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IV.

Vor dem Hofthore machte er Halt.

Als er die Glocke ziehen wollte, fiel ihm ein wirrer Singsang ins Ohr, der sich in Salven gröhlenden Gelächters auflöste, um dann aufs neue und um so verworrener zu beginnen. Der Lärm schien aus dem Amtshause zu kommen, wo Ohm Kutowski samt den Inspektoren seine Wohnung hatte. Von dort her stammte wohl auch der Lichtstreif, den der Thorpfeiler seinen Blicken bis jetzt verdeckt hatte.

»Es geht also auch ohne mich fidel zu auf Halewitz,« sagte er stirnrunzelnd und versuchte dicht neben dem Staketenthor die Mauer zu überklettern, aber zur rechten Zeit fiel das gestoßene Glas ihm ein, das auf ihrer Brüstung eigens für Diebe und Aufreißer in den Cement hineingestampft war.

So blieb ihm nichts andres übrig, als um die Parkmauer herum nach dem hintern Gartenpförtchen zu schleichen, das Ohm Kutowski dereinst heimlich für ihn hatte anlegen lassen, damit seine Nachtschwärmereien dem Vater verborgen blieben. Daß der Ohm, so eifrig er auch den Helfershelfer spielte, dabei in seine eigene Tasche arbeitete, verstand sich von selbst, denn auch er hatte Grund genug, seine Katersteige dem Herrenhause geheim zu halten. –

Langsam trottete Leo an dem trockenen Parkgraben entlang, über den die hundertjährigen Halewitzer Linden ihre schwarzen Laubgewölbe breiteten, bis zu jener Stelle, die, wie er meinte, nur ihm und dem Ohm bekannt geblieben war. – Doch zu seinem peinlichen Erstaunen sah er die kleine Thür weit offen stehen: – und schlimmer noch: das Spiräen- und Stachelbeergesträuch, welches auf der Innenseite in dichter Wildnis den Ausschlupf verhüllt hatte und das man erst mit Mühe hatte durchbrechen müssen, war einfach ausgerodet und durch einen bequemen, kiesbestreuten Pfad ersetzt, der jedes böse Gewissen aufs liebenswürdigste nach dieser Diebespforte hinzuweisen schien.

»So straft sich alter Leichtsinn,« dachte Leo und erinnerte sich beklommenen Herzens derjenigen Periode seines Lebens, in welcher vor dieser Thüre Nacht für Nacht ein gesatteltes Pferd gestanden hatte, das vom Ohm Kutowski für ihn bereit gehalten und das gegen Morgen schweiß- und schaumbedeckt auf die Weide zurückgetrieben worden war.

»Aber wartet nur, ihr Halunken,« wetterte er vor sich hin – »euch werd' ich schon lehren, den richtigen Weg zu finden.«

Aus den Parterrefenstern des Schlosses erglänzte noch Licht. Dort zog eine breite, steinerne Terrasse sich entlang, die fast die ganze Rückseite des weitläufigen Gebäudes umspannte und deren Mauer altem Weine, der niemals reifte, die Rückendeckung bot. – Eine verwitterte Freitreppe, die von zwei pockennarbigen Sandsteinnymphen flankiert wurde, führte in der Mitte zum Garten hinunter.

Die Glasthür des Gartensaals stand offen, und die dreiarmige Hängelampe darin, welche den abgeräumten Abendbrottisch erhellte, ließ Ströme roten, warmen Lichtes über die Terrasse und zu den ehrwürdigen Häuptern der Nymphen hinabfluten, deren brüchiges Oval sich goldig umrandete.

Leo ging so leise, als der knirschende Kies und seine wuchtenden Schritte es erlaubten, dem Lichte zu. Er wich dem hölzernen Kioske aus, dessen weißgetünchte Pilaster, von drüben geschaut, den zopfigen Abschluß der Perspektive bildeten, er umschritt den Karpfenteich, aus dessen schlammiger Tiefe ein mattes Gurgeln emporquoll, und stieß mit dem Kopfe gegen den Obelisken, einen dummen, mit Mörtel verschmierten Backsteinbau, in dessen Mitte eine Bronzetafel die Heldenthaten des Fahnenjunkers Veit von Sellenthin, die er in der Schlacht bei Hohenfriedberg gethan, der Nachwelt verkündete.

»Dies Gerümpel hätte der Sturm wohl umschmeißen können,« dachte Leo und rieb sich mit ärgerlichem Lachen die Beule auf seiner Stirn.

In diesem Augenblick tauchten im Rahmen der hellerleuchteten Thür zwei Mädchengestalten auf, die einander umschlungen hielten und mit lässigem Wiegen sich gegenseitig vorwärts schoben. Auf den Köpfen zitterte der Goldflimmer des Lampenlichts, und den Schattenriß der jungen, schlanken Leiber umrandete eine schmale Glanzlinie.

Mit der Ungeniertheit junger Klosterfräulein, welche wissen, daß kein Mann mit ihnen unter einem Dache haust, hatten sie sich in Negligee geworfen und präsentierten sich in weißen Nachtjäckchen und mit hängenden Haaren.

Die eine überragte die andre fast um Haupteslänge. Von ihren gelösten Flechten, welche Haupt und Schulter umflossen, ging ein fuchsiges Leuchten aus – sie mußte bei Tage wohl brünett sein – während die andre, kleinere, das Sellenthinsche Goldblond auch jetzt nicht verleugnete.

Da sie Miene machten, in den Garten hinabzusteigen, flüchtete Leo rasch in das Bereich der Terrassenmauer, wo es ihm leicht wurde, sich in den Ranken der Weinspaliere zu verkriechen.

Allein sie blieben oben, setzten sich auf die Balustrade und baumelten mit den Füßen, so daß, wenn sie den Boden streiften, ein Regen von Staub, Sand und kleinen Steinen auf seinen Kopf herabfiel. –

Die Mädchen lauschten in den Garten hinab. Emporblickend, sah er die mattschimmernde Rundung ihrer Gesichter zu sich herniedergeneigt.

Ihm wurde ein wenig bang auf seinem Lauscherposten.

Es war ein holdes Backfischgeschwätz, das an sein Ohr schlug – untermischt mit Küssen und Gekicher. –

In einer der Stimmen, die leise und verschleiert klang, schwirrte etwas liebkosend, wie Taubengirren, – die andre war ein dunkler, voller Alt, der aus tiefster Brust emporzuquellen schien, und dessen Tonfülle durch das harte R, das ein wenig an den Reitstall erinnerte, nur noch erhöht wurde. – In der ersten fanden sich seine Erinnerungen an die kleine Schwester mit etlicher Mühe zurecht, die zweite mußte Johannas Stieftochter angehören, der reichen Erbin, die Mama in diesem einsamen Schlosse extra für ihn verwunschen hielt.

Man sprach von Kleidern, Freundinnen und Büchern, vom Frühaufstehen, vom Melken und Vogelfüttern – und schließlich sprach man auch von ihm. Der Brief aus Buenos Ayres, der heute angekommen sein mußte, zitterte noch in den Gemütern nach. –

Johannas Stieftochter enthüllte der Kleinen energische Pläne, welche ihm bewiesen, daß Mama schon tüchtig beim Werke gewesen war, den Goldfisch für ihn ins Netz zu ziehen.

»Weißt du, was ich werde, Maus?« sagte sie. »Ich werde an meinen alten Justizrat schreiben und ihn bitten, daß er mir das nötige Geld gibt, um eine Expedition auszurüsten … Damit werde ich nach Süd-Amerika gehn und ihn aufsuchen. Und werde so lange auf ihn einreden und ihm unser Halewitz in so leuchtenden Farben ausmalen, bis er das Heimweh kriegt und wieder nach Europa kommt. Und wenn wir auf Halewitz angelangt sind, werde ich sagen: ›Meine Mission ist beendet. – Leben Sie wohl.‹«

»Ich an deiner Stelle,« meinte Elly, »würde ihn dann heiraten.«

»Ich werde nie heiraten,« entgegnete Hertha. »Ich bin eine Waise und geh' ins Kloster.«

Leo drückte lächelnd die Augen zu. Der süße Unsinn drang wie Musik auf ihn ein.

Lauter tönte vom Amtshause her das trunkene Gelächter.

Hertha hub herzhaft zu schelten an. »Es ist ein Skandal, daß dieser Wirtschaft kein Ende gemacht werden kann … Der Herr treibt sich in der weiten Welt herum, und sein Hab und Gut wird unterdessen zu Grunde gerichtet …«

»Glaubst du denn, daß es so schlimm ist?« fragte ängstlich Ellys Stimme.

»So schlimm, daß es schlimmer nicht werden kann. – Sieh nur Ulrich Kletzingks Gesicht, wenn er auf den Hof reitet. Aber er kann ja nichts machen – ihm sind ja die Vollmachten nicht gegeben, sondern dem saubern Ohm Kutowski. O, wenn ich könnte, den Kerl würd' ich mit der Peitsche vom Hof runterjagen!«

»Das ist ja ein Hauptkerl,« dachte Leo, »den nehm' ich zur Frau – und wenn Höll' und Himmel sich auf den Kopf stellen.« – Aber zu gleicher Zeit fiel schwer die Sorge um Hab und Gut auf seine Seele. –

Drüben wurde vom Chore ein Trinklied gesungen, dessen Strophen in einer gröhlenden Kadenz ihr Ende fanden. In Leos Fäusten zuckte es, aber er bezwang sich: er wollte sich den Humor der Stunde nicht verderben lassen.

»Ich glaube, er ist auch dabei,« flüsterte Elly zaghaft.

Leo horchte auf.

»Natürlich ist er dabei,« lachte höhnisch Herthas Stimme, »er ist überhaupt immer dabei, wo's was zu lumpen gibt.«

»Kränk mich doch nicht immer,« klagte Ellys Stimme, »du weißt ja, daß ich für ihn schwärme.«

»Also die fängt auch schon an,« dachte Leo und beschloß, der Kleinen fortan streng auf die Finger zu sehen, denn die Verliebtheit war ein Sellenthinscher Familienfehler.

»Schwärm für ihn, so viel du willst,« erwiderte Hertha, »aber dann soll er auch frei und offen handeln, und sich nicht immer hinterrücks rein- und rausschleichen, wenn er zu Ohm Kutowski kommt. Das paßt sich nicht für einen, der die Ehre hat, von uns geliebt zu sein.« –

»Aber was soll er machen?« fragte Ellys Stimme betrübt. »Wenn Mama ihn sähe, so würde sie's doch dem Ulrich sagen, daß er sich rumtreibt. – Und das letzte Mal ist er bloß durch den Park gekommen, um mir das Ständchen zu bringen. Und das Lied von den ›lächelnden Sternen‹, das hat er ganz extra für mich gedichtet. Das hat er mir selbst gesagt. Und von dem Ständchen sagte er: ›Ich bin ein bißchen angekneipt gewesen, mein gnädiges Fräulein,‹ sagte er, ›sonst hätte ich ganz gewiß nicht die Courage gehabt …‹ Ach, er spricht ja so höflich und so bescheiden, und er ist gewiß ein außergewöhnlicher Mensch.«

»Na warte, du außergewöhnlicher Mensch,« dachte Leo, »du sollst mir unter die Finger kommen.«

In diesem Augenblicke rief eine behaglich sorgende Stimme den Kindern eine liebevolle Warnung zu: »Kommt rein, ihr werdet euch erkälten.« Dieselbe Stimme war's, in deren Bann sein flackernder Sinn Frieden und Stetigkeit gefunden hatte, solange er denken konnte.

Er fuhr hoch auf. Mit beiden Händen umklammerte er das Spalier, denn ein plötzlicher Drang erfaßte ihn, aus seinem Versteck hervorzustürzen und die alte Mutter in seinen Armen zu begraben.

Aber er bezwang sich.

Bevor er sich den Seinen wiedergab, mußte er die merkwürdige Wirtschaft des Amtshauses in ihrer Sünden Blüte kennen. –

Der Lichtschein, der die brüchigen Nymphenhäupter rötete, verschwand. – Die Treppenrampe sank in Dunkelheit. Kreischend drehte die bretterne Schutzthür sich in ihren Angeln. Dann wurde es still.

Leos Weg war frei. Er öffnete die Staketenpforte, welche den Park mit dem Hofe verband, und schritt auf altvertrautem Wege dem Lärmen zu, das in unsinniger Rücksichtslosigkeit über den schlafenden Platz hinhallte. Nicht einmal ein Hund schlug an, so sehr schien alles an diese Wirtschaft gewöhnt. –

Die Fenster der Amtsstube waren geöffnet … In dem Lichtscheine, der durch die Ritzen der Rouleaux hervorbrach, wogte in Wolken der befreite Tabaksqualm. –

Leo lehnte sich gegen das Fensterbrett, so daß er die Zecherschar bequem überschauen konnte.

An dem langen, grünen Tische, an welchem sonst die Polizei-, Standes- und Rentamtssachen erledigt worden waren, saßen die Herrschaften vergnüglich hingelümmelt.

Herr von Kutowski führte den Vorsitz. Mit seinem kahlgeschorenen Borstenkopfe und dem langen, schöngewellten Vollbart, der, reichlich in Schnupftabak gewälzt, vom Silberweiß bis zum Gelbgrün hinunterschillerte, mit seinen glashellen, stets thränenfeuchten Aeuglein und seiner roten, merkwürdig bewarzten und betüpfelten Nase bot er das Bild eines lustigen, derben Kumpans, der, wenn man ihn fallen ließ, ebensogut auf der Seite des Biedermannes, wie der des Spitzbuben zu liegen kommen mochte … Er hatte sein ungarisches Jagdkäppi verwegen auf das linke Ohr gedrückt, und zwischen seinen schwarzen Zähnen hing eine silberbeschlagene Meerschaumpfeife. – Leo kannte sie wohl: »Zum Dank für treue Freundschaft, dein Leo Sellenthin, stud. agr.«, stand obendrauf graviert!

Neben ihm hatten zwei nicht zum Hofe gehörige Gäste Platz genommen – links ein alter Tiermaler, der sich seit vielen Jahren allsommerlich in der Gegend herumtrieb und die Gastfreundschaft der Inspektoren brandschatzte, der »Kuh-August« genannt – rechts ein junger Herr, der Leo bekannt erschien, den er aber nirgends unterzubringen wußte. Sein hübsches, feistes, doch etwas fahles Gesicht, das von Schmissen kreuz und quer durchfurcht war, wie eine Eisbahn von den Spuren der Läufer, schaute mit kühler, etwas gezwungener Vornehmheit aus diesem Haufen von braunen, erhitzten und verwilderten Rusticusphysiognomien heraus, von denen selbst der Maler mit seinem struppigen Vollbarte nur wenig abstach … Er war an diesem Tische augenscheinlich der einzig Nüchterne, mochte wohl auch der Einzige sein, der das Biertrinken ernsthaft und kunstgemäß, gleichsam als Lebensberuf, erlernt hatte.

Dahinter folgten rechts und links die beiden Inspektoren von Halewitz, die Verwalter der zwei Nebengüter Wengern und Knutzendorf, samt vier rotwangigen, halbreifen Burschen, Wirtschaftseleven, wenn der Augenschein nicht trog: – der lange Braumeister, der zugleich das Schenkenamt versah, machte am untern Ende den Beschluß. – Das gesamte Beamtenpersonal, dem Leos Hab und Gut vier Jahre lang anvertraut gewesen, saß hier in fröhlicher Gewissenlosigkeit beisammen.

Er stützte voll grimmigen Humors das Kinn in beide Hände und wartete, wie die Katze vor dem Mauseloch, der Dinge, die da kommen sollten.

Der junge Herr mit dem zersetzten Gesichte, den man als »Herr Kandidat« bezeichnete und der in diesem Kreise eine große Achtung zu genießen schien, wurde stürmisch aufgefordert, einen Sologesang zum besten zu geben.

Er zierte sich ein wenig. »Haben Sie doch Mitleid mit Ihren eigenen Ohren, meine Herren,« sagte er schnarrend mit dem überfeinen, stotternden Accent, den unsre studentischen Stutzer kultivieren. Er sprach das »a« wie »ä«, das »ei« wie »ai« und das »r« wie ein gurgelndes »g«. Dann sang er:

»O lächelt hernieder, ihr lächelnden Sterne,
Und lasset es Nacht um mich sein –«

Hätte er geahnt, daß jemand vor dem Fenster auf der Lauer stand, der bei den ersten Worten seines Liedes einen leisen Pfiff des Erkennens ausstieß, er würde ein andres gewählt haben.

Allein er sang nicht schlecht. Seine Stimme klang in der Tiefe weich und schmiegsam und hatte in der Höhe jenen grellen Falsetton, der Mädchenseelen in Raserei versetzt. Seine Vortragsweise erinnerte mit ihren sentimentalen Verschleppungen und koketten Staccati an den Singsang der Tingeltangel, und wahrscheinlich stammte sie auch dorther. Jedenfalls hatte sie hier ihr Publikum gefunden.

Ein Sturm der Begeisterung brach los, als er geendet hatte.

»Der Sänger soll leben, vivat hoch!« brüllte Ohm Kutowski. Aber der Gefeierte fand das unschicklich. »Man sagt in solchen Fällen: ›Schmollis dem Sänger‹«, erwiderte er, zu eisiger Würde erstarrend.

Der Alte meinte, man müsse nur immer gemütlich sein, das wäre die Hauptsache, und der Maler, der schon etliche Zeit ingrimmig in sein Glas gestarrt hatte, stieß ein dumpfes Aechzen aus, das fürchterlich über den Tisch hinhallte.

Dieser Ausbruch des grauen Elends gab Veranlassung zu neuem Jubel. Die Lustigkeit begann sich zu überschlagen, nur der Kandidat mit dem zerhackten Gesicht lächelte nachsichtig und überlegen. Er trank auf das Spezielle des verzweifelnden Malers und machte dazu eine Verbeugung, als ob er einen Fürsten begrüßte.

»Silentium, Gesellschaft.« befahl der Ohm, mit dem Abguß seiner Pfeife gegen die Tischplatte klopfend. »Jetzt werd' ich euch eine Rede halten.«

»Alle Lumpen sollen leben!« schrie plötzlich, seiner Würde vergessend, der Kandidat in die Stille hinein.

»Inmitten unsres Jubels,« fuhr Ohm Kutowski fort, »wollen wir dankbar des edlen Gastgebers gedenken, dem wir diesen und alle sonstigen vergnügten Abende zu verdanken haben.«

»Fallara!« jodelte der Kandidat, rülpste sich und erstarrte wieder zu Stein.

»Mein lieber Neffe Leo, der wohl wußte, welchen Schatz er an seinem treuen, alten Ohm besitzt, an dem braven Ohm Kutowski, der lieber reines Wasser trinken würde und ohne Mädchen zu Bette gehn, als daß er nicht seine Pflicht thun würde bis in den Tod – jetzt können Sie losheulen, Sie Farbenkleckser.« –

Statt seiner heulte der Kandidat, und die ganze Gesellschaft heulte mit.

»Dieser Leo,« fuhr der Alte fort, »der ferner wohl wußte, daß er neben dem Wirtschaftsgenie seines alten Ohms gar nicht würde bestehen können, hat sich darum aus dem Staube gemacht und strolcht nun bereits seit Jahren in der Welt herum, vornehmlich um unsere kleinen Vergnügungen, meine Herren, durch seine lästige Gegenwart nicht zu stören. – Das ist eine zarte Rücksicht, für die ich den wackeren jungen Mann nicht genug loben kann. Dieser wohlerzogene Neffe, Leo von Sellenthin, er lebe hoch und nochmals –«

»Guten Abend, meine Herren,« sagte, die Thüre öffnend, Leo, der nicht annehmen konnte, daß er zum Betreten dieser Bühne je ein besseres Stichwort finden würde.

Ein entsetzliches Schweigen entstand.

Der Braumeister, ein langer Altbayer, schlug das Kreuz, die Inspektoren duckten sich, als ob sie Schläge fürchteten, der Kandidat blieb mit der Hand an seinem dürftigen Schnurrbart kleben, und Ohm Kutowski – der brave, alte Ohm – starrte kreidigweiß mit blauer Nasenspitze, das Bierseidel noch immer in der hocherhobenen Hand, dem heimkehrenden Neffen entgegen – ein Bild unfreiwilligen Willkommens. –

Glücklicherweise ereignete es sich in diesem Augenblicke, daß das Bierfaß, welches der Brauer hilfesuchend umklammerte, vornüber von seinem Gestelle fiel, um mit gewaltigem Getöse Leo in den Weg zu rollen.

Er stieß es mit einem Fußtritt zur Seite und ließ einen niederträchtig vergnügten Blick von einem zum andern gleiten.

Der Kandidat mit dem zerhackten Gesicht war der erste, welcher sich faßte. Er erhob sich gemessen und begann mit der Suade, die er als Kommersredner wohl vielfach zu erproben Gelegenheit gehabt hatte

»Wahrlich zur guten Stunde sind Sie heimgekommen, Herr von Sellenthin! – gerade während – während Ihre Freunde, Diener und Vertraute hier festlich versammelt sind, dem fernen Hausherrn ihre Huldigungen darzubringen, denn – e – heute ist ja der Tag – der Tag« – er räusperte sich, um rasch eine feierliche Bedeutung des Tages zu improvisieren – hierin mochte er wohl Meister sein – aber Leo überhob ihn der Mühe.

»Mit wem hab' ich die Ehre?« fragte er, sich in ganzer Statur vor dem schmächtigen Jüngling aufpflanzend.

»Kurt Brenckenberg – Guestphaliae Normanniaque,« erwiderte derselbe, indem er emporzuschwellen begann.

Leo schmunzelte. »Gehören Sie zum Hause?«

»Ich – e? – Ich bin hier Gast des Herrn von Kutowski,« erwiderte großartig der junge Mann.

»So dürfte Ihnen kaum das Recht zustehen, mich auf meinem Grund und Boden willkommen zu heißen. Haben Sie daher die Gefälligkeit, Ihrer Freude Zügel anzulegen, bis an sie die Reihe gekommen ist.«

Der schneidige Jüngling sank zusammen und grollte fürchterlich in sich hinein.

»Ja, Schockschwerenot,« rief Leo, einen zwinkernden Blick die Tafel entlang werfend, »gibt's denn für mich auf meinem Grund und Boden keinen Stuhl, keinen Gruß und kein Glas Bier?«

Alle schnellten von ihren Sitzen empor, und aus Ohm Kutowskis erstarrter Hand fiel klirrend das Seidel auf die Tischplatte nieder, die es von einem Ende zum andern mit braunen Fluten überschwemmte.

Leo that, als würde er erst durch diesen Unfall des Alten gewahr.

»Wie – Onkel – Du auch hier?« rief er: »ich denke, ich bin unter die Jugend geraten, die sich hinter deinem Rücken ein kleines, unerlaubtes Vergnügen leistet, und wollte eben mit darauf loskneipen. Aber nun freilich ändert sich die Sache … Geht es hier zur Nachtzeit immer so fidel her, lieber Onkel?«

Verbissenes Schweigen antwortete ihm.

Einer der Vorwerksverwalter hatte derweilen versucht, sich heimlich zur Thür hinauszudrücken, doch Leo erwischte noch zur rechten Zeit seinen Rockärmel.

»Nanu, alter Freund,« sagte er, »wollen Sie weg, ohne mir die Hand gegeben zu haben? … Freilich um elf Uhr nachts« – er sah nach der Uhr – »elf Uhr vierzig gar, da haben Sie auf Halewitz verflucht wenig zu suchen. Es ist besser, wenn ich Sie überhaupt nicht gesehen habe. Drum machen Sie rasch, daß Sie fortkommen.«

Statt des einen Mannes verschwanden zwei hinter der Thür.

Lachend sah Leo ihnen nach und wandte sich dann an die Inspektoren, die in Scham und Angst aus verquollenen Augen ins Leere starrten. »Wir alle, meine Herren, kennen das schöne Sprichwort: Man muß mit den Wölfen heulen. Geheult haben Sie alle vorhin – es war sehr schön, das kann ich Sie versichern – und wer die Wölfe sind – das werd' ich auch noch herausbringen.«

Sein Blick glitt zu dem Alten hinüber, der sich inzwischen gefaßt zu haben schien und grimmig vor sich hin brummelte.

Die Gemaßregelten holten stumm ihre Mützen und gingen.

Dann kamen die vier halbreifen Burschen an die Reihe. Mit einem Blicke lächelnder Verwunderung maß er die schlanken, schmal aufgeschossenen Gestalten, die in Reih und Glied wie vor dem Feldwebel aufpostiert standen.

»Willst du mich mit den Herren bekannt machen, lieber Onkel?«

»Bekannt machen – hä? – warum soll ich dich nicht bekannt machen?«

»Also bitte.«

Aber es beliebte ihm nicht mehr Rede zu stehn. Er paffte Rauchwolken um sich und brummte. Leo ließ ihn sitzen.

Es dauerte eine Weile, ehe er über Namen und Charakter der Jünglinge im klaren war.

»Seit wann hält Halewitz Eleven, lieber Onkel?«

»Seit ich Verwalter darauf bin, mein Sohn.«

In Leos Augen flammte es auf – aber er bezwang sich.

»So schreiben Sie Ihren Vätern, meine liebe Jungen, daß Halewitz sich fortan ohne Sie behelfen wird. Vorwärts zu Bette!«

Sie machten ihre Reverenz und drückten sich hinaus. Der grüne Tisch begann leer zu werden. Am oberen Ende saß noch der Oheim mit seinen beiden Gästen, und am Fensterbrette machte sich der lange Brauer mit seinem Achtelfaß zu schaffen.

Leo winkte lachend zu ihm hinüber. »Bekomm' ich nun endlich ein Glas zum Willkommen, Siglhöfer?«

»Wann S' mög'n,« stammelte in freudigem Schreck der Bayer und hielt mit seiner allzeit zitternden Hand ein Seidel unter den Spundkrahn.

Leo trank und wischte sich den Schnauzbart. »Nicht übel, Siglhöfer,« lobte er, ihm die Hand reichend, »das war der erste brauchbare Gruß, den ich bis jetzt in meinem Hause gekriegt hab'.«

Strahlend vor Glück, so leichten Kaufs davongekommen zu sein, schob sich der Brauer zur Thür hinaus.

Ohm Kutowski und der Kandidat saßen in allen Schattierungen der Wut schillernd dicht bei einander, während der Maler in grollender Verzagtheit vor sich niederstarrte.

Plötzlich erhob sich der Kandidat, ging Leo drei Schritte weit entgegen, grüßte mit affektiertem Lächeln und fragte näselnd:

»Pardon, geben Sie Satisfaktion?«

Leo steckte die Hände in seine Hosentaschen und maß von der Höhe seiner sechs Fuß herab den blassen, geschniegelten Jüngling, der sich vergebens bemühte, eine »dedaigneuse« Miene anzunehmen, dann fragte er lachend:

»Also Sie sind der Sohn von meinem alten Papa Brenckenberg?«

»Mein Vater ist der Pastor Brenckenberg aus Wengern,« schnarrte der kampfbereite junge Mann, »aber das gehört nicht hierher.«

»Und was macht der alte, liebe Papa?«

»Ich habe Sie gefragt, ob Sie Satisfaktion geben, Herr!«

»Dann grüßen Sie ihn hübsch von mir, und ich ließe ihm sagen, er habe sich da ein sauberes Pflänzchen zum Sohn herangezogen.«

»Was erlauben Sie sich? – Ich bin Corpsstudent, Herr.«

»Dann werden Sie sich noch tüchtig auf die Hosen setzen müssen, junger Mann,« erwiderte Leo, »bis Sie was sind.«

Der Kandidat verbeugte sich mit vollendeter Grandezza. »Ich habe hier nichts mehr zu suchen,« sagte er.

»Das merken Sie erst jetzt?« fragte Leo und wandte ihm lachend den Rücken. »Doch halt! – noch eins können Sie Ihrem alten, braven Papa bestellen: er möchte acht geben, daß sein Herr Sohn sich nicht noch einmal bei nachtschlafender Zeit im Halewitzer Parke rumtreibt, um dort schöne Lieder zu singen. – Sonst könnt's wohl passieren, daß man ihm den jungen Herrn am folgenden Morgen etwas von den Hunden zerbissen nach Hause bringt.«

Der Kandidat Brenckenberg warf ihm einen Blick voll souveräner Verachtung zu und schritt, geschwollen wie ein junger Hahn, zur Thür hinaus.

»Einer nach dem andern,« dachte Leo und wandte sich dem Maler zu. Der gewahrte kaum, daß nun die Reihe an ihn gekommen war, als er aufsprang und dem heimgekehrten Hausherrn mit heftigem Weinen um den Hals fiel.

»Schmeißen Sie mich nur raus,« jammerte er, »schmeißen Sie mich nur raus wie die andern alle – ich bin's nicht besser wert – ein Stümper bin ich – ein Faulenzer bin ich – dem lieben Herrgott stehl' ich den Tag weg – meine Kühe haben alle zu lange Beine, hat ein Kritiker gesagt, aber es ist nicht wahr – ich schwör' es Ihnen, hochverehrter Mann, sie haben wirklich so lange Beine.«

»Aber gewiß, Teuerster, beruhigen Sie sich.«

»Jetzt mal' ich ihnen überhaupt keine Beine mehr – rutschen lass' ich sie wie die Seekühe – das ist den Lumpen von Kritikern recht … Aber Sie sind mein Retter – Sie werden mir helfen – versprechen Sie's mir.«

Leo versprach alles, indem er den Betrunkenen sacht auf den Stuhl zurückdrückte.

»Du sorgst wohl für den Mann, lieber Onkel.«

Der brummte eine ungezogene Antwort.

Leo fühlte, wie ihm das Blut heiß in die Schläfen stieg. »Bleib bei Sinnen, ruhig! Vergäll dir die Stunde der Heimkehr nicht!« rief es in ihm. Und sich zur Ruhe zwingend, erwiderte er:

»Lieber Onkel, du verkennst deine Stellung zu mir.«

Der Alte spie umständlich um sich herum, dann sagte er mit herausforderndem Grinsen: »Mir scheint, ich kenne meine Stellung besser als du, mein Jungchen. Jedenfalls rat' ich dir, mich nicht noch einmal vor den Leuten zu blamieren, sonst müßt' ich deinem Gedächtnis ein bißchen auf die Sprünge helfen.«

Ein Zucken ging durch Leos Körper. Schon wieder war das Gespenst der alten Sünde vor ihm aufgestiegen.

»Schlaf deinen Rausch aus,« murmelte er und schritt hastig zur Thür hinaus.

Das höhnische Gelächter des Alten hallte hinter ihm her. – – –

Auf dem Hofe war es still und dunkel. Kühl strich der Nachtwind um Leos brennende Stirn, aber er spürte ihn nicht. Schäumend, mit geballten Fäusten ging er an den Ställen entlang, aus denen von Zeit zu Zeit das Schnaufen eines träumenden Tiers oder das Klirren einer Halfterkette an sein Ohr drang. Der Zorn, den er bis jetzt mit Inanspruchnahme seines ganzen Humors gewaltsam zurückgedrängt hatte, kam nun in der Einsamkeit um so heftiger zum Durchbruch.

Er hatte Zeit, sich kalt zu rasen. Niemand störte ihn, und erst der eiserne Kopf einer Deichselstange, gegen die er im Dunkeln unsanft gerannt war, brachte ihn wieder zur Besinnung.

Und plötzlich lachte er hell auf. Das alte Yankeespiel »auf Leben und Tod«, das er drüben so oft mit Grazie gewagt und gewonnen hatte, mußte auch in dem zahmen Europa seine Dienste thun, dem widerspenstigen Spießgesellen den Mund zu stopfen.

Und vergnügt mit den Armen schlenkernd wie ein Schuljunge, der einen schlauen Streich ersonnen hat, schritt er die Anhöhe zur Rampe des Schlosses hinan, das sich in klotziger Masse schwarz von dem dunkelblauen Nachthimmel abhob.

Hinter ihm in ungeheurem Bogen lagen die Wirtschaftsgebäude, rings um den schilfbewachsenen Teich gruppiert, auf dessen Spiegel ein unbestimmtes Leuchten das mitternächtige Morgenrot verkündigte.

Aus der oberen Fensterreihe des Schlosses schimmerte noch einsam ein Licht.

Eine jubelnde Sehnsucht packte ihn. »Hurra, jetzt geht's zu Muttern!« schrie er und warf die Mütze in die Luft. Sie flog über den hohen Zaun hinweg und fiel in den Garten.

»Soll ich wie ein richtiger Vagabund sogar ohne Mütze nach Hause kommen?« fragte er sich lachend, aber ihm blieb keine Zeit, hierüber nachzudenken. Sein Jauchzen hatte einen der Hofhunde geweckt, in dessen Gebell zwei oder drei andre aus fernen Winkeln her einstimmten.

Die Biester schienen festzuliegen. Wohl auch eine Neuerung des braven Ohms, damit die Waden seiner nächtlichen Saufkumpane keinen Schaden litten.

Und dann fiel sein Freund Leo ihm ein.

Einer Cäsarenlaune Raum gebend, hatte er einst seinen Lieblingshund mit dem eigenen Namen getauft: »damit die Kerls wüßten,« so hatte er gesagt, »daß sie das brave Vieh als meinen Stellvertreter zu ästimieren haben.«

»Leo!« schrie er mit der Vollkraft seiner Lunge.

Für einen Augenblick wurde es still.

»Leo!« rief er zum zweitenmal.

Und dann plötzlich brach ein Toben aus, ohrzerreißend und markerschütternd. Ein Wahnsinn schien die Tiere gepackt zu haben. Das Klirren der geschüttelten Ketten, das Knirschen der Zähne, die in die ehernen Glieder bissen, mischte sich in ihr Geheul … Jubelnde Liebe, sehnsüchtige Treue, die lautersten Gefühle, welche die Brust eines lebenden Wesens bewegen, fanden ergreifenden Ausdruck in dem wilden Gebaren dieser kettenbeladenen Bestien.

Leo fühlte sein Auge feucht werden. »Es ist Zeit!« dachte er. Der Klopfer des Portals hallte dröhnend durch das Haus. In dumpfem Rollen trug das Echo den Schall an Leos Ohr zurück.

Oben in dem erleuchteten Zimmer wurde ein Fensterflügel aufgerissen. Eine weiße Gestalt neigte sich heraus.

»Wer ist da?« rief eine Frauenstimme, die er erkannte.

»Johanna – du?«

Ein Aufschrei – doch wollt's ihn dünken, als wär's kein Schrei der Freude gewesen. Die Gestalt der Schwester war verschwunden.

Zwei lange, bange Minuten vergingen.

Die Hunde heulten weiter. In den Ställen begann es sich zu regen. Laternenschimmer huschte hin und her, Weckrufe erschallten.

Endlich kamen drinnen in der Halle schlürfende Schritte dahergeeilt. Laute, die halb wie Lachen, halb wie Weinen klangen, mischten sich darein.

Der Schlüssel drehte sich kreischend.

Da stand sie, die liebe, dicke, lustige Mama – die Nachthaube schief auf den krausen, grauen Haaren, die weiße Jacke falsch zugeknöpft, ungleiche Pantoffeln an den Füßen. Da stand sie, das Licht in der zitternden Hand emporhaltend, während vereinzelte Tropfen ihr leuchtend über die Backen rollten.

»Leo – mein Jungchen – mein Jungchen!« Es war ein wirres, schüchternes Liebkosen in diesem Gestammel, als wagte sie noch nicht, den Sohn als Sohn in ihrem Herzen zu empfangen. Und dann gab sie sich einen Stoß und hängte sich an seinen Hals, während das Licht, das sie nicht hatte loslassen wollen, einen Stearinregen auf seinen Rücken niederträufelte.

In das Schweigen, das nun entstand, drang herzzerreißend das Heulen und Winseln der Hunde, die mit Gewalt nach ihrem Herrn verlangten. Auch die Mutter hörte den Lärm.

»Wissen die's auch schon?« fragte sie, indem sie sich aufrichtete und, emporlangend, seinen Kopf in ihre Hände nahm.

Er nickte und küßte die Finger, die in ängstlichem Tasten an seinen Wangen entlangglitten.

Da überwältigte sie das Glück mit neuer Gewalt. Sie stellte das Licht auf eine Treppenstufe, und daneben niederkauernd, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und weinte bitterlich.

Ein Gefühl der Beschämung beschlich ihn: so viel Liebe hatte in Sehnsucht seiner geharrt, und er war mit brutalem Lebensdurst einfach darüber hinweggeschritten.

Er stellte sich vor sie hin und streichelte halb sinnend, halb gedankenlos an dem gehäkelten Saum ihrer Nachthaube entlang, unter welchem das graue Haargekräusel spärlich hervorsproß.

Aus dem Hintergrunde der Halle quoll neuer Lichtschein. Eine gebrechliche Männergestalt kam zitternd und zögernd daher.

Die Mutter ließ die Hände sinken, und aus weinenden Augen lachend, rief sie:

»Komm, Christian, komm! Hab keine Angst, du dummer Kerl. Er ist es ja – sieh ihn dir doch an – er ist es ja.«

Der alte Silberdiener – angethan mit Leos ehemaligem Schlafrock und Leos ehemaligen Pantoffeln – ließ vor Schreck und Freude Licht und Leuchter auf den Fliesen zerschellen.

Zärtlich und unterthänig – halb Sklave und halb Vater – beugte er sich auf die Hand seines Herrn herab und wischte ängstlich die Thränen fort, die aus seinen Augen darauf niederfielen …

Ein neues Gefühl der Beschämung wandelte Leo an. »Merkwürdig, solch eine Dienerseele,« dachte er. »Man hat sie ihr Lebtag geschunden und geplackt, und dafür hängt sie an einem, wie am lieben Gott.« Und laut sagte er: »Laß gut sein, Christian, wir befreuen uns noch miteinander. Jetzt geh die Hunde losmachen. Die Biester werden sonst noch toll.«

Der Alte schlug den Schlafrock zusammen, der, über der Brust geöffnet, das arme Greisengerippe bloßgelegt hatte, und zog wortlos auf seinen klapprigen Beinen von dannen.

Die Mutter hatte inzwischen begonnen, sich ihres äußeren Menschen zu schämen, und nachdem sie im Gartenzimmer Licht gemacht hatte, eilte sie, immer noch zwischen Lachen und Weinen, hinaus, sich ein Kleid überzuwerfen.

Leo blieb allein.

Die Hängelampe, deren Flamme vorhin die beiden Mädchengestalten mit goldener Glorie umrandet hatte, leuchtete grüßend ihm entgegen.

Sein halbes Leben, seine Träume, sein Glück und seine Sünde – alles stand irgendwie im Zusammenhang mit dieser Flamme, die über seiner Jugend geleuchtet hatte als eine liebe, schweigende Vertraute.

Mit langen Schritten umkreiste er den Tisch, auf dem in der alten Majolika-Urne mit den züngelnden Drachenköpfen ein Busch von Gloire de Dijon-Rosen, in der Tageshitze schon ermattet, seine Häupter sinken ließ. Ein Strickzeug und ein Album lagen daneben, obenauf die Tagesrechnung der Wirtschaftsmamsell, die sie vor dem Schlafengehen hier niederzulegen hatte … So war es vor dreißig Jahren gewesen, so war es heute.

Sein Blick glitt an den Wänden dahin. Da hingen die alten Bilder: Nelson in der Schlacht bei Trafalgar – der brave Nelson mit dem Dreimaster und dem Fernrohr – ringsum Pulverqualm und zuckende Feuerstrahlen. Mit sechs Jahren schon hatte er Nelson gespielt und sich aus Stühlen eine Kommandobrücke gebaut, dieweil Ulrich und Johanna rings um ihn »Hurra!« schreien und Streichhölzer hatten abbrennen müssen.

Johanna fiel ihm ein. Wo blieb sie? Warum kam sie nicht, sich in seine Arme zu werfen?

»Sie wird sich schön machen wollen!« dachte er und schmunzelte.

Auf der Kommode mit den bauchigen Schubladen und den vergoldeten Löwenklauen stand immer noch die berühmte Pendüle, die sein Großvater Anno 14 aus Paris mitgebracht hatte. Sie stellte ein Viergespann dar, das von einer Viktoria gelenkt wurde. Das Rad des goldenen Triumphwagens war das Zifferblatt, und jedesmal wenn der Stundenschlag sich meldete, drehte sich schnurrend wie ein Spinnrad die flammende Sonne, die dessen Achse bildete.

Ueber der Kommode hing in seinem Hirschhornrahmen das Bild jenes Sechzehnenders, den König Friedrich Wilhelm I. Anno 1726 im Amte Fürstenwalde geschossen hatte: die Müllerin und der Schornsteinfeger – zwei kokette vieux saxe-Figürchen, die zu beiden Seiten auf brüchigen Konsolen standen – warfen sich noch immer verliebte Blicke zu, uneingedenk dessen, daß sie mit jedem Jahre älter und wertvoller wurden.

Alles von dem alten, lieben Gerümpel stand auf dem vertrauten Platze, selbst die Gipsbüste Friedrich Wilhelm IV. auf dem Zigarrenschranke, die in der Länge der Jahre von Lampendunst und Tabaksqualm gelbbraun verräuchert war, hatte noch keinen Nachfolger erhalten. An Halewitz schien die Periode der drei deutschen Kaiser spurlos vorübergegangen.

Leo ging von einem Stück zum andern, besah und betastete, was ihm unter die Hände fiel, und wurde nicht müde, Feste des Wiedersehens zu feiern.

Plötzlich erhob sich in der Halle ein Geräusch, das wie eine Windsbraut dahergesaust kam – ein Rauschen – ein Wirbeln – ein Pfauchen – ein Heulen.

Die Thür schlug zurück – und herein raste die Meute, vollkommen verwildert durch Sehnsucht und durch Freude, mit herabhängender Zunge und schaumtriefenden Kiefern, um sich beißend und einander zu Boden stampfend. Sie brandete an ihm empor, als wollte sie ihn verschlingen. Allen voran kam Leo, der gelbe, löwenmähnige Namensvetter – dann die zwei braven Bulldoggen, welche den Pferdestall bewachten, – die schottischen Windhunde, deren Stammeltern der Vater zur Hasenhetze hatte kommen lassen, – die keifenden Teckel, die aus wütender Eifersucht den andern in die Beine bissen – selbst Mutters alter, fetter Mops, der nichts wie Fußtritte von ihm geerntet hatte, ließ es sich nicht nehmen, hustend und prustend seine Freude zu beweisen. – Wie aber bei allem Gesindel der die meiste Liebe für sich beansprucht, der ihrer am wenigsten würdig ist, so geberdete sich am wildesten ein junger Hühnerhund, der ihn naturgemäß nicht kennen konnte. Er sprang über des Leonbergers zottigen Rücken hinweg auf seinen Schoß und leckte ihm ungestüm die Ohren.

Lachend schüttelte Leo das zärtliche Völkchen von sich ab und schob es mit einem umgekehrten Stuhle zur Thür hinaus. Nur der Namensvetter durfte bei ihm bleiben. Er legte sich mit ruhiger Würde zu seinen Füßen nieder und sog in langen Zügen die Witterung des langentbehrten Herrn in sich auf, wie einer, der etwas Köstliches genießt.

Dann kam die Mutter wieder herein. Sie hatte die Nachthaube abgelegt und einen Morgenrock übergezogen. Das Grauhaar war eilends geglättet, und unter dem Kinn steckte gar eine Spange.

Sie fragte, was alle Mütter fragen, wenn ihre Söhne aus der Fremde kommen: ob er Hunger habe.

Nein, nur müde wäre er. – Ein wohliges Ermatten hatte seine Glieder gefangen genommen. – Drei Stunden Schlaf – dann sollte das Wirtschaften beginnen.

Doch wo blieb Johanna? Sie die ihn zuerst gesehn hatte, wollte sie ihn zur Ruhe gehen lassen, ohne ihn begrüßt zu haben?

Die Mutter wurde verlegen. »Sie läßt sich entschuldigen,« antwortete sie. »sie fühlt sich nicht vorbereitet genug, dich wiederzusehn – sagt sie.« –

»Nanu, Mutting?! Seit wann sind denn Vorbereitungen nötig zwischen Johanna und mir?«

Die Mutter machte ein bekümmertes Gesicht, ergriff seine Hand und streichelte sie.

»Hier ist auch wieder mal was nicht in Ordnung,« dachte er und beschloß, der Sache morgen in der Frühe auf den Grund zu gehen.

Aber die Mutter, die ein wenig kurz von Gedanken war, lachte schon wieder.

»Was für einen großen Bart du hast,« sagte sie bewundernd, »und das Haar trägst du ganz kurz – und so braun bist du, so braun. – Es ist gerade so, als kämst du aus dem Manöver.« –

Und während sie ihn liebkoste, glitt ihr Blick in scheuer Prüfung an ihm herauf und herunter.

Ein Untertan von Angst lag trotz aller stolzen Zärtlichkeit in ihrem Wesen. – Als eine Art von verlorenem Sohne kam ja auch er in die Heimat zurück. – Von Träbern hatte seine Seele sich genährt, doch war sie davon stark und gesund geworden.

Noch lag Schweres unausgesprochen zwischen Mutter und Sohn, und das Schwerste mußte unausgesprochen bleiben.

»Ich will sehn, ob dein Bett bereitet ist,« sagte sie aufstehend und strich mit der Hand an seinen Bartzipfeln entlang.

Als sie die Thür des dunkeln Nebenzimmers öffnete, fuhr sie erschrocken zurück und stieß einen Schrei aus – ein gleicher Aufschrei – nur etwas erschrockener noch, gab von der andern Seite Antwort … Gleich darauf sah Leo einen weißen Schimmer – und dann noch einen – in der Finsternis verschwinden.

Mama wandte sich um und sagte mit einem Schmunzeln: »Die Mädels waren's.«

Vor seinen Augen stand das liebliche Doppelbild, das er auf der Terrasse geschaut hatte. »Nur immer 'rein!« rief er und stand auf, um zur Thüre zu gehn.

Aber die Mutter wehrte ihm lachend. »Laß sie um Gottes willen laufen,« sagte sie, »sie waren im Hemde.« –


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