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XIII.

Hertha fühlte sich unglücklich.

Sie hatte zu viel Hoffnungen auf Leos Wiederkunft gesetzt, als daß sie nicht hätte enttäuscht sein müssen. Sie hatte für ihn gebetet und gebangt, für ihn gearbeitet und gesorgt, und sah sich nun ohne Dank in den Winkel geschoben. – Seine Neckereien verwundeten sie, der Gehorsam, den er verlangte, schien ihr ein Schimpf, und seitdem ihre Stiefmutter in das Witwenhaus übergesiedelt war, dachte sie ernstlich daran, Halewitz für immer zu verlassen. – Schon drei Briefe hatte sie an ihren Vormund aufgesetzt, in welchen sie verlangte, abgeholt zu werden, und sie dann wieder zerrissen.

Denn leicht war es nicht, sich von diesem grünen Fleck Erde zu trennen, an dem die Sonne heller schien und die Herzen wärmer schlugen, als irgend sonstwo in der Welt!

Niemand – selbst Großmama nicht – ahnte etwas von diesen Herzenskämpfen. – Sie kamen und verschwanden, als wären sie nie dagewesen. – Sie waren ein Luxus für die Mußestunden. Bei roten Sonnenuntergängen und bei blassem Mondenschein, in glitzernder, summender Waldeinsamkeit und aus taufeuchten, stillen Wiesenwegen stellten sie sich von selber ein, und waren fort, sobald eine Menschenstimme sich meldete. – Eine schmerzende Wollust lag darin, ein Trotz, der nach Anschmiegen verschmachtete, eine Kampflust, die nichts lieber begehrte, als sich in wehrloser Niederlage langsam zu verbluten.

Dann wieder tollte sie in Haus und Hof herum, wie je zuvor, jubelnd und muckend, nach Lust und Laune, trieb Allotria mit allem Getier, und da sie nicht mehr zum Melken gehen durfte, schlief sie aus Aerger, bis die Sonne hoch am Himmel stand …

Elly zottelte willenlos hinter ihr her, wie sie immer gethan: nur wenn ihr das Treiben der Freundin zu arg wurde, streikte sie oder ging gar zu Großmama, sich zu beklagen, wofür sie dann wieder von Hertha heruntergeputzt wurde.

Im übrigen sorgte Großmama dafür, daß die Bäume, nicht in den Himmel wuchsen. Nun es in der Wirtschaft nicht viel mehr zu thun gab, wurde vormittags Französisch gelesen, Handarbeit gemacht und Schulhoffsche Salonmusik geübt: nachmittags gab's Betstunde drüben bei Mama: alsdann erst durfte man spazieren laufen oder zum Baden fahren, oder schmökern, soviel das Herz begehrte.

*

Es war an einem dunstig schwülen Abende zu Anfang des September. –

Wie eine Fläche flüssigen Silbers lag der Strom mattleuchtend da. – Blauschwarze Wolken quollen am Horizont empor. – Aus ihrem Schoße loderte bisweilen ein fahler Schein, der ohne Nachhall wieder verschwand.

Auf der Höhe der Uferböschung stand blank und fett der Fuchspony halbangeschirrt vor seinem Korbwägelchen und schlug mit Schweif und Mähne die Bremsen fort, die heute frecher wüteten als sonst. – Ab und zu sandte er ein sehnsüchtiges Wiehern nach dem Stromufer hinunter, dorthin, wo über die schwarzwolligen Kolbenhäupter des Röhrichts hinweg die weiße Zeltwand eines Badehauses leuchtete … Langgezogene Schreie, halb voll Angst und halb voll Jubel, wie junges Weibervolk sie wohl im Wasser auszustoßen pflegt, erschollen aus dessen Inneren.

Lange dauerte es, bis die linnenbeschlagene Thür sich öffnete.

Hertha, glutrot im Gesichte, noch dampfend von der feuchten, heißen Luft da drinnen, erschien mit einem Sprunge auf der Landungsbrücke, die heftig schwankte … Elly, die etwas bleichsüchtig war und im Bade noch weißer wurde, steckte ihr zartes Nasenspitzchen behutsam hinterdrein, wartend, bis Hertha das gefährliche Brett verlassen haben würde. Dann erst kam sie vollends zum Vorschein.

Neben dem Badehause, an dessen linkem Pfeiler angepflöckt, schaukelte auf dem schwarzen Wasser ein leichtes Kielboot, das sich seit langem unbenutzt und ungepflegt herumgetrieben haben mußte. Die Bänke fehlten, die Steuerriegel waren herausgerissen, und auf dem Grunde zwischen den schlanken Rippen klatschte und gurgelte bei jedem Schwanken eine mißfarbene Lache.

»Schad' um das schöne Boot,« sagte Hertha und sprang hinein.

Das Leckwasser spritzte an ihr in die Höhe, aber das machte ihr nichts. Lachend schürzte sie die Röcke bis über die Kniee empor. – Schuhe und Strümpfe trug sie noch in der Hand. – Fest und rund und sanftgeschwellt, gleich Säulenschäften aus parischem Marmor, erhoben sich ihre Beine aus der schwarzen Wasserfläche.

Dann hockte sie auf dem Sitz des Steuerers nieder, dem einzigen, der noch übrig war, brachte ihr Fußzeug in Sicherheit und schien sich aufs Bleiben einzurichten.

Elly wurde ängstlich.

»Mein Gott, was willst du da?« rief sie, am Geländer des Steges hin und her trippelnd. »Bleib hier! Sei artig!« Die Mahnung: »Sei artig!« hatte sie noch aus der Kinderzeit herübergerettet.

Hertha legte die Arme unter den Kopf und starrte in die Weite, stumm vor sich hinphantasierend. In die Strömung hinaus – mit den Strudeln zu ringen, fortgerissen zu werden – immer weiter bis ins Weltmeer – in die blaue Unendlichkeit – das war's, was sie gerade brauchte. –

Und sich aufrichtend, fragte sie: »Du, wie kommt das Boot hierher?«

Leo habe es in früheren Jahren hinten an der Sandbank liegen gehabt, um rasch nach Uhlenfelde und der Freundschaftsinsel hinüberfahren zu können, so berichtete Elly.

Hertha stieß einen Seufzer aus.

Die Freundschaftsinsel!

Ein zwiefacher Kranz von Sagen umgab das kleine Eiland dort, das mit seinen Haselnußbüschen und der hochgewölbten Kuppel von Erlen und Salweiden darüber wie der Krauskopf eines untergesunkenen Riesen schauerlich herübersah. – – Aus dem Dunkel des Blätterdickichts leuchtete ein winziges Stückchen weißen Mauerwerks. – Das mußte der Tempel sein, von dem das Landvolk sich mit abergläubischem Grauen geheimnisvolle Kunde in die Ohren raunte. –

In alten Zeiten war auf der Insel eine heidnische Opferstätte gewesen. Noch, sagte man, sei der fürchterliche Stein zu sehen, von dem die Heidenpriester das Blut der hingeschlachteten Gefangenen zum Himmel hätten spritzen lassen, und wenn man in dunklen Nächten an der Insel vorbeifahre, so sehe man noch heute weiße, mit langen Laken angethane Gestalten in den Erlenkronen kauern … In neuester Zeit war der alte Spuk von den zwei Freunden handgreiflich ins Leben zurückgerufen worden. Wie sie vor dem bemoosten Opfersteine sich gegenseitig eine Ader geöffnet und einer des andern warmes Blut getrunken, wie sie den weißen Statuen Trankopfer gebracht und Hymnen dazu gedichtet, wie sie rote Feuer nächtlich zum Himmel hatten lodern lassen, das alles wußte man sich zu erzählen.

Das alles hatte Hertha aus Ellys Munde schon in der Pension erfahren und ihre Phantasie daran berauscht. – Die Primanerromantik, die deren Helden zusammen mit alten Aufsatzheften und vergilbten Verbindungsbändern längst in die Rumpelkammer geworfen hatten, war ein Jahrzehnt später in ihrer Seele glühend und geheimnisvoll wieder lebendig geworden.

Nach der Freundschaftsinsel war ihre Sehnsucht gegangen, schon lange bevor sie Halewitz kannte, und da sie das Eiland – dank Großmamas Aengstlichkeit – nie hatte betreten dürfen, so übte sein Bild noch heute den alten Zauber und schüttelte sie mit jenem süßen Grauen, das in den Dämmerstunden der Pensionszeit ihre Wonne gewesen war.

Sie reckte sich und breitete sehnsüchtig die Arme aus.

Ach, wer hinüber könnte!

Da gewahrte sie dicht unter dem Bootsrande ein Ruder, welches in die Einschnitte der Rippen horizontal hineingeklemmt war, dessen Zwillingsbruder aber fehlte.

Ein waghalsiger Plan stieg in ihr auf.

Sie besann sich auf einen kleinen, alten Schlüssel, den sie im Innern des Badehauses hatte hängen sehn und der augenscheinlich zum Boote gehörte. Den sollte Elly mal herausholen.

Elly war entsetzt … »Du willst doch nicht etwa –?«

Hertha schlug mit der Faust auf die Bootswandung. Man hatte blindlings zu gehorchen, wenn sie befahl. Wenige Sekunden später flog das kleine, von Rost aufgetriebene Ungetüm ihr in den Schoß. –

Wie eine plötzliche Wut kam es über sie. Das geöffnete Schloß noch in der Hand, riß sie das Ruder aus seinem alten Ruheplatz und stieß es mit aller Kraft in den Morast, aus welchem glitzernde Blasen gurgelnd an die Oberfläche stiegen.

Das Jammern der armen Elly verhallte ungehört. Langsam begann das Boot, Schilfhalme niederbrechend, sich stromaufwärts zu bewegen.

Hertha überlegte: Wenn es ihr gelang, sich in den stilleren Untiefen der Ufernähe gemächlich so weit nach aufwärts durchzuarbeiten, daß sie die Höhe des Eilands um ein paar hundert Schritte hinter sich zurückließ, so konnte sie hoffen, bei geschicktem Steuern auch mit dem einen Ruder die Strömung zu überwinden und in schräger Richtung das Ziel zu erreichen.

Als sie sah, daß sie vorwärts kam, stimmte sie ein Triumphgeschrei an und arbeitete noch hitziger. – Elly rannte derweilen wie ein mutterloses Küchlein im Röhricht des Ufersaums entlang, blieb mit den Schuhen im Sumpfe stecken, stolperte über Wurzelknorren und flehte händeringend, sie möchte umkehren.

Hertha antwortete mit einem Hohngelächter.

Aber schon ereilte sie das Schicksal:

Das Boot, das unversehens in heftigere Strömung geraten war, fing an, sich um sich selbst zu drehen, blieb ein paar Sekunden lang wie ratlos auf einer Stelle und schwamm erst langsam, dann rascher und rascher thalabwärts. An dem Badehause hüben, an der Insel drüben ging's vorbei und der Mitte des Stromes zu.

Elly sah noch, wie Hertha plötzlich das Ruder wegwarf, beide Arme ausbreitete und etliche Worte nach ihr herüber rief, die sie nicht verstand und von denen sie nicht wußte, ob sie Jubel oder Klage bedeuteten.

Dann kehrte sie zu ihrem Fuhrwerk zurück, setzte sich kommender Dinge still gewärtig neben dem Pony ins Gras und weinte.

*

So geschah's, daß, als auf Halewitz das Abendessen aufgetragen wurde, die beiden Mädchen fehlten …

Leo lachte der Mutter die Unruhe aus dem Sinn, ließ aber sofort den Schimmel, der noch schweißig im Stalle stand, von neuem satteln, steckte für alle Fälle ein Cognacfläschchen in die Tasche, pfiff dem Namensvetter und sprengte zwei Minuten später über die trockenen Wiesen dem Strome zu.

Das Unwetter, das den Tag über gedroht, hatte sich verzogen. In dem goldig-blauen Wolkenmeer schwamm friedlich die Mondsichel.

Er hatte Sorge um die beiden, das ließ sich nicht leugnen … Zwar – wie leicht konnten zwei so grüne Dinger sich verlaufen, ohne daß irgend eine Gefahr dabei im Spiele war.. Doch Hertha saß der Teufel im Nacken. Wo sie mitthat, ging's selten mit rechten Dingen zu. –

Der Hund, der ihm vorangejagt war, hatte das Ponyfuhrwerk entdeckt und ließ ein Freudengeheul hören.

Schon seufzte er erleichtert auf. Da sah er Elly allein und in Thränen gebadet auf der Erde kauern. Der Zügel entfiel seiner Hand. Der Schimmel und alles ringsum schien sich im Kreise zu drehen.

»Wo ist Hertha?« stieß er hervor.

Die Schwester wies weinend nach dem Strome hinunter.

Er sah etwas, was in gelben und roten Lichtern schillerte, vor seinen Augen tanzen.

»Ertrunken?« fragte er heiser.

Sie schüttelte den Kopf, doch währte es noch lange, bis er den Zusammenhang des Vorgefallenen erfuhr.

»Warum bist du nicht sofort nach Hause gesprengt und hast Hilfe geholt?« herrschte er sie an, den Zügel schon locker in der Hand.

»Du mußt nicht so schreien, ich hab' solche Furcht vor dir,« gab sie kläglich zur Antwort und sandte ihm aus ihren verweinten Augen einen ihrer erprobten Blicke zu, mit denen sie Steine zu erweichen vermochte.

Er lachte, halb ärgerlich und halb versöhnt, und gab ihr den Befehl, schleunigst heimzufahren und durch den Inspektor ein Fuhrwerk mit Leuten und Laternen nach Neufähr, dem nächsten, drei Viertelmeilen thalab gelegenen Dorfe, senden zu lassen.

Gehorsam kletterte sie in das Wägelchen zurück, er aber gab dem Pferde die Peitsche und jagte über Stoppeln, Wiesen und Brachfeld in die Dämmerung hinaus, den Blick auf den Strom geheftet, der dampfend und glühend, wie mit brennendem Naphtha bedeckt, jenseits des Röhrichts neben ihm herzog. –

Noch zeichnete jede Sandbank, jeder treibende Balken sich in tiefschwarzen Strichen von dem feurigen Untergrunde ab, doch schon drohte die sinkende Nacht. In einer Viertelstunde vielleicht war es bereits unmöglich geworden, des Kahns gewahr zu werden, der, ein Schatten unter Schatten, lautlos dahintrieb. Auch blieb schon jetzt durch das diesseitige Röhricht fast ein Viertel der Strombreite dem Auge verdeckt.

Er machte Halt und schrie ihren Namen in das weite Schweigen hinaus. Doch nichts antwortete ihm, wie das Bellen seines Hundes, der die Pause benutzte, um zwischen Halmen und Gestrüpp auf Vogelnester und schleichendes Nachtgetier Jagd zu machen.

Er stellte sich in die Bügel und spähte vor sich her.

Der Strom ließ sich von dieser Stelle wohl eine Viertelmeile weit überblicken, doch von einem Fahrzeug war nirgends eine Spur. – In dieser Zeit der sommerlichen Dürre ruhte die Schifferei, und was von leichteren Booten sich allenfalls herumtrieb, suchte abends die kleinen Wirtshaushäfen aus, wo das Strauchwerk der Buhnen Schutz vor der Strömung bot. –

Er ritt weiter.

Dunkler und dunkler wurde es auf der Wasserfläche, und seine Unruhe wuchs. – Wenn sie die Nacht auf dem mit Nebeln bedeckten Strome zubrachte – in dem halb mit Wasser gefüllten Kahne sitzend – sie konnte den Tod davon haben.

Die Ufer, welche sich bisher in leichter Abdachung nach dem Röhricht hin gesenkt hatten, begannen niedriger zu werden. – Ein Damm von Menschenhand ersetzte die Böschung.

Von dessen Höhe war die Fernsicht eine freiere, aber das half nichts mehr, denn auf dem Strome lag schon ein einförmiges Dunkelblau. Der Mond war niedergegangen, nur der Widerschein eines Sterns zitterte hie und da mattschimmernd auf den Wassern.

Wiederum ging sein Ruf in die Weite. Die quakenden Frösche schwiegen, das war der ganze Erfolg.

Dann tauchten die ersten Häuser von Neufähr in schwarzen Massen neben dem Damme auf. Einige Köter stürzten aus den Höfen und begannen ein wütendes Gekläffe, dem Leo, der Hund, ein vornehmes Schweigen entgegensetzte, bis man, frecher geworden, ihm auf den Leib zu rücken wagte. Da packte er erst einen, dann den zweiten und den dritten und schüttelte jedem das Fell. – Ein Winseln erscholl, und dann wurde es still.

In den Häusern schien alles zu schlafen – selbst die Schenke lag finster und verschlossen. Nirgends dunkelte am Ufer der Schatten eines Kahns. –

Trotzdem machte er Halt und rief ihren Namen nach dem Hause hinunter.

Dann lauschte er eine Weile, doch alles blieb still – nur die Hunde belferten von neuem.

Die Wirtsleute zu wecken blieb auf dem Rückwege Zeit genug, falls er sie nicht gefunden hatte. Darum jagte er weiter – auf dem lehmigen Grunde des Dammes dahin, dessen schwarze Linie schlangenhaft vor ihm daherkroch und sich stromab in bläulichem Dämmer verlor.

Neue Dörfer folgten – zwei, drei an der Zahl. – Ueberall dasselbe Spiel.

Vom Bug des Pferdes stieg eine Dampfwolke empor, seine Schenkel waren klebrig von Schweiß, und Fetzen heißen Schaumes flogen rings um das knirschende Gebiß. Der Atem des Hundes erscholl kurz und keuchend vom Boden her – offenbar begannen auch seine Kräfte nachzulassen.

Leo berechnete, daß er etwa zwei Meilen längs des Flusses abgeritten hatte. Weiter konnte sie in den letzten vier Stunden unmöglich gelangt sein. Innerhalb dieses Gebietes also mußte sie noch schwimmen, falls sie sich nicht bereits auf dem Wege nach Halewitz befand.

Er schickte den Hund ins Röhricht und begann im Schritt zurückzureiten. Die Spätsommernacht breitete ihre weißen, feuchten Schleier langsam über das Land. Die Heimchen zirpten. Von Zeit zu Zeit gluckste es in den Wassern, wenn ein Raubfisch über den Wasserspiegel hinausschoß.

Als er Neufähr wieder erreicht hatte, gab er sein Suchen auf und beschloß nötigenfalls die Einwohner zu alarmieren. Der Halewitzer Wagen war noch nicht angelangt, denn die Schenke lag finster und schweigend wie vorhin.

Er stieg vom Pferde und band den Zügel an den verfallenen Bretterzaun, über den Sonnenblumen ihre runden Blüten reckten, wie nachtmützige Weiber, die mürrisch und verschlafen den Eindringling begrüßten.

Aufseufzend streckte er den Körper, der vom Ritte und vom Nachttau feucht und steif geworden war. –

Fast wie eine Wohlthat empfand er die Erregung der jüngstverflossenen Stunden, weil sie den einen quälenden Gedanken, der ihn seit Wochen ausschließlich beherrschte, aus seiner Seele fortgewischt hatte … Nun war er plötzlich wieder da und war auch schon wieder verschwunden, wie ein Pfeil, der sausend am Ohr vorüberfliegt als Warnungszeichen, womit ein verborgener Feind sich in Erinnerung bringt.

»Wenn ich sie nur erst gefunden hätte,« dachte er, »ich will ja auch die Quälerei gern in den Kauf nehmen.«

Daß ihm das fremde, junge Mädel, das ihn durch schweigenden Trotz und lärmende Streiche oft genug geärgert hatte, so von Herzen lieb geworden war, das hätte er nie für möglich gehalten. –

Stelzbeinig schritt er in seinen langen Stiefeln an dem dunklen Lattenzaun entlang zur Hausthür hinunter, vor deren steinerner Schwelle der Hund heulend und kratzend auf allen Vieren lag, als wollte er sich wie ein Maulwurf ins Innere hineinbohren.

Die niedrige Pforte wich in ihren Angeln. Er stolperte in einen finsteren Hausflur hinunter. – Durch die nächste Thür jedoch flackerte helles Herdfeuer – und als er die Augen aufschlug, sah er die Verlorene, vom Scheine der zuckenden Flammen grell beleuchtet, vor sich stehn.

Sie trug einen kurzen, rot gewürfelten Bauernrock, unter welchem die nackten Füße hervorleuchteten. – Mit ihren braunen, hageren Armen hielt sie ein grobwollenes Umschlagetuch krampfhaft über dem Busen fest. Der kurze Aermel eines rauhen, gelben Leinwandhemdes, wie es die Bauern selbst zu wirken pflegen, schaute darunter hervor. –

Totenblaß starrte sie dem Eintretenden entgegen. Der Hund sprang winselnd an ihrem Leibe empor, aber sie rührte sich nicht.

»Mein liebes, liebes Kind,« rief Leo, in aufwallender Freude die Hände nach ihr ausstreckend. »Da hab' ich dich! Gott sei gelobt. Da hab' ich dich.«

Das Blut schoß ihr in die Wangen zurück, sie schlug die Augen nieder, aber sie machte keine Miene, seine Hände zu ergreifen. – Ganz leise und ohne den Blick vom Boden zu erheben sagte sie dann: »Willst du nicht so gut sein, Onkel Leo, dem Hunde zu befehlen, daß er ruhig ist. Die Frau hier ist krank, und der Mann ist nach Münsterberg zum Doktor gefahren.«

Ein Fußtritt scheuchte den Hund in den Winkel.

»Aber du selbst, Kind,« rief er, »von dir redst du gar nicht?«

Sie hatte sich auf Schelte gefaßt gemacht und wußte jetzt nicht, in welchem Tone sie seine überströmende Herzlichkeit erwidern sollte. – Ein unsicheres Lächeln, halb trotzig und halb leidensvoll, umspielte ihre Mundwinkel.

»Nun, du siehst ja,« sagte sie, sich unter seinen Blicken windend, »ich steh' hier und koche für die Frau Thee.«

Neben ihr auf dem Dreifuß des Herdes stand ein Kessel, an welchem die Flammen mit gelbem Geflacker hinanleckten.

»Und was trägst du da auf dem Leibe?« fragte er.

Rasch trat sie aus dem Bereich des helleren Feuers zurück und schnürte ihr Tuch mit der linken Faust noch enger unter der Kehle zusammen. »Ich hab' angezogen, was ich gerad' fand,« stammelte sie, »ich bitt' dich – sieh mich nicht an.«

Ueber dem Feuer hing an einer Hanfleine ein nasser Frauenrock, welcher noch dampfte – daneben, zu einem Lappen zusammengeschrumpft, die helle Satinbluse, die sie heute getragen hatte.

»Du bist also richtig verunglückt,« rief er, kaum im stande, sein Erschrecken zu bemeistern.

Sie versuchte die Achseln zu zucken und schaute dabei ein wenig kläglich darein. »Ach was, verunglückt!« sagte sie, »wie sollt' ich wohl verunglücken? Ganz einfach! – Ans Land geschwommen bin ich.«

»In deinen Kleidern?« rief er, »welche Frauensperson kann denn in Kleidern schwimmen?«

»Ach Gott!« sagte sie, mit den Blicken den Boden suchend, »was ich gerad entbehren konnte, das hab' ich im Boot gelassen … Morgen werden sie's wohl irgendwo finden …«

»Nun erzähl aber endlich, Kind,« rief er dringender.

»Was soll ich viel erzählen?« erwiderte sie, »du schiltst ja doch bloß.« Und ihre Lippen kräuselten sich trotzig.

»Ich werde nicht schelten,« beteuerte er.

»Na, denn los!« sagte sie und holte tief Atem, um sich Mut zu machen. »Als ich mit einemmal in die Strömung reingeraten war und sah, daß ich mit dem einen lumpigen Ruder dagegen nicht aufkommen konnte, da dachte ich: Na, wie Gott will. – Nun wirst du wenigstens den schönen Abend genießen, bis einer kommt, dich aufzufischen … Aber es kam keiner … Und das schadete auch nichts … Es war wirklich wundervoll, wie so Busch und Rohr an einem vorbeizog … Man war wie mitten im Märchen.«

Sie hielt inne und sah mit großen, erschrockenen Augen zu ihm auf, als besänne sie sich, zu wem sie sprach. Dann machte sie sich am Kessel zu schaffen, hob den Deckel ab und blies in die Flammen.

»Warum fährst du nicht fort?« drängte er.

»Ich kann nicht,« sagte sie leise, »du siehst mich immer an.«

»Ich werde wegsehn,« erwiderte er.

Da fügte sie sich in ihr Schicksal. »Als ich so anderthalb Stunden gefahren war,« erzählte sie weiter, »da fing die Sache an mir langweilig zu werden … Ich hatte auch keinen Platz, wo ich die Füße hinsetzen konnte, denn auf dem Boden klatschte immer das Wasser hin und her. – Als die Häuser von Neufähr kamen, da dacht' ich: Nun willst du ein Ende machen … Ich rief und schrie, aber umsonst … Das Nest heißt zwar Neufähr, aber von Fähre keine Spur … Na, da macht' ich denn kurzen Prozeß und sprang ins Wasser.«

»Mädel, du hast doch den Teufel im Leib!« rief er halb zornig und halb lachend.

»Das haben die Menschen im Dorf wohl auch gedacht,« entgegnete sie, »denn als ich auf dem Damme auftauchte, sind sie alle vor mir davongelaufen. Es war gut, daß ich die Leute im Wirtshause kannte, sie haben früher unsre – das heißt – ich meine – die – die Halewitzer Schenke gepachtet gehabt.«

Er nannte einen Namen, auf den er sich gerade besann.

Buttkus, jawohl, so hießen sie. Und dann erzählte sie, wie sie das Haus im Elend gefunden habe. Die Frau läge phantasierend im Fieber, der Wirt habe in seiner Ratlosigkeit hinter der Schnapsflasche gesessen. »Da hab' ich den Kerl sofort nach Münsterberg zum Arzte gejagt,« so schloß sie, »und werd' nun hierbleiben, bis er zurückkommt, ob du willst oder nicht.«

Dabei blickte sie ihn feindselig an, als sähe sie sich schon mit Gewalt von diesem Orte weggeschleppt.

Aber er beruhigte sie sofort. Nichts läge ihm ferner, sagte er, als ihr edles Werk zu stören.

»Eine Frage mußt du mir noch beantworten,« sagte er dann.

»Bitte sehr.«

»Vor einer Stunde warst du doch schon hier?«

»Gewiß,« meinte sie.

»Hast du da nicht deinen Namen rufen hören?« Sie schien betreten, besann sich eine kurze Weile und sagte dann entschlossen: »Ja!«

»Und warum hast du dich nicht gemeldet?«

Ein Schweigen entstand.

Sie hob den Kessel vom Dreifuß und goß das Wasser, das drinnen brodelte, in eine Kasserolle, aus welcher alsbald der süßliche Geruch der Holunderblüte emporstieg.

»Du erlaubst wohl, daß ich der Frau den Thee bringe,« sagte sie dann, »sie hat solchen Schüttelfrost.«

Und ohne seine Entgegnung abzuwarten, ging sie, den Stiel der heißen Kasserolle vorsichtig zwischen zwei Fingern haltend, zur hinteren Thür hinaus.

Leo verschlang mit den Augen die holde, schlanke Gestalt, die in ihrer dürftigen Hülle im Dunkel verschwand.

Er setzte sich auf einen Eichenklotz, der zum Zerkleinern des Brennholzes diente, und ließ die Schneide des Beiles, die der flackernde Schein in rotes Gold verwandelte, gedankenlos prüfend durch seine Finger gleiten.

Mit klugen Augen schaute der Bernhardiner ihm zu.

»Wie im Märchen,« hatte sie gesagt.

Und wie im Märchen war alles auch hier. An den Wänden dürftiges Hausgerät … ein ungeheurer Rauchfang über allem, bedeckt mit einer glitzernden Kruste von Ruß, der in Zacken und Spitzen aufwärts strebte, samtne Wolken bildete und, von dem wirbelnden Qualme losgelöst, in einem Regen von metallischen Schuppen zur Erde niederrieselte … die Feuerstätte mit ihren prasselnden Scheiten, an denen das Feuer mit bläulichen Fühlern gierig entlang tastete, ehe es sie in seinem Schoße begrub … darüber die dampfenden Fähnchen des leichtsinnigen Kindes, deren Blumenmuster den Herd mit einem bunten Kranze umschlang … der zuckende Flammenschein, der ringsum emporschoß und wieder zusammensank, um wachsenden Schatten Platz zu machen … sein eigener Schatten vor allem, der sich riesengroß an der Wand in die Höhe reckte, ein schwarzes Beil in der Faust – wie ein düsterer Wächter ob allem, was geschah. –

Wie dieser Schatten, der lauernd das Beil zum Schwunge bereit hielt, war jene Schuld. Auf allen Wegen folgte sie ihm. Wo er war, war sie auch. Duldete sie doch nicht einmal, daß er in dieser Stunde das Geschehene vergaß.

Er sah nach der Uhr. Zehn Minuten nach elf. Noch immer ließ der Wagen nichts von sich hören.

Er erhob sich und schritt auf Zehenspitzen zur Thür hinaus und zum Damme empor, um Ausschau zu halten.

Als er an dem Schimmel vorüberkam, gewahrte er erschreckend, daß dessen rauchender Leib von Kälteschauern überrieselt wurde.

»Wie gut, daß man als Rittergutsbesitzer auf die Welt gekommen ist,« dachte er, »wär' ich mein Knecht, so hätte mich diese Lodderei um Lohn und Brot gebracht.«

Eilends kehrte er um und fand in einem Winkel der Küche eine Flickendecke liegen, wie sie arme Leute statt des Teppichs zu benutzen pflegen. Mit ihr umhüllte er das zitternde Tier, nachdem er ihm mit der Schabracke Leib und Beine getrocknet hatte.

Alles war still und dunkel weit und breit. Nur jenseits des Stromes lohte es ab und zu wie Fackelschein, welcher kam und verschwand, um an andrer Stelle wieder aufzutauchen.

Nächtliche Krebsfänger, wie es schien.

Die Nebel hingen tief und schienen schwer auf dem Wasser zu lasten … Bläulichweiße Fetzen hatten sich losgerissen und verloren sich nach dem Sternenhimmel zu, oder tauchten in das Buschwerk, das wie bei einer Überschwemmung schwarz aus einer milchigen Fläche emporwuchs. –

Von den nahen Gesträuchen kam ein mattes Rieseln: der Tau tropfte hernieder. –

Ihn schauerte in seinen feuchten Kleidern. »Gott sei Dank, daß ich sie da hab',« dachte er und kehrte zum Hause zurück. Als er leise über die Schwelle trat, war es ihm, als hörte er aus Herthas Munde seinen Namen. –

Ueberrascht blieb er stehn.

»Leo – mein lieber, lieber, lieber Leo.«

Das klang so innig, so erfüllt von scheuer, zögernder Zärtlichkeit, wie er es im Leben noch nie vernommen hatte.

Doch da wurde ihm auch schon die Lösung des Rätsels:

Sie saß auf dem Holzklotz niedergebeugt, hielt den Kopf des Hundes zwischen ihren Füßen, die schon in Strümpfen und Holzpantoffeln steckten, und kraute ihm den Hals.

Er ärgerte sich und lachte – sie aber, ihn gewahrend, flog mit einem Schrei in die Höhe, als sähe sie sich auf böser That ertappt.

»Ich war ein rechter Dummkopf eben,« gestand er lachend, »ich dachte schon, das galt mir.«

Eine neue Glutwelle schoß ihr in die Wangen, dann meinte sie mit ihrem Achselzucken: »Das fehlte gerade.«

»Mir fehlt's schon lange,« erwiderte er, und sich zum Hunde wendend, fügte er hinzu: »Du hast es gut! Dein Herr wird en canaille behandelt, und du, Kanaille, wirst gehätschelt.«

»Onkel Leo,« fuhr sie ihn blitzenden Auges an, »ich hoffe, daß du so ritterlich sein wirst, mich wenigstens heute in meiner hilflosen Lage nicht mit Hohn zu überschütten.«

»Aber mein liebes Kind,« beruhigte er.

»Nenn mich nicht immer liebes Kind … Ich bin nicht dein liebes Kind … Ich bin dir so fremd wie – wie irgend wer … Ich bin ein verlassenes, junges Ding, dem du in deinem Hause Gastfreundschaft gibst, weil du es da vorgefunden hast und nun schon nicht anders kannst … Aber weil ich nun einmal dein Gast bin, so bitt' ich dich: Rede nicht mit mir … geh fort … überlaß mich meinem Schicksal … ich werde mich schon wieder nach Hause finden … Ich weiß ja auch nicht, wo ich sonst hin soll.«

Die Zähne zusammenbeißend stand sie gegen die Herdkante gelehnt und starrte in die Flammen, die ihren Goldglanz über das gelöste Haar und die nackten, braunen Arme breiteten.

Da übermannte ihn die Lieblichkeit des Bildes, das er sah.

Er trat dicht vor sie hin, und indem er ihr lächelnd in die erstaunten Augen schaute, strich er ihr in begütigender Liebkosung zwei-, dreimal über Stirn und Wangen.

Reglos, mit halbgeöffnetem Munde starrte sie zu ihm hinauf. – Sie schien nicht zu fassen, was ihr geschah … Wohl noch nie hatte ein Mann ihr die Wangen gestreichelt. –

»Was thu' ich dir denn, mein Herzenskind, mein liebes?« fragte er leise, indem er sich zu ihr niederneigte, »sag, was thu' ich dir, daß du so tobst und so verzweifelt bist?«

Sie wollte reden, aber der Mund gehorchte ihr nicht. Sie wollte sich wehren, aber die Arme sanken an ihr herab.

»Sieh mal,« fuhr er fort, »ich freu' mich an dir in jeder Stunde, wo ich dich seh' – ich gewinn' dich lieber von Tag zu Tag du bist mir wie der Sonnenschein im Hause – aber du verbeißt dich in deinen Groll gegen mich, als wenn ich wirklich dein Erzfeind und weiß Gott was für'n Ungeheuer wäre.«

Sie schloß die Augen und schwankte, als müßte sie umsinken und einschlafen.

»Und sieh mal,« begann er von neuem, »daß ich dich ab und zu ein bißchen geärgert hab', das mußt du mir nicht übel nehmen. Von euch hat sich in der Zeit, daß ich weg war, jeder daran gewöhnt, zu thun, was ihm beliebt. Ich aber verlang', daß man mir Order pariert. Auch du, mein Herzenskind … Und das ist ja auch gar nicht so schwer, denn ich verlang' ja nichts Böses von dir. Willst du? … sag ja! – Bitte – thu's mir zuliebe.«

Da sank sie auf den Holzklotz nieder, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und fing bitterlich zu weinen an.

»Wie drollig, so ein junges Menschenwesen,« dachte er, »anstatt mir lachend an den Hals zu fliegen, wie ich's als braver Onkel verdiene, sitzt das nun da und heult.«

Er stellte sich neben sie und schaute auf sie nieder. Zögernd hob er die Linke – darf ich? dachte er – dann ließ er sie leise über ihren Scheitel gleiten, dessen feuchtes Haar im Glanze des Herdfeuers fuchsrot schimmerte.

Da umklammerte sie mit beiden Händen seinen Arm, schmiegte das Köpfchen daran und flüsterte immer noch schluchzend:

»Warum – bist du – so schlecht – zu mir gewesen?«

»Wann denn? … Ich bin dir ja immer gut gewesen, Kind.«

»Bist du – mir – wirklich – gut?«

»Gewiß, mein Kind.«

Er bückte sich und wollte sie auf die Stirne küssen, aber da sie in diesem Augenblicke den Kopf nach hintenüber bog, geschah's, daß ihre Lippen aufeinander zu ruhen kamen.

»Wie harmlos sie sich küssen läßt,« dachte er.

Und dann plötzlich sprang sie auf und lief, so rasch ihre klappernden Pantinen es erlaubten, zur Thür hinaus.

Er fuhr sich mit beiden Fäusten ins Haar und rannte wie ein Besessener auf dem hügeligen Estrich der Küche hin und her.

Eine kindische, närrische Seligkeit brach aus seiner Seele. Ihm war zu Mute, als wäre er wieder fünfzehn Jahre alt und käme mit kurzem Jäckchen und langen Locken triumphierend von jenem ersten Rendezvous, auf welchem ihm Felicitas den ersten Kuß gegeben hatte.

Felicitas!

Wie ein Messerstich war der Gedanke an sie ihm durch die Seele gefahren. –

Aber dann lachte er hell auf und hob in stolzer Zuversicht die beiden Hände zur Decke empor. Ströme lauterer Jugendkraft waren mit dem Kusse des holden Kindes in seine Seele gedrungen.

Wenn er hoffen durfte, sich dieses junge Herz dereinst zu eigen zu machen, dann wurde alles wieder gut. Dann war die alte, langverjährte Schuld von selbst gesühnt. Dann erstarb im Glück, was jetzt sein Leben mit dumpfer Unruhe erfüllte und ihn sich selber zu entfremden drohte.

Starb dahin, wie das wirre, gierige Geflacker, das jetzt endlich in stillem Glühen zur Ruhe kam. –

Und wie er sich umdrehte, war auch der gespenstische Riese fort, der vorhin das Schattenbeil in seiner Faust gehalten hatte.

Ein weiches Träumen kam über ihn. Er stützte den Kopf in beide Fäuste, setzte einen Fuß auf den Leib des Hundes, der sich's, lang ausgestreckt, im Warmen wohl sein ließ, und starrte in die Kohlenglut. – Die Ahnung dessen, was sich gestalten wollte, lag wie eine kühle Hand friedebringend auf seinem Haupte.

Wohl eine Viertelstunde mochte er so gesessen haben, da schlug der Bernhardiner an.

Wagengerassel wurde laut, Rufe erschallten.

»Wie gut, daß sie nicht früher gekommen sind,« dachte er, voll des Segens, den die letzte Stunde über ihn ausgeschüttet hatte.

Er schritt hinaus. Auf dem Damme hielt ein Leiterwagen, mit Menschen und Lichtern dicht besetzt, dahinter dunkel ein Herrschaftsfuhrwerk, aus welchem die Stimme der Mutter ihm thränenerstickt entgegenscholl.

»Gefunden!« schrie er ihr zu.

Der Jubel war groß – die Mutter kletterte aus dem Wagen – die fette Mamsell, welche auch dabei war, hob keuchend einen Packen trockener Kleider hinter ihr her.

Elly hatte natürlich Unsinn bestellt. Seit zwei Stunden irrten die Wagen von Dorf zu Dorf.

Die Mutter ging mit den Kleidern zu ihr hinein und bat ihn, draußen zu bleiben.

»Schilt sie nicht,« raunte er ihr noch auf der Schwelle zu, »sie hat ihr Teil schon weg.«

»Hast du's auch nicht zu arg gemacht?« rief sie erschrocken.

Er fühlte, daß er einen roten Kopf bekam, und sah an ihr vorbei.

Es dauerte lange, ehe man wiederkehrte – die Leute trampelten sich auf dem Damm die Beine warm – die Schnapsflasche kreiste – die Mägde ließen sich von den Burschen kitzeln und quieckten leise, wenn es zu arg wurde. Einer und der andre summte ein Lied …

Er lehnte sich gegen seinen Schimmel … Töne und Schatten zogen wie im Traum an ihm vorüber. –

Endlich – eine halbe Stunde konnte verflossen sein – da klinkte die Thür. An der Hand der Mutter erschien sie auf der Schwelle, den Kopf in wollene Tücher gepackt, einen weiten Wintermantel umgeschlagen. –

Die Leute wollten Hurra schreien, aber er verbat sich jeden Skandal. –

»Denk dir bloß,« schalt Großmama, während die Herzensfreude ihr aus den Augen strahlte, »noch nicht einmal mitkommen hat sie wollen, die kleine Kröte. Erst als ich ihr versprochen hab', daß die Mamsell bei der kranken Frau bleiben würde, da ist sie so gnädig gewesen, folgsam zu sein.«

Hertha hatte die Augen niedergeschlagen und lächelte träumerisch und befangen. Als sie in das Bereich der Laternen kam, sah er, wie ihr ganzes Angesicht in schweigender Erregung leuchtete. – Ihre Wangen schienen runder und ihre Lippen blühten.

»Welch liebliches Wunder,« dachte er, »ein Weib, bevor es Weib geworden ist!«

Und als sie in ihrer Ecke wohlverwahrt saß, ging es heimwärts.

Er steckte sich eine kurze Pfeife an und ritt dampfend hinter den Wagen her. –

Ein leichter Wind hatte sich erhoben und trieb ihm die Nebel sprühend ins Gesicht. – Die Heimchen schwiegen – eine große Stille lag über der Welt.

Langsam ließ er die holden Bilder eines nach dem andern an sich vorüberziehn. Und das eine hielt ihn fest:

Wie ihre Lippen sich erwartungsvoll gerundet hatten, um den drohenden Kuß fügsam zu empfangen und kräftiger zurückzugeben.

Noch fühlte er ihn – doch fühlte er auch die hagern, dürftigen Formen ihres Leibes, den sein Arm umschlungen gehalten.

»Schäm dich!« rief es in ihm, »verletze dies Kind nicht. – Treib keinen Knospenfrevel.«


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