen alten Lehrer, wenn derselbe guter Laune war, manches liebe Mal damit geneckt hatte. –

»Wollen sehn, wie er sich aus der Affaire ziehn wird!« dachte er, denn auf alle Fälle mußte der Alte, die Wiederkunft des hochmögenden Patrons zu feiern, sich beflissen fühlen, einen Hymnus zum Himmel zu schicken. – Er lehnte sich vergnüglich gegen die Rückwand des Sitzes, drehte die Daumen umeinander und fühlte sich bereit, das liebe Gotteswort, das extra geschaffen schien, um ihn zu verherrlichen, in Gnaden über sich ergehn zu lassen.

An den Stufen des Altars, auf dem Brettergetäfel des Chors, auf den Fliesen des Fußbodens, allüberall spielten und tändelten in roten, gelben und grünen Flämmchen die Sonnenstrahlen … Sie glitten verklärend über die fahlen Gesichter der Greise und ließen die Farben der Jugend noch heller leuchten … Sie kletterten an den blechernen Orgelpfeifen hinan und setzten sich lachend auf die löschpapierenen Lieder … Die Lindenzweige vor den bunten Fenstern neigten sich leise, als wollten auch sie den heimgekehrten Herrn begrüßen … Wenn die Blätter an dem Glase der Scheiben vorüberstrichen, ward ein Flüstern und Tuscheln laut, wie wenn Kinder vor dem Einschlafen miteinander kosen.

Eine trauliche, träumerische Heimatsstimmung lag über dem stillen Gotteshause …

Der Pfarrer Brenckenberg erhob sein Haupt.

Aus dem verschwollenen Angesicht schauten die Augen düster, bulldoggenhaft auf die Gemeinde herab … Sie glitten von einem zum andern, als wollten sie einen nach dem andern zum Frühstück verspeisen … Auf Leo blieben sie haften.

»Was ist denn dir heut in die Krone gefahren?« dachte der und begrüßte den Wüterich mit einem vertraulichen Zwinkern. Aber kein freundlicherer Blick gab ihm Antwort.

Das Gebet verrann. Auch die Epistel bot nichts Beachtenswertes … Aber in der Stimme des gewaltigen Mannes lag ein unheilvolles Grollen, das Leo an die schlimmsten Streiche der Knabenzeit erinnerte, jener Zeit, da die große, rote, aufgedunsene Hand dort oben noch den Kantschu über ihm geschwungen hatte.

»Geliebte im Herrn,« begann der Pfarrer, sämtliche zehn Fingerspitzen gegeneinander stoßend, »ich hatte diese Nacht einen seltsamen, erschreckenden Traum …«

»Ja, ja, Alterchen,« dachte Leo, »warum trinkst du abends auch so viel Bier.«

»Mir träumte, ich wäre Nathan, jener Prophet des alten Bundes, der zu Zeiten des gottseligen Königs David auf Erden wandelte und dem es vergönnt war, die größte Herrlichkeit des Volkes Israel zu schauen … Also dieser Prophet war ich …«

Er machte eine Pause und schneuzte sich … Als er sich wieder aufrichtete, rollten seine Augen so drohend in ihren geröteten Höhlen, daß Elly, die neben Leo saß, sich unwillkürlich enger an ihn drückte.

»Da erschien mir der Herr … der Herr Zebaoth, dessen Namen wir alle nur mit Schaudern nennen … Er war's und kein andrer … Sein Bart war aus Flammen gemacht – seine Augen waren Sonnen – ein langer Feuermantel hing ihm über die Schultern und bedeckte fast den ganzen Horizont … Ich fiel auf die Kniee und zitterte … Hat mich einer von euch schon zittern gesehn? … Noch keiner … Aber, Geliebte, beim Anblick des Herrn zitterte ich, – denn das ist keine Kleinigkeit … So ein Wengernscher Erzsünder, der tagsüber hinter den Heuschobern faulenzt und nachtsüber in den Schenken ›Schafskopf‹ spielt, würde einfach – huit! – in alle vier Winde auseinander geblasen werden, wenn Gott solche Lumpenhunde überhaupt seiner Erscheinung würdigte.«

»Das fängt gut an,« dachte Leo, der diese kleinen Scherze kannte, und schmunzelte vergnügt, – aber der Blick, den der Alte, neu einsetzend, auf ihn niederwarf, schien ihm nichts Gutes zu bedeuten.

»Und der Herr sprach zu mir – seine Stimme war wie das Brausen des Meeres, wenn der Sturm fürchterlich darüberfährt … Er sprach: ›Nathan, hebe dich auf und gehe zu David, deinem Könige und meinem Diener … Er hat Uebles gethan vor mir, und seine That stinkt zum Himmel‹ … ›Was hat er denn gethan, lieber Gott?‹ fragte ich … ›Was er gethan hat? Schäme dich, du saumseliger Priester, daß du darüber hinweggesehn … Des Uria Weib hat er verführt, und den Uria, den Hethiter, hat er töten lassen durch Joab, seinen Feldhauptmann, vor den Thoren von Thebae, damit sie bei ihm wohnete und er sie hielte als sein Eheweib …‹ ›Freilich, lieber Gott,‹ sagte ich, ›das ist eine schlimme Geschichte, aber du weißt ja, wie's auf Erden zugeht … Den Großen hienieden ist alles erlaubt, Rauben, Morden, Verführen, Falschzeugnisablegen und andre Todsünden mehr, während den Kleinen und Niedrigen, den Bauern und besonders den Bauernsöhnen nicht das mindeste gestattet wird‹ … nicht einmal in der Kirche mit dem Tabaksbeutel zu spielen … was sich die bewußten Leute auf den hintersten Bänken wohl merken könnten.«

Eine tiefe Stille entstand, nur im Hintergrunde ließ ein leises Geräusch sich hören, wie wenn man eiligst etwas zusammenknittert.

Leo schmunzelte diesmal nicht. Er hatte die gefalteten Hände von seiner weißen Weste sinken lassen und schaute ein wenig beunruhigt darein.

Der Alte fuhr fort: »›Und im übrigen, lieber Gott,‹ sagte ich zu dem Herrn, ›wie leicht könnte ich um mein schönes Prophetenamt kommen und müßte betteln gehn auf den Straßen, denn die Könige dieser Erde haben nicht gern, daß man ihnen die Wahrheit unter die Nase reibt‹ … Aber der Herr sprach: ›Fürcht dich nicht: was du thust, thust du in meinem Namen‹ … Damit war er verschwunden … Ich aber gürtete meine Lenden und machte mich auf, an den Königshof zu wandern … Dort denke ich nun den König David voll heißer Thränen in Sack und Asche liegen zu finden, wie er es in den schönen Bußpsalmen beschrieben hat, die ihr natürlich alle kennen müßtet, wenn ihr es nicht vorziehen würdet, am heiligen Sonntagnachmittag Kegel zu schieben, anstatt hübsch in der Bibel zu lesen … Aber was meint ihr wohl, was mein Auge schauen mußte? Herrlich und in Freuden sitzt er da, vor sich eine Flasche süßen Weines, seine geliebte Bathseba vor sich – denn so hieß die Weibsperson –, hat sich einen Schmerbauch wachsen lassen und hebt sein Glas auf, um mir eins zuzutrinken … Dabei ruft er mir entgegen: ›Na, feistes Pfäfflein, sieht man dich auch einmal?‹ … Denn, wie alle Großen der Erde, liebte er es, der Diener des Herrn zu spotten, die sie doch nicht entbehren können, wenn all ihr Volk ihnen gehorchen soll, selbst das greuliche Gesindel, das heute schon wieder in der Kirche einschläft … Ich aber war furchtlos, denn der Geist des Herrn sprach aus mir. Und ich zerriß mein Kleid und rief: ›Wehe, wehe, König, was hast du gethan?‹«

Leo täuschte sich nicht. – Während der Alte diese letzten Worte grell in die Kirche hinunterschrie, bohrten sich die kleinen, rollenden Augen zürnend in sein Gesicht.

Was bedeutete das?

Gab es einen Mitwisser mehr auf der Welt? Hatte das Geheimnis den Weg aus seiner Gruft emporgefunden, um dem Alten da oben durch seinen Schädel zu spuken?

»Ich aber warf mich zur Erde und raufte mein Haar,« so setzte er von neuem ein, indem er mit beiden Fäusten an seinen dünnen, zerfressenen Locken zerrte. »›Wehe, wehe,‹ so schrie ich, ›du Schänder deines königlichen Amtes! Du, der du rasest in deinem Reiche, der du wütest gegen die Gebote des Herrn. Ein himmlisch Feuer soll dich verzehren! Dein Gedächtnis soll ausgetilgt sein von dieser Erde, die du zum Schandanger deiner Lüste machst.‹ So schrie ich, und dem Könige rann ein Schauder über den sündigen Leib.«

In demselben Augenblicke fühlte Leo, wie etwas ihm heiß und kalt an seinem Nacken herunterlief.

»Zu dumm!« dachte er, das schräge Bankgeländer umklammernd. »Soll so ein Gezeter einen Mann wie mich zu Gewissensbissen verleiten?«

»›Was schimpfst du, dummer Pfaffe?‹ erwiderte mir darauf der König. ›Meinst du, ich werde Gewissensbisse kriegen?‹«

Leo fuhr zusammen. Bis auf den Wortlaut genau hatte der Alte seinen Gedankengang erraten.

»Und er nahm seine Weinflasche und wollte sie mir geradeswegs an den Kopf werfen. Aber der Glanz des Herrn fiel auf mich elenden Knecht herab, daß ich ihm hehr erschien und fürchterlich. Seine Rechte sank herab, und er stotterte ganz niedergeschlagen: ›Was soll ich thun, daß ich wieder lieb Kind beim lieben Herrgott werde?‹ … ›Das könnte dir so passen,‹ sagt' ich darauf, ›Buße sollst du thun, trauern und wehklagen sollst du in Sack und Asche über die eigne Fehle, denn deine That stinkt zum Himmel, spricht der Herr, dein Gott.‹«

Betroffen sah Leo vor sich nieder … Der da oben – halb war er Prophet und halb Hanswurst – aber recht hatte er. – Zum Himmel stank die That, das vermochte kein Leichtsinn wegzuleugnen.

»Und der König fing zu zürnen an und rief der Bathseba zu, die ganz erschrocken bei ihm stand: ›Hebe dich weg von mir, du Verführerin, denn ich hab' dich satt! … Um deinetwillen bin ich in den Sündenpfuhl hineingeraten, aus welchem keine himmlische Gnade mich mehr erretten wird … Du kannst dir einen andern Mann heiraten – mir wirst du nie mehr vor die Augen kommen.‹ Und die Bathseba, die sehr schön war von Angesicht und überhaupt ein Staatsweib vom Wirbel bis zur Zehe, hub zu weinen an und verhüllete ihr Angesicht … Aber da trat ich dazwischen, und so sprach ich allda: ›Verstoße sie nicht, denn sie ist deiner Sünden Geselle. Du sollst büßen für sie, wie du büßest für dich, und dich nicht sondern von ihr, damit du nimmer vergissest deine Fehle. Nur so kannst du versöhnen Gott den Herrn, der da sei gelobt in Ewigkeit – Amen.‹«

»Wo will das hinaus?« dachte Leo und sandte einen trotzig-forschenden Blick zur Kanzel empor, dem Auge des Pastors zu begegnen, das unter den eisgrauen Brauen hervor flammensprühend nach ihm herniederspähte.

»Da kam eine große Not über das Herz des Königs. Er sank in die Kniee und schrie: ›Herr, Herr, höre mich in meiner Angst!‹ … Aber der Herr erhörete ihn nicht … Und sein Zorn stand am Himmel geschrieben in flammenden Blitzen, und mit der Stimme des Donners rief er seinen Zorn hinunter zur Erde, daß die Höhen erbebten und die Flut erschrak zwischen den Ufersteinen. Und der König flehte: ›Nathan, Nathan, hilf mir schreien zum Herrn Zebaoth, auf daß sein Zorn sich wende von meinem Haupte‹ … Da sank ich nieder neben ihm und betete also: ›Herr, Herr, ich hab' ihn lieb gehabt, als er, ein Knäblein, kauerte zwischen meinen Knieen, und aus meinem Munde dein heilig Wort zum erstenmal zu ihm drang … Und er war treuen Sinnes – und sein Lachen war Glockenklang – und dein Sonnenschein lag auf seinen Locken, daß er war ein Labsal des Herzens allen, die ihn schauten … Herr, Herr, Sternenglanz weilte in seinem Auge, und die Unschuld hatte ein Lager in seiner Seele … Deine Leuchte sollt' er werden vor allem Volk, da du ihn falben ließest zu deinem Kämmerer auf Erden mit Israels heiligem Königsöl.‹«

Leo starrte zur Erde nieder. Er vermochte den Flammenblick des alten Lehrers nicht mehr zu ertragen. Die roten Fliesen des Bodens flimmerten vor seinen Augen wie Blutlachen.

Lautlose Stille herrschte in dem menschengefüllten Kirchenraum. Die düstre Gewalt dieser biblischen Rhetorik wirkte auf jedes, auch das einfältigste Gemüt. Beklommene Spannung lag auf den stumpfen, zerarbeiteten Gesichtern der Bauern und Tagelöhner. Es war, als fühlten sie alle, daß auch zu dieser Stunde Gott durch den Mund seines Dieners ein Strafgericht vollzog.

Doch nein – wie sollten sie! War doch selbst in den Seelen derer, die dem Gerichteten am nächsten standen, keine Ahnung aufgedämmert, wem diese Donnerworte galten – Mama schaute in verständnisloser Ruhe zu dem schäumenden Eiferer empor, Hertha maß ihn mit kühn erhobener, finsterer Stirn: Elly sandte von Zeit zu Zeit einen weichen, schüchternen Blick zu dem Platze der Pfarrfamilie hinüber, von wo aus Kurt Brenckenberg so eifrig mit ihr kokettierte, als der geweihte Ort und der famose Alte da oben es erlaubten.

Johanna war auf das Fußbrett niedergesunken und hielt das Antlitz in beiden Händen verborgen. – Regungslos lag sie da, nur bisweilen ging durch die hohe Gestalt ein Zucken, als ob geheimes Schluchzen sie erschütterte. –

Auch der alte Pfarrer oben hatte sich auf die Kniee geworfen. Er reckte in heißem Flehen die gerungenen Hände zum Himmel empor, und sein aufgequollenes Gesicht war ganz von Thränen überströmt. Mit einer Stimme, die in Weinen zu ersticken drohte, fuhr er fort:

»Hast du ihn reiten sehen auf hohem Roß, Herr, Herr, mein Gott, ihn, deinen Diener, herrlich an der Spitze deiner Schar, als er auszog wider die Amalekiter? Der Helm mir goldenen Zieraten blitzte auf seinem Haupte, und das Schwert, das er schwang für deine Größe, war wie ein Blitz in seiner Hand … Hast du gehört sein Saitenspiel, das gar lieblich klang zu deinem Preis – als er sang und spielte mit Harfen und Psaltern, heimzuholen die Lade des heiligen Bundes und dir zu bauen ein prächtiges Haus von Zedern und Elfenbein? Hast du vergessen, was er Gutes that gegen die Seinen und das Volk, das ihm unterthan war? … Wie er die Aemter weise bestellete und fröhlich war vor deinem Angesicht, o Herr? … Um der Liebe willen, die du ihm erwiesest, um der Liebe willen, die er uns erwies, fleh' ich dich an, o Herr, im Staube, und will nicht essen und trinken fürder, und will barhaupt gehen um Mittag und mit nackten Sohlen auf glühendem Gestein, bis du mein Wort erhört und erneuert hast den Bund mit David, deinem Diener, meinem Herrn.«

Er hielt inne und wischte die Thränen fort, die ihm in den Mund liefen. Aus den Bänken ward hie und da ein Stöhnen laut, ein altes Weib wimmerte, als steckte es am Speere. – Das Schluchzen ward allgemein. Kurt Brenckenberg wandte sich mit lächelndem Achselzucken nach der Menge um, dann schielte er verständnisinnig zu Elly hinüber. –

Inzwischen war auch der Augenblick gekommen, in welchem Mama nach ihrem Riechfläschchen verlangte. Alsdann pflegte es noch fünf Minuten zu dauern, bis sie entschlafen war. –

Zusammengekauert saß Leo da. – Er fühlte etwas wie einen schweren, kalten Stein sich auf sein Haupt herniedersenken, so daß sein Nacken unwillkürlich unter der Last sich beugte … Seine Brust war wie zusammengeschnürt … Er tastete streichelnd über die weiße Weste, die noch immer so tadellos erglänzte, wie in der frühen Morgensonne, doch war es ihm, als säßen große, gelbverwaschene Schmutzflecken darauf. – Ihm war, als müßt' er sich wehren. Einen Menschen brauchte er, zu dem er reden konnte. – Er neigte sich zu Elly nieder und sagte leise mit beklommenem Lächeln:

»Der Alte macht's einem warm mit seinem Gezeter.« –

Aus großen, leeren Augen sah Elly ihn an, wurde sehr rot und guckte wieder ins Gesangbuch.

Der Pfarrer hub sein Gebet von neuem an. Immer brünstiger wurde sein Flehen, immer thränenreicher die Qual, in der er rang. – Und derweilen wichen seine Blicke nicht für einen Augenblick von Leos Angesicht …

Wäre es nicht so natürlich gewesen, daß der abhängige Pfarrer seine Rede zunächst an den allmächtigen Kirchenpatron und Gutsherrn richtete, es hätte unmöglich zweifelhaft bleiben können, daß die Straf- und Bußpredigt ausdrücklich auf ihn gemünzt war. So aber blieb er äußerlich wenigstens vor dem schmählichen Verdachte bewahrt, der ihm im Herzen längst zur Gewißheit geworden.

Wie brandende Stoßwellen, dumpf und regelmäßig, in jedem Augenblicke sich erneuernd, kamen die Worte des Bauernpredigers gegen ihn herangerollt und erfüllten allgemach sein Hirn mit dem Drucke dumpfer Betäubung. Noch stemmte er sich dagegen mit aller Kraft und versuchte durch brutalen Spott der aufschießenden Qualgedanken Meister zu werden. – Aber vergebens … Zu mächtig prallten die Bilder aus verschollenen Jugendzeiten, die der einstige Lehrer geschickt in seine biblischen Phantastereien verwob, an seine schlaffgewordene Seele.

Und dann plötzlich fuhr er in die Höhe wie von einem Peitschenhieb getroffen: Von dort oben war der Name »Jonathan« drohend und schmeichelnd zugleich zu ihm herabgedrungen …

Er wußte wohl, warum der Alte den wuchtigen Körper weit über die Brüstung der Kanzel beugte, als gelüstete es ihn, dem reuelosen Sünder an den Hals zu springen: – – er wußte wohl, warum seine fleischigen Finger sich ihm entgegenspreizten, warum der breite, feiste Hals sich in dämonischer Energie ducknackig zusammenkrampfte …

Der Eiferer hatte den höchsten seiner Trümpfe ausgespielt und wollte dessen Wirkung, wenn möglich, mit den Fäusten verstärken.

Aber dessen bedurfte es nicht!

Jonathan! Der bloße Name hatte genügt, um das Bild des Freundes klagend und anklagend vor Leos Sinne zu zaubern. Mit seinen brennenden Augen starrte er ihm ins Gesicht, er, der Verratene: und zwischen den Donner aus Brenckenbergs Kehle drängte sich seine leise, gequetschte Stimme und fragte unaufhörlich:

»Warum hast du mir das gethan?«

Da ertönte ein Schrei aus weiblichem Munde, ein Keuchen der Angst in erstickender Kehle:

Johanna war in Ohnmacht gesunken.

Ein schwarzer, schleierumwallter Gliederhaufe, lag sie im Schatten der Kirchenbank auf den roten Fliesen.


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