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XXXIII.

Leo erfuhr die Unglücksnachricht durch einen Zettel, den Ulrich noch in derselben Nacht auf dem Münsterberger Bahnhof an ihn geschrieben hatte.

»Felicitas,« hieß es darin, »leidet so sehr, daß es mir nicht möglich war, sie auf die Reise mitzunehmen. Auch fürchte ich, daß ihre Fassungslosigkeit den Zustand des Kindes nur verschlimmern würde. – Wenn du noch magst, so nimm dich ihrer an.«

Ein hartes Wort, dieses: »Wenn du noch magst.« Und härter noch: es war verdient.

Leo fühlte eine dumpfe Erschütterung, die sich in einen nagenden Selbstvorwurf umsetzte, als trüge er selbst die Schuld an dieser unheilvollen Flucht.

Er raffte sich zu einem langen Briefe an Felicitas auf, worin er, unter dem Scheine unbefangenen Mitgefühls, ihr seine Zeit und seine Person zur Verfügung stellte und sie bat, ihn als Freund und Bruder an ihrem Kummer teilnehmen zu lassen.

Voll Furcht, daß sie auf sein Anerbieten eingehen würde, erwartete er ihre Antwort.

Dieselbe enthielt nur wenige Worte:

»Um Gottes willen, komme nicht! Ich flehe zu Gott bei Tag und Nacht! Du bist der letzte, den ich in meiner Angst um mich sehen kann.«

Drauf bat er Mama, daß sie der Trostlosen beistehen möchte. Mama, in tiefster Seele erschrocken, machte sich sofort auf die Reise, kam aber nach anderthalb Stunden unverrichteter Sache zurück. Sie war nicht angenommen worden.

Vier Tage voll banger Erwartung vergingen. Leo schickte zweimal täglich einen Boten nach Uhlenfelde, welcher durch Minna erfuhr, daß die Wiesbadener Depeschen zwar Hoffnung ließen, daß die Dinge aber trotzdem übel ständen. Die gnädige Frau läge meistens im Bette und betete: der Doktor aus Münsterberg käme an jedem Morgen.

Die Stunden von einer Nachricht bis zur andern wurden zu Ewigkeiten.

Leo wußte sich nicht anders zu helfen, als daß er die Büchse über die Schulter hängte und zwecklos durch die eingeschneiten Felder strich. Er beschäftigte sich damit, Orakelfragen zu ersinnen, ob das Kind leben bleiben oder sterben würde. Er zählte die Holzstapel an den Wegen, die querfeldein streichenden Hasen und die Knöpfe an seiner Jacke. Er zählte die Atemzüge, die er bis zu einer bestimmten Stelle machen mußte, die Sonnenblicke, die durch das schwarze Unterholz der Tannen brachen, und die Rabenschreie, die den schweigenden Forst durchhallten. – Ein stumpfsinniges Spiel mit wechselndem Ausgang.

Auch leistete er Gelübde aller Art, die er im nächsten Augenblick wieder vergaß. – Bisweilen wurde er fröhlich und fühlte sich als Dämon. Dann rief er einen Juchzer durch den Wald und erschrak vor seiner eigenen Stimme.

Abends fuhr er zu seiner Zerstreuung in die »Preußische Krone« und trank in Gesellschaft der Amtsrichter und Referendare Unmassen von Grog und Rotwein und ab und zu zwei Cognacs dazwischen. – Diese zwei Cognacs nannte man »ein Paar Flanellhosen«.

Auch alte Freunde fanden sich ein. Hans von Sembritzky, der dicke Hans, der seit seiner Verheiratung ein starker Trinker geworden war und der unausgesetzt von seinen »Viererzügen« erzählte, welche er als seine Spezialität betrachtete, – der ältere Otzen, bei Tage ein scheuer Melancholiker, abends nach der zweiten Flasche ein wilder Liedersänger, – Herr von Stolt, der unaufhörlich nach Weibern herumschnüffelte und durch Leo eine Wiederannäherung an Felicitas erhoffte.

Von dem Unglück, welches die Uhlenfelder betroffen hatte, war hier noch nichts bekannt. Auch Ulrichs plötzliche Abreise wunderte niemanden, denn er, der höchste Würdenträger des Kreises, war häufig unterwegs.

Der einzige, der wohl Bescheid wußte, war Doktor Senftleben, der Arzt, welcher Felicitas behandelte. Dieser schweigsame alte Junggeselle, der als Cyniker gefürchtet wurde, hatte die Gewohnheit, in einem Winkel sein Abendbrot zu verzehren, um darauf ohne Gutenachtgruß von dannen zu gehen.

Leo sprach ihn an und fragte, was Felicitas fehle.

»Nichts,« antwortete der Arzt und griff nach seinem Hute.

»Aber sie ist doch bettlägerig und wird tagtäglich von Ihnen besucht?«

»Sie hat das sogenannte Angstfieber, Herr von Sellenthin – und kriegt Morphium mit Himbeer – viel Himbeer … Aber beileibe kein Brom. Das gibt Pickel. Empfehle mich, Herr von Sellenthin.«

Am Morgen des fünften Tages, als Leo sich gerade ankleidete, kam Lizzies altes Faktotum schluchzend und händeringend in sein Schlafzimmer gestürzt.

»Was ist geschehen, Minna?«

Unglück über Unglück!

Paulchen sei tot, das gnädige Frauchen habe sich aus Verzweiflung vergiftet und wäre zwar noch am Leben, aber völlig bewußtlos. Man habe sofort nach dem Arzt geschickt, aber der gnädige Herr möchten sich erbarmen und hinkommen. Es ginge alles drunter und drüber.

Leo fühlte ein jähes Kältegefühl, das ihm vom Hinterkopfe aus bis in die Zehen und Finger hineinflutete. Er taumelte gegen die Wand.

»Es ist ja Unsinn – es kann ja nicht sein,« war sein erster Gedanke.

Dann sagte er sich: »Du mußt jetzt in deine Stiefel fahren« und ging um die Stiefel herum mit der Empfindung, es würden ihm für alle Zeit die Kräfte fehlen, diese That zu vollbringen.

Dann brach er in ein Hohngelächter aus, vor dem die Alte furchtsam in eine Ecke kroch.

So war's recht. – So mußte es kommen.

Das Kind tot – Lizzie im Sterben – nun fehlte nur noch Ulrich, der mit seinem kaputen Herzen den Ereignissen so wie so nicht gewachsen war – und dann kam er selber an die Reihe.

Er warf einen Blick nach der Wand, wo seine Waffen hingen. – Die Kugel für ihn war schon gegossen.

Er reckte sich – er streckte sich. – Eine mörderische Lustigkeit kam über ihn. – Dann kleidete er sich an und rannte der Alten, die keuchend zurückblieb, voraus, quer über die Schneefelder und den vereisten Strom nach Uhlenfelde zu.

Und während des Laufes fragte er sich fortwährend:

»Lieb' ich sie eigentlich?«

»Nein, ich liebe sie nicht,« antwortete er sich, »Liebe muß anders aussehen. Ich traure ja nicht einmal um sie. Meine Schuld an ihrem Tode scheint mir ja viel fürchterlicher als ihr Tod selber.«

Und das Kind … und Ulrich … Aus allem Unheil guckte nur immer wieder die Teufelsfratze der eigenen Schuld.

Auf dem Hofe von Uhlenfelde war alles wie gewöhnlich. Das wunderte ihn. Mindestens hätten die Scheunen brennen müssen.

Auf der Rampe stand der zweispännige Alltagsschlitten.

»Wer ist da?« fragte er den alten Wilhelm, der, rot gefroren, in würdevoller Starrheit unter der Pelzmütze hervorschaute, wie gewöhnlich.

»Der Doktor, gnädiger Herr.«

Im Hausflur begegnete er ihm. – In gemäßigter Eile, wie beschäftigte Aerzte pflegen, machte der alte Sonderling sich auf den Heimweg.

»Wie steht es, Doktor?« schrie er ihm entgegen.

»Na – den Umständen angemessen,« erwiderte der mit einer Grimasse.

»Was soll das heißen? Ist sie gerettet?«

»Das soll heißen, daß die Frau Baronin einen Katzenjammer hat, um den ich sie nicht beneide.«

»Hat sie denn nicht Gift genommen?«

»Gift? Hm! Sehen Sie, Gift ist ein relativer Begriff … Daß die Frau Baronin die Absicht gehabt hat, sich vom Leben zum Tode zu bringen, will ich gern glauben. Nur hat sie sich im Mittel vergriffen. Sie hat nämlich ihre Zahntropfen ausgetrunken, Herr von Sellenthin … So eine Aetherverdünnung mit Kreidnelkenöl schmeckt ja nicht gerade schlecht, Herr von Sellenthin, aber es gehört schon eine tüchtige Natur dazu, will man sich davon keinen Rausch antrinken … Nun scheint sie ihn ja ausgeschlafen zu haben und wird noch ein paar Tage lang an verdorbenem Magen laborieren … Empfehle mich, Herr von Sellenthin.«

Er stieg in den Schlitten, grüßte tief und fuhr von dannen.

Leo hatte ein widriges, flaues Gefühl, als wäre ihm ein heiliger Besitz mit übelriechender Lauge übergossen worden … Die Tragik, unter der sein Herz sich soeben noch gewunden hatte, löste sich in eine Farce auf.

Aber das Kind, das arme Kind blieb tot. Das rief keiner mehr ins Leben zurück.

Die Wut gegen das Weib da drinnen, die Wut, die so oft in den Momenten tiefster Willensohnmacht sein Wesen durchschüttelt hatte, wuchs zum kalten Hasse an.

Er hätte sie ermorden mögen um dieser unglückseligen Zahntropfen willen.

Alles, selbst der Wille, zu Grunde zu gehen, ward in ihrer Hand zum lauen, lügnerischen Spiele.

Aber das Kind war tot … blieb tot.

Ein Dienstmädchen, das, noch verstört vom ausgestandenen Schrecken, die Treppe herunterkam, fragte er, ob er die Herrin sprechen könne.

Sie antwortete scheu, sie wolle sehen, und eilte wieder empor.

Noch überströmt von Angst und Jammer, hustend und schluchzend, kam die alte Minna zur Thür herein und fragte mit gerungenen Händen, ob ihr gnädiges Frauchen noch lebe.

Er drehte sich um, ohne sie einer Antwort zu würdigen.

Die Alte humpelte die Treppe hinan. Er blieb allein.

Es dauerte lange, ehe jemand kam, ihm Bescheid zu sagen. Er wanderte zwischen den Truhen hin und her, hinter denen er einst als Knabe mit Ulrich Versteckens gespielt hatte, und dachte: »Was haben wir aus deinem Hause gemacht!« Ihm wäre es wie eine Erlösung gewesen, hätte ihn jemand mit Peitschenhieben über die Schwelle hinausgetrieben, die sein Fuß nun entweihte.

Statt dessen kam endlich strahlend und schmatzend vor Freude die alte Minna und erklärte, dem gnädigen Frauchen ginge es wieder gut – und das gnädige Frauchen ließen bitten.

Er biß die Zähne zusammen und folgte.

Was er von ihr wollte, was er ihr sagen würde, er wußte es nicht: er hatte nur das dumpfe Verlangen, seine Finger um ihren Hals zu legen und zuzudrücken. So sehr haßte er sie.

Und dann wurde er von Minna in ihr Schlafzimmer geführt.

Er war noch nie darinnen gewesen. Seit Fichtkampen, versteht sich.

Eine Flut ihres Opopanaxduftes drang ihm durch die geöffnete Thür entgegen. Er schaute in eine glutrote Dämmerung hinein, welche Streifen grellen, kalten Tageslichtes senkrecht durchbrachen. Ihm ward, als würde er in ein heißes, wohlriechendes Bad geworfen und der Deckel über ihm geschlossen.

Er blieb an der Thüre stehen und atmete schwer.

Die Alte zupfte ihn verstohlen am Aermel, er möchte näher treten.

Drüben im Bette lag sie. Ein Streifen des Tageslichtes strömte über sie her und verklärte ihr Angesicht. – Das weiße Kissen leuchtete wie ein Heiligenschein um sie herum, während das übrige in purpurnem Dunkel vergraben blieb.

»Ob sie das so hat einrichten lassen?« fragte er sich.

Ihr Antlitz war schlohweiß, ihre Augen blau gerandet, und unter den halbgesenkten Lidern hervor brach ein müder, bleierner Blick, der ohne Ausdruck an ihm hängen blieb.

Es schien, als wäre sie noch immer nicht ganz aus ihrem Rausche erwacht.

Auf Zehenspitzen näherte er sich dem Bette. Der schmelzende Schnee löste sich von seinen Stiefeln und blieb in mißfarbenen Spuren auf dem Teppich liegen.

»Felicitas!«

Sie hob ein wenig die linke Hand und winkte ihn an ihre Seite. Er rückte einen Stuhl dicht neben das Bett. Vor ihm stand der Nachttisch mit Flaschen und Fläschchen aller Art. Eines davon, welches leer war, trug die bedeutungsvolle Aufschrift: »Gegen Zahnschmerz« und drei Kreuze als Giftzeichen darunter.

Diese Kreuze mochten sie verführt haben, das Zeug zu trinken.

»Felicitas,« sagte er noch einmal.

Da schlug sie die erloschenen Augen groß und stier zu ihm empor und nickte langsam zwei-, dreimal, während ein bitteres Lächeln ihren Mund verzerrte.

»Felicitas, komm zu dir!« mahnte er, da ihn das alles beunruhigte.

Sie stammelte Paulchens Namen und wandte den irrenden Blick ins Leere. Es lag wie ein Abglanz des Todes auf diesem weißen, im Leiden versteinerten Angesicht.

Leo würde erschüttert und verängstigt vor ihr niedergesunken sein, hätten die Worte des Arztes ihn nicht hart und nüchtern gestimmt.

»Leo!« flüsterte sie, ohne ihn anzusehen.

»Was willst du?«

»Bist du mein Freund?«

»Das weißt du ja.«

»Leo, ich kann doch nicht leben bleiben … Leo, besorg mir Gift.«

Ein matter Schreck, der etwas wie Erlösung mit sich brachte, rieselte ihm durch die Glieder. Es war ihr also ernst ums Sterben, und in seinem Herzen dankte er ihr dafür.

»Versündige dich nicht, Felicitas!« sagte er, um etwas zu sagen.

Ein Ducken müden Jammers ging über ihr Angesicht, das in der Not der letzten Tage lang und spitz geworden war und tiefe Schattenfalten aufwies, die es älter, doch auch kräftiger machten. – Das war nicht mehr das rosige Lärvchen, das ihn lächelnd in den Abgrund lockte, ein Madonnenantlitz war es, hager und qualdurchfurcht.

So geziemte es sich für die Gefährtin seiner Schuld!

Und sein Haß schwand allgemach. Er fühlte zum erstenmal, wie sehr sie zu ihm gehörte.

Und dann fing sie zu reden an, leise, eintönig, ins Leere hinein: »Versündigen, sagt er! – Mein Gott, versündigen … Als ob es für mich noch so was wie eine Sünde geben könnte … Mein Paulchen ist tot, und ich lebe noch! Ich hab' mein Kind hingemordet, und ich lebe noch … Und da spricht er mir von Sünde … Kindesmord – das ist das Schwerste von allem … das hab' ich auf mich geladen … das soll ich tragen … das soll ich durchs Leben schleppen … Wie kann er das von mir verlangen, wenn er mich lieb hat?«

Er stutzte. »Kindesmord? Was soll das heißen?«

»Ich weiß, was das heißt,« sagte sie und lächelte.

Ihn überlief es kalt. Dies Weib war eine Verzweifelnde. Der Schmerz fing an, ihr die Sinne zu verwirren.

Ihre Finger tasteten auf der Bettdecke umher. »Wo ist deine Hand?« flüsterte sie. »Gib mir deine Hand! Ich fleh' dich an, gib mir deine Hand!«

Er streckte die Hand mechanisch aus, die sie mit feuchten, heißen Fingern ergriff.

»Neig dich zu mir,« flüsterte sie weiter. »Ich will's dir ins Ohr sagen, wie's gekommen ist.«

Er neigte den Kopf zu ihrem Munde herab, wie sie's befohlen hatte.

Und flüsternd sprach sie:

»Weißt du noch, jener Abend vor Weihnachten, als du kamst? … Da hab' ich dir meinen Jungen verkauft … Denn an jenen Stunden, als wir uns wärmten vor der Feuerung – weißt du noch? … an jenen Stunden ist er gestorben.«

»Du redst ja im Fieber, Felicitas!« rief er, sich aufrichtend.

»Pst!« machte sie, ihn wieder zu sich hinunterziehend, »Vor den Thüren da horchen sie – und es braucht's keiner zu wissen. Außer uns beiden braucht's keiner zu wissen. Es war drei Tage vor Weihnachten damals … ich wollte ihm gerade seine Bescherung zurechtmachen – und es war höchste Zeit dafür … Denn hatt' ich ihn auch in die Fremde hinausgejagt um deinetwillen, und Ulrich verheimlicht, wie sehr er sich unglücklich fühlte – auch um deinetwillen – so ganz entartet war ich doch noch nicht: – seine Weihnachtsfreude wollt' ich ihm gönnen … Aber da kamst du zur Thür herein. – Und da war alles aus! … Da hab' ich nicht mehr an Weihnachten gedacht ... und nicht mehr an mein Kind gedacht … Alles in mir hat dir entgegengejauchzt … Nichts hab' ich gewollt als mich verkriechen mit dir in irgend einem Winkel, wo keiner uns sah und keiner uns hörte … Und als du wegwarst, da bin ich wie im Rausch herumgelaufen … treppauf, treppab, immer treppauf und treppab … die Nacht über hab' ich am Fenster gestanden und nach Halewitz ausgeschaut … und vor dem Ofenfeuer hab' ich gesessen und hineingestarrt und nur das eine gedacht: ›So saß er mit dir vor der Feuerung‹ … Und als ich wieder zu mir gekommen bin – da ist's zu spät gewesen.«

»Warum zu spät?« stieß er heiser hervor, sich wieder aufrichtend.

»Gestern morgen,« gab sie zur Antwort, »ist Ulrichs Depesche gekommen, und gestern abend der Brief … In dem Brief hat alles gestanden … da kannst du es selber lesen … Er muß da irgendwo liegen. Geh, such ihn dir.«

Taumelnd erhob er sich und tastete mit irrenden Händen über den Tisch, den verhängnisvollen Brief zu suchen, aber er fand ihn nicht … Er durchspähte den ganzen Raum, der in seiner weichlich verschwenderischen Pracht, mit seinen Polstern und seidenen Decken, seinen halbverhüllten Spiegeln und elfenbeinernen Toilettenscherzen in geheimnisvollem Halbdunkel vor ihm lag.

Er irrte von Möbel zu Möbel, durchforschte Stück um Stück, und während er den Blick in dumpfem Erstaunen über all den glitzernden Trödel gleiten ließ, fragte er sich fortwährend: »Was ist es doch, was du suchst?«

Da hörte er vom Bett her ihre Stimme:

»Geh ins Ankleidezimmer daneben – da findst du ihn vielleicht.«

Ach ja, den Brief. – Richtig, der Brief! Und er öffnete die Thür, auf die sie ihn hinwies. Ein kleiner Raum, mit porzellanenen Fliesen ausgelegt, lag vor ihm … Die blendende Helle that seinen Augen weh … Er sah links, in den Boden eingelassen, ein Badebassin, zu welchem Stufen hinabführten, rechts einen Tisch mit marmorner Platte, den von drei Seiten hohe Spiegelwände umgaben und den in buntem Wirrwarr von Krystall und Schildpatt neue Werkzeuge der Toilettenkunst bedeckten, »Wie mag Er sich unbehaglich fühlen in all dem Pomp,« dachte er.

Da fiel sein Blick auf das gegenüberliegende Zimmer, dessen Thür weit offen stand. Ein schlichtes, eisernes Bettgestell mit weißgehäkelter Decke und einem Rehfellchen als Vorlage daneben war dort zu sehen … Photographien in dunklen Holzrahmen belebten die Wände. Und ihm gerade gegenüber, dreist und behäbig, mit lachenden Augen und prallen Backen – sein eigenes Bild!

Laut aufstöhnend fuhr er zusammen, und die Hände vors Gesicht schlagend, floh er zurück in das duftende, purpurne Gefängnis.

»Hast du den Brief?« fragte sie.

»Nein.«

»Hast du alles durchsucht?«

»Ich weiß nicht – ich glaub' ja.«

»Leo – was ist dir?« – Angst zitterte in ihren Worten.

»Mir – was mir ist?« schrie er aus, »Schämen thu' ich mich – schämen thu' ich mich!« Er reckte sich hoch in die Höhe und stürzte dann vor ihrem Bett auf die Kniee nieder.

Sie richtete sich in den Kissen empor und legte die Hand auf seinen Scheitel, während ihre Augen sich mit Thränen füllten.

»Mein armer Junge!« sagte sie, »du willst schon verzweifeln … Und du weißt noch lange nicht alles …«

»Was gibt's denn noch?« fragte er, von Angst geschüttelt.

»In dem Briefe hat's gestanden,« fuhr sie fort. »Allen ist beschert worden! Alle haben ihre Geschenke bekommen von Eltern und Angehörigen – zur rechten Zeit … Nur sein Platz ist leer gewesen … Das hat er nicht glauben wollen … Hat nicht glauben wollen, daß seine Mutter ihn vergessen hat – um deinetwillen … Und als die andern um den Weihnachtsbaum gespielt haben, da hat er sich heimlich fortgeschlichen … ohne Mantel, ohne Mütze … hat zum Postamt gehen wollen … hat nachfragen wollen, ob Mama nichts geschickt hat … nicht die Kanone und nicht die Soldaten … und das Taschenmesser … und alles, was er sich gewünscht hat … und was Mama ihm versprochen hat … Und hat das Postamt nicht gefunden und ist immer weiter gerannt – aufs freie Feld hinaus – im Schneegestöber herum … ohne Mantel und ohne Mütze. – Und weil er's nicht hat glauben wollen, daß seine Mutter ihn verlassen hat – um deinetwillen, Leo – darum ist er gestorben, – darum ist er – gestorben.«

Laut schluchzend lehnte sie die Stirn gegen den Kopf des Knieenden, mit den Händen seine Schultern umklammernd.

So weinten sie zusammen und wollten sich nicht trennen.

Und als sie endlich emporfuhren, sahen sie sich erstaunt und fragend in die Augen.

Das war nicht er – das war nicht sie … Zwei neue Menschen, eins geworden in ihrer Not, zusammengenietet durch Schuld und Verderben, freuten sich aneinander.

Sie lächelte ihn an, trostlos und glücklich zugleich.

»Lizzie, wir sind ja verloren!« stammelte er.

»Ja, wir sind verloren!« sagte sie und lächelte.

Und dann ging er. – – – – – – –


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