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VII.

Von allem das schlimmste war: die Ernte stand reif auf dem Halme und konnte nicht gehauen werden, weil es an Arbeitskräften mangelte.

Ohm Kutowski, den Leo zur Verantwortung ziehen wollte, war nicht aufzutreiben. Er hatte in der Morgenfrühe seinen Einspänner vorfahren lassen und war seither nicht mehr erblickt worden.

Von Schumann, der sich in Dienstfertigkeit erschöpfte, erfuhr Leo, was er zu wissen brauchte. Der Alte, der es liebte, mit Strafgelderlassen um sich zu werfen, weil ihm daraus ein erklecklicher Nebenverdienst erwuchs, hatte die fremden Mäher, die sich in ganzen Gesellschaften schon lange vorher zur Ernte zu vermieten pflegten, durch Lohnabzüge so zur Verzweiflung getrieben, daß sie nach der letzten Sonnabendauszahlung ihre Bündel geschnürt hatten und in Nacht und Nebel davongezogen waren.

Da mit den ansässigen Leuten die Ernte nicht bewältigt werden konnte, so waren die Arbeiten seit fast acht Tagen zum Stillstehen gekommen. Die Hälfte des Ertrags stand in Gefahr, der Alte aber hatte sich noch keinen unruhigen Augenblick darum gemacht.

Mit einem Schlage erkannte Leo, wessen Händen sein Hab und Gut vier Jahre lang anvertraut gewesen war. Am liebsten hätte er den Alten mit der Hetzpeitsche vom Hofe hinuntergetrieben, allein Mitwisser alter Sünden wollen glimpflich angefaßt sein, damit sie nicht zu Verrätern werden. – Rasend in Wut und Scham, sah er sich der Gnade des alten Lumpen preisgegeben. Nur ein tollkühner Entschluß konnte ihn retten.

Im Hausflur gab er Befehl, Herrn von Kutowski zu ihm zu bitten, sobald er sich wieder sehen lassen würde: dann schloß er sich in seinem Arbeitszimmer ein.

Dort war noch alles beim alten. In der Fensternische stand, ein Erbe aus Urväter Zeiten, der ungeheure Schreibtisch mit seinem Schnitzwerk und seinen Perlmuttereinlagen, hinter denen manches Geheimnis sich barg. An den Wänden gruppierten sich Pistolen, Jagdgewehre und Fleurets, von Geweihen, Genickfängern und durchschossenen Scheiben malerisch umgeben – Trophäen jugendlicher Renommisterei, zu denen er einst mit Ehrfurcht emporgeschaut hatte und die ihm heute kaum noch ein Lächeln abgewannen. Neben der Thür stand mit ihrem zerschlissenen und fahlgescheuerten Lederbezug die alte Chaiselongue, auf der in jenen Zeiten manch nichtsthuerische Stunde in sündigen Träumen verfaulenzt worden war.

Darüber hingen in dunkler Gruppe die Bilder derer, die ihm im Leben lieb und wert gewesen: Mama in weißem Spitzenkragen über der langfaltigen Schneppentaille, Papa mit auswattierten Aermeln und einem Generalsbackenbärtchen, der Pfarrer Brenckenberg, noch nicht gedunsen und aufgeschwemmt, aus der Zeit her, da er als Hauslehrer die Fuchtel über ihm geschwungen hatte. Ferner Johanna als Backfisch mit gehäkelten Höschen, die unter dem kurzen Kleide weiß leuchtend hervorguckten. Ulrich, der Obertertianer, krumm wie ein Fiedelbogen, mit langen Haaren und eingesunkener Brust. Und dicht neben ihm – welch merkwürdiger Zufall! – Felicitas in leise sprossender Jungfräulichkeit mit wirrem Lockenwalde und schmachtendem Lächeln.

Das Bild stammte aus der Zeit, da sie als entfernte Cousine zum erstenmal auf Halewitz zum Besuche gewesen war und er sich – gleichfalls zum erstenmal – bis über die Ohren in sie verliebt hatte. – Ulrich war seinem Beispiele gefolgt, und Johanna hatte sich geärgert.

Er schlug sich vor den Kopf. Hatte er sein Schicksal nur geträumt? Ein Schauer rann ihm über den Leib. – Er, der einst geglaubt hatte, ein Meister seiner Geschicke zu sein, sah sich wie ein Stück Korkholz von den Wellen erfaßt und nun in müßigem Spiele wieder ans Land gespieen.

Aufatmend machte er sich ans Werk. Die Stunden vergingen. Er saß über die Bücher gebeugt und rechnete – rechnete recht eigentlich zum erstenmal in seinem Leben. Seine Ahnungen erfüllten sich: eine Ueberraschung folgte der andern, doch keine war freudig zu nennen.

Und mitten im Rechnen stieg plötzlich die Schamröte ihm brennend ins Gesicht. Er las: »Nach Monte Carlo abgesandt – 10000 Mark.« Und wenige Zeilen weiter: »Nach Monte Carlo abgesandt – 14500 Mark.«

Wie durfte er andern Vorwürfe machen, da er sich selber als Lotterbube benommen hatte? – War es verwunderlich, daß ein jeder aus dem allgemeinen Schiffbruch zu erraffen versucht hatte, was ihm gerade in die Hände gefallen war? Aber hier galt es nicht mehr elendes Hab und Gut: um des Freundes Ehre und Frieden ging der Kampf, den er mit dem Alten zu kämpfen hatte. Sein Blick glitt nach der Wand hinüber, an welcher die Waffen hingen, dann fing er von neuem zu rechnen an.

Die Sache wurde immer verwickelter. Es schien unfaßbar, wie bei der wachsenden Summe der Ausgaben und den miserablen Erträgen eine menschenwürdige Bilanz hatte hergestellt werden können.

»Hier muß ja längst der Sequester hausen,« stöhnte er.

Alles in allem waren die Rechnungen in glattester Ordnung. Wunder auch! Fand sich doch überall unter den Krähenfüßen des Oheims Ulrichs schöner, klarer Namenszug, der bewies, welch genaue Kontrolle der Freund, seinem Amte gemäß, allwöchentlich geführt hatte. – Nur auf der linken Seite zeigte sich hie und da ein geheimnisvoller Posten, der jeder Begründung entbehrte und der unter der Bezeichnung: »Zinsen, eingezogen durch Herrn Baron von Kletzingk« den Einnahmen angereiht war. Er belief sich stets auf etliche tausend Mark und mußte in seiner Gesamtheit ein Vermögen ergeben.

»Seit wann leih' ich Gelder auf Zins?« rief Leo und griff sich an die Stirn. Da stand der Angstschweiß in dicken Tropfen …

Und je weiter er rechnete, mit desto unheimlicherer Regelmäßigkeit sah er den Posten wieder erscheinen – und zwar allzeit dann, wenn es galt, einen schweren Ausfall zu decken oder Rat für eine bevorstehende Zahlung zu schaffen. Wie ein deus ex machina, hilfe- und segenspendend waltete er auf diesen Blättern.

Der einzige, der in der Wirrnis Bescheid zu geben wußte, war der Oheim, doch der hatte noch immer nichts von sich hören lassen. –

»Wenn er unterduckt,« beschloß Leo, »will ich ihn glimpflich behandeln. Sonst geht es auf Leben und Tod.«

Es war nachmittags gegen die Vesperzeit, als der Einspänner des alten Herrn vor dem Amtshause hielt. Voll wie eine Haubitze, lag er halbausgestreckt in einer Wagenecke und lutschte an seiner erkalteten Zigarre.

Der alte Christian, der im Auftrage Leos Wache hielt, half ihm zur Erde nieder und teilte ihm mit, daß der Herr ihn sofort zu sprechen wünsche.

Herr von Kutowski erhob ein Schimpfen, das weit über den Hof hinhallte:

»Was untersteht sich der Bengel? Bin ich etwa sein Schuhputzer, daß ich mich von ihm werde kujonieren lassen? Er soll sich bloß in acht nehmen! Ich werd' ihm beweisen, wer ich bin und was ich alles weiß!«

Erschrocken lief Christian davon, um eilends Bericht abzustatten, denn größeres Unheil mußte verhütet werden. Glücklicherweise war niemand in der Nähe, der die respektwidrigen Worte hätte hören können.

Ohm Kutowski aber ging sporenklirrend in sein Zimmer, um einen wohlverdienten Mittagsschlaf zu thun. – Er besah sich in dem zerbrochenen Rasierspiegel, mit dem er sein geringes Bedürfnis an Eitelkeit bestritt, und bewies derweilen in einem längeren Selbstgespräche, daß man fortan ihn als den eigentlichen Besitzer von Halewitz zu betrachten habe. –

Dann machte er sich über die Schinkenreste her, die neben dem Wichszeug, einem schmutzstarrenden Spiele französischer Karten, einer mit Tabak gefüllten Kakaobüchse und etlichen Schweinsblasen auf dem Tische lagen, warf ein paar leere Bierflaschen von dem Sofa, das bei jeglicher Berührung kreischte wie eine hungrige Krähe, und wollte sich in die versessenen Polster werfen, als die Thür aufging und Leo ins Zimmer trat.

»Bei mir wird angeklopft, mein Jungchen!« schrie der Alte ihm entgegen. »Merk dir das für die Zukunft.« –

Leo antwortete nichts, sondern drehte ruhig den Schlüssel im Schlosse um und steckte ihn in die Tasche.

»So, Onkel,« sagte er, »jetzt wollen wir reden.«

Es lag eine gewisse freundliche Entschlossenheit in seinem Wesen, die den Alten nicht angenehm berührte. Aber er wollte sich nicht umsonst Mut angetrunken haben.

»Das ist recht von dir, mein Jungchen,« sagte er, sich großartig in eine Ecke lehnend, »daß du deinen alten Onkel um Verzeihung bitten kommst. Hab' es, wie wir miteinander stehen, auch nicht anders von dir erwartet.«

»Ich erinnere dich daran, lieber Onkel,« sagte Leo, »daß du dich zu dieser Stunde noch in meinen Diensten befindest.«

»Ach was – Dienste!« lachte der Alte, »ich pfeife auf deine Dienste.«

Und er pfiff.

»Ich will dich nicht zur Verantwortung darüber ziehen,« fuhr Leo fort, »daß du den ersten Tag meines Hierseins benutzt hast, dir einen Rausch anzutrinken, denn ich kann mir deinen Gemütszustand so ungefähr vorstellen. Ich frage dich nur: soll ich dich zuerst ausschlafen lassen, oder fühlst du dich im stande, mir schon jetzt Red' und Antwort zu stehen?«

»Was heißt hier im stande?« schnauzte der Alte. »Ich bin zu allem im stande. Auch Red' und Antwort zu stehen bin ich im stande … Es fragt sich bloß, ob es mir auch paßt.«

»Gut,« sagte Leo, »dann bin ich hier als dein Herr und du hast aufzustehen vor mir.«

»Was hab' ich? was? was?«

»Auf!« sagte Leo, und, das Sofa in die Höhe hebend, schüttelte er den Alten hinunter, wie man eine Katze aus den Federn schüttelt. Dann gab er dem wurmstichigen Möbel einen Fußtritt, daß es kreischend zusammenbrach.

Der Alte, der gegen den Tisch getaumelt war, maß seinen Neffen mit einem tückisch verschwollenen Blick, wie ein wild gewordener Eber.

»Das werd' ich dir gedenken,« knirschte er.

»Ich sehe ein,« fuhr Leo fort, »daß ich von dir eine Art von Rechenschaftsbericht nicht werde erlangen können … Darum handelt es sich auch jetzt nicht … Du hast mir ein gutes Stück von meinem Eigentum zu Grunde gerichtet, und mit dem Rest werde ich mich einzurichten haben, so gut es geht … Ueber die Einzelheiten werden mir Schumann und der Rechnungsführer Aufklärung geben … So viel seh' ich schon jetzt, daß ich Material in Haufen habe, wenn es mir nötig erscheinen sollte, den Staatsanwalt Schuster auf dich aufmerksam zu machen.«

»Es wird ja immer besser,« lachte höhnisch der Alte und spielte mit den Schweinsblasen.

»Aber glaube nicht,« fuhr Leo fort, »daß ich dergleichen im Sinne habe … Die Verwandtschaft mit dir ist mir zwar ziemlich egal … Mehr Schande, als du meinem Hause in diesen vier Jahren gemacht hast, kannst du ihm nicht mehr machen … Auch die Erinnerung an unsre alte Freundschaft würde mich nicht zurückhalten … ich hab' sie teuer genug bezahlen müssen. – Der Grund ist ein andrer!«

»Das scheint mir auch so,« höhnte der Alte.

»Sieh mal, lieber Onkel, seit gestern abend suchst du mir auf die verschiedensten Arten zu verstehen zu geben, daß du mich in deiner Hand hast, daß du nur den Mund aufzuthun brauchst, um mich kaput zu machen, und was weiß ich … Aber du irrst dich, lieber Onkel … Du denkst, du hast es noch immer mit dem dummen, leichtsinnigen Jungen zu thun, der sich dazumal zu allen möglichen schlechten Streichen von dir verleiten ließ, und hast nicht die leiseste Ahnung, wer hier vor dir steht … Weißt du, lieber Onkel, was ein Desperado ist? – Das ist ein Mensch, der die große Weisheit gelernt hat, daß auf der Welt nichts für ihn zu verlieren ist, wenn er sich nicht mit kleinlichen Mitteln abgibt, sondern für das, was er will, stets Leib und Leben dran gibt … Und mag das, was er will, nichts mehr sein, als ein Hosenknopf … Als so ein Desperado komm' ich zurück, mein liebes Onkelchen, und wenn du nicht sofort mit deinem verdammten Grinsen aufhörst, so schlag' ich dich nieder wie einen Hund!«

Er hob die geballte Faust, die für eine Sekunde wie eine geschwungene Axt über dem borstigen Kopfe des Alten schwebte. Dem blieb sein Hohn in der Kehle stecken, er wich einen Schritt nach der Wand zurück und kauerte sich scheu in sich zusammen.

Auflachend steckte Leo die Faust in seine Tasche.

»Da hast du eine Probe, lieber Onkel,« sagte er. »Man thut, was ich will – oder einen holt der Teufel … Und nun hör mal weiter zu … Als ich beschloß, wieder nach Hause zurückzukommen, da wußte ich ganz genau, in was für eine Matsche ich da reintreten würde … Aber da besah ich mir meine Pistolen. Ich hab' nämlich zwei wunderschöne Pistolen, lieber Onkel … Ich hab' sie nicht mitgebracht, denn vorläufig brauch' ich sie bei dir noch nicht … Und sagte zu mir: diese Kröten haben mir aus so mancher Verlegenheit herausgeholfen, wo es um Leib und Leben ging, warum soll ich sie in dem dummen Europa einrosten lassen, wenn es sich schließlich dort auch bloß um Hosenknöpfe handelt? … Und so ein Hosenknopf bist du, mein liebes Onkelchen … Du brauchst nicht gekränkt zu sein … Mehr bist du nicht … Ich will, daß du dein Maul hältst! Ich will, daß jene verfluchte Angelegenheit, – du weißt schon, welche – begraben bleibt für alle Zeit … Kommt sie doch ans Tageslicht, – hör' ich, daß du die leiseste Andeutung über das, was du weißt, von dir gegeben hast, so zieh' ich eine meiner schönen Pistolen vor und knalle dich über den Haufen … Glaubst du mir das?«

»Mach doch keine Witze,« stammelte der Alte und schielte nach der Thür.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Onkelchen,« lachte Leo, »ich sagte dir ja, daß ich nichts bei mir habe. – Vorläufig brauch' ich noch nichts. – Und finden thu' ich dich, wo du auch sein magst … Es soll mir sogar ein Heidenvergnügen sein, auf dich Jagd zu machen … Das lernt man drüben, Onkelchen, – glaubst du mir das?«

Der Alte umklammerte, rückwärts weichend, das Fensterbrett und versuchte zu Worte zu kommen.

»Wie kannst du nur so zu mir sein?« brachte er würgend hervor, »ich geh' für dich durch Feuer und Wasser. Ich möcht' mir die Hand abhacken lassen für dich – und du erhebst die Faust wider mich und drohst mir mit Pistolen und dergleichen.«

»Nur für den Fall …, du weißt,« fiel Leo ihm ins Wort.

»So ein Verdacht!« fuhr der Alte fort. »So ein Mißtrauen! … Ich hab' immer geschwiegen … wie ein Grab … Eher hätt' ich mir die Zunge abgebissen, eh' ich was gesagt hätte … Ich hab' mich geplagt und gerackert so viele Jahre lang. Und das ist jetzt mein Lohn. Das ist jetzt mein Lohn.«

Windelweich geworden, hub er zu weinen an.

Leo wartete, bis sein Jammer sich besänftigt hatte, dann legte er ihm seine Forderungen vor.

Heute abend sollte er den Hof, morgen die Gegend verlassen haben. – Für den Fall, daß er keinerlei Feindseligkeiten unternähme, würde ihm um der Verwandtschaft willen in Warschau oder Wilna oder sonst irgendwo jenseits der Grenze – den Platz könnte er bestimmen – ein Monatsgehalt ausgezahlt werden, das ihm ermöglichte, ein anständiges Leben zu führen.

Der Alte dankte demütig und zerknirscht.

»Wann soll der Wagen bereit stehn, Onkel?« fragte Leo, die Thür öffnend.

Der Alte meinte, er hätte nur noch zu packen und von den Damen Abschied zu nehmen, aber wenn ihm gestattet wäre, vorher noch ein kleines Schläfchen zu machen

»Schlaf, schlaf, alter Sünder,« sagte Leo, ihn auf die Schulter klopfend, und da der Oheim vor Rührung oder Schrecken nicht recht von der Stelle konnte, nahm er ihn unter den Arm, führte ihn mit zärtlicher Fürsorge zu seinem Bette und deckte ihn mit dem verschossenen Mantel zu, der daneben an der Wand hing. Dann ging er, die »Paloma« pfeifend, seiner Wege.

Bevor er an den Arbeitstisch zurückkehrte, bestellte er sich bei Christian zur Feier des Tages eine Flasche vom »untersten«, und indem er das erste Glas dem Jugendbilde des Freundes entgegenhielt, sagte er, die Zähne zusammenbeißend:

»Die Roheit soll leben, kleines Mädchen! Heute hat sie uns beide vom Untergang gerettet.«

*

Es war um die Abendstunde, als ihm die Ankunft des Uhlenfelder Wagens gemeldet wurde.

Schreck und Freude fuhren ihm heiß durch die Glieder. So bald hatte er den Besuch des Freundes nicht erwartet.

Der drückte ihm in alter Herzlichkeit die ausgestreckten Hände und machte damit eine Ahnung zu nichte, die im letzten Augenblicke angstvoll in ihm aufgestiegen war. Aber das blasse Gesicht war krankhaft angespannt, und der rote Abendschein, der durch das Fenster brach, ließ einen fiebrigen Glanz in den müden Augen erglühen.

»Dir geht's nicht gut,« sagte Leo, der aus den vertrauten Zügen die Geschichte großer seelischer Erregungen ablas. –

Hier hatte Felicitas mitgespielt, und seine eigene Heimkunft hatte den Anlaß geboten. – Das war unschwer zu erraten.

»Laß mich ruhig sitzen,« sagte Ulrich, die Faust gegen die linke Seite drückend, »mir wird gleich besser werden.« Erfrischungen lehnte er ab und sog mit arbeitender Brust die duftschwere Abendluft ein, die von der Seite des Gartens her ins Zimmer drang.

Wie Leo ihn in der altgewohnten Sofaecke sah, wurde das Herz ihm weit. Wie oft hatten sie so dagesessen und jugendliche Pläne ausgetauscht, während draußen die Grillen zirpten und von den Ställen her der Ton einer Ziehharmonika in feierlichem Quäken dahergezogen kam.

Auch das Heiraten hatten sie oft erwogen. Nur zwei Freundinnen oder am besten zwei Schwestern sollten es sein, damit der alte Verkehr an Innigkeit nichts einbüßte …

Alles schien wie damals: die Grillen zirpten, und auch die Ziehharmonika fing schüchtern an, ungewiß ob sie sich nach der Heimkunft des Herrn noch hervorwagen dürfte.

Und war doch alles so anders geworden!

»Aber ich hab' ihn hier,« schrie es in Leos Seele, »und ich lass' ihn nicht wieder los.« –

»Du hast nun mit eigenen Augen gesehen,« sagte Ulrich, sich aufrichtend, »wie es bei dir bestellt ist. Gutes wirst du nicht viel gefunden haben.«

»Eine einzige große Luderei hab' ich gefunden,« bestätigte Leo.

»Ich weiß nicht, ob ich dir raten darf, den Alten so bald als möglich zu entfernen. Du hast vielleicht freundschaftliche oder verwandtschaftliche Rücksichten zu nehmen. Jedenfalls: nützen wird er dir nicht viel.«

»Ist schon rausgeschmissen,« sagte Leo.

»Um so besser,« meinte Ulrich. »Einen seiner schlimmsten Streiche hat er noch vorigen Sonnabend ausgeführt, indem er die litauischen Mäher fortschikanierte.«

»Ich bin da vollkommen ratlos,« erklärte Leo. »Wenn mir nicht ein Wunder hilft, geht die schöne Ernte zum Teufel.«

»Ein Wunder braucht's ja nicht gerade zu sein,« entgegnete Ulrich mit seinem alten, lieben Lächeln, das allemal Hilfe und Segen brachte. »Ich hatte mich schon vor ein paar Tagen nach Münsterberg an den Rittmeister von Lossow gewandt und ihn um Aushilfe für dich gebeten. Er glaubt's verantworten zu können, und morgen mit dem frühsten werden auf meinem Fuhrwerk fünfundzwanzig Mann Ulanen bei dir antreten.«

Eine Woge von Glück stieg in Leo empor. Von diesem Augenblicke an ging es bergauf!

In stummer Dankbarkeit erfaßte er Ulrichs Hand. Doch der preßte die Zähne zusammen und entzog sich ihm leise.

»Um dir das mitzuteilen,« sagte er, »bin ich eigentlich nicht gekommen. Das hätte ich dir auch schreiben können … Aber es ist mancherlei zwischen uns auszusprechen, was das Papier nicht vertragen würde … Deine Voraussicht hat leider recht behalten … Mit uns beiden ist es aus … Zwischen uns steht eine Frau … Meine Heirat hat unsre Freundschaft zum Opfer gefordert.« –

Keines Wortes mächtig, starrte Leo ihn an.

»Versteh mich recht,« fuhr Ulrich fort, die Worte mühsam emporringend, »daß ich dich lieb habe, heute wie je, das brauch' ich dir nicht erst zu versichern. Ich fürchte, mit dieser Trennung wird mir mein Lebensnerv entzweigeschnitten. Und doch muß es sein.« –

»Weil deine – deine Frau es verlangt?« fragte Leo in jäh aufsteigender Erbitterung.

»Sag nicht, daß ich schwach bin,« erwiderte Ulrich »schimpf mich nicht Weiberknecht … Ich bin noch nie in meinem Leben einer Schürze zu Willen gewesen … und werd's auch nicht lernen … Aber ich bin gewohnt, meinem Gewissen zu folgen … Und das verlangt von mir, der Frau, die meinen Namen trägt, deren Kind das meine geworden ist, zu geben, was ich ihr schuldig bin.«

Leo war begierig, zu wissen, in welcher Art sie die Nachricht aufgenommen hatte, allein er schämte sich, den Freund mit schielender Absicht auszufragen.

Der kam seinem Wunsche von selbst entgegen.

»Ich hätte nicht gedacht,« sagte er, »daß Felicitas, die rasch lebt und rasch vergißt, sich von deiner Zurückkunft so erschüttern lassen würde … Ohne eingebildet zu sein – und dazu wäre ja, weiß Gott, kein Grund – glaubte ich annehmen zu dürfen, daß sie den Verlust Rhadens ganz und gar verschmerzt habe … Sie spricht kaum noch von ihm, und vergißt sogar seine Gedenktage … Auch habe ich die zwei Jahre über vorsichtig daran gearbeitet, ihr deine Schuldlosigkeit an jenem Unglücksfalle klarzustellen, denn für ein Unglück und nichts weiter seh' ich das verhängnisvolle Duell an … Es ist alles umsonst gewesen … Das erste, was gestern geschah, war, daß sie einen Weinkrampf bekam … Ich fürchtete schon, sie würde ernstlich krank werden … Nachts über hat sie an dem Bette des Jungen gesessen und auf ihn eingesprochen … Gegen Morgen hab' ich sie fast mit Gewalt dort weggeholt, denn auch der arme Bursch kam so um seine Nachtruh' … Glaube nicht, lieber Leo, daß das alles mich mürbe gemacht hätte, wenn ich mir nicht hätte sagen müssen: sie ist in ihrem Recht.«

Leo schwieg. Was er auch gesprochen hätte, es wäre Heuchelei gewesen – und dazu gab er sich nicht her.

»Als sie ruhiger geworden war,« fuhr Ulrich fort, »erzählte ich ihr von unsrem Gespräche und was du an Besorgnissen über unsern Verkehr geäußert hattest … Ich wollte ihr damit beweisen, mit welcher Rücksicht du an ihre Seelenstimmung dachtest … Aber die Wirkung war die entgegengesetzte. Besonders, was du über die Existenz des Kindes gesagt hattest, erregte sie aufs äußerste … Verzeih, lieber Junge, wenn ich da eine Ungeschicklichkeit begangen habe, – ich hoffte gerade, uns beiden zu nützen … Wozu soll ich dir alles wiederholen, was sie in ihrer Entrüstung gegen dich vorbrachte? … Es würde unnötigerweise alte Wunden in dir aufreißen … Du kannst mir auch glauben, daß ich sehr wohl die krankhaften Uebertreibungen, in denen ihr Schmerz nach Ausdruck sucht, von dem Schmerze selbst zu unterscheiden weiß. Aber der ist echt, und wenn sie sagt: ›Wie soll ich dir noch die Hand geben können, wenn ich weiß, daß in ihr heute die Hand gelegen hat, die den Vater meines Kindes umgebracht hat?‹ wenn sie das sagt, so ist sie im Recht und tausendmal im Recht … Das hätte ich mir eben alles überlegen sollen, ehe ich ihr Schicksal mit dem meinen zusammenschmieden ließ. Nun ist es geschehen, und es kommt auf dein Wort heraus: ›Du hast zu wählen zwischen ihr und mir.‹«

Leo schwieg auch jetzt. Das Bild des unseligen Weibes glitt an seinem Auge vorbei. Es schien in den goldenen Abendwolken zu schwimmen und mit den feuchten Nebeln die dunkelnde Welt zu erfüllen.

Wie kam sie dazu, ihm das Teuerste zu rauben, was er auf Erden besaß? Und schlimmer als alles andre: sie hatte recht. Nur war es seltsam, daß sie, die es sich sonst nur in Halbheiten wohl sein ließ, die jedem Entschlusse aus dem Wege ging, sich beinahe stärker erwies als er? Freilich, sie hatte ja keinen Freund zu verlieren.

»Ich danke dir, lieber Junge,« fuhr Ulrich fort, »daß du mich nicht beklagst und nicht verspottest … Auch ein Widerspruch deinerseits hätte uns nichts genützt … Die Thatsachen sind eben unerbittlich, und was wir thun, ist nur das Natürliche.« –

»Das Natürliche,« wiederholte Leo, zum Fenster hinausstarrend. Wenn Ulrich geahnt hätte, wie sehr er die Wahrheit sprach!

»Mir bleibt nur noch übrig, gewissermaßen mein Testament zu machen. Brauchst du mich, so bin ich da … Bei Tag und bei Nacht, im Glück und im Elend … Das versteht sich von selbst … Dasselbe erwart' ich von dir – wenn wir auch bei müßiger Gelegenheit mit einem stillen Händedruck aneinander vorübergehen müssen.«

»Wie du bestimmst,« sagte Leo, und das Herz krampfte sich ihm zusammen.

Starr aufgerichtet, jede Muskel in der Gewalt seines Willens, saß Ulrich da. Seine brennenden Augen ruhten unverwandt auf dem Freunde, als wollten sie seinen Anblick in sich hineintrinken. Aber nicht einmal seine Stimme zitterte.

»Ja, und noch eins, mein Junge,« fuhr er fort. »Ehe wir scheiden, habe ich dir noch in einer bestimmten Sache ein offenes Geständnis abzulegen und deine Vergebung einzufordern. Du findest in deinen Büchern mehrfach einen Posten, den du dir nicht wirst erklären können: »›Zinsen – eingezogen durch –‹ folgt mein Name.«

Leo horchte auf.

»Die Summe beläuft sich im ganzen auf sechsundsechzigtausend und einige Hundert Mark … Daß du keine ausstehenden Gelder hast, weißt du … Es handelte sich für mich darum, dein Schiff nicht untersinken zu lassen – darum gab ich aus eigenen Mitteln, um es notdürftig über Wasser zu halten … Verzeih den Betrug und danke mir nicht. – Du sollst mir nicht danken,« wiederholte er aufstehend, als Leo auf ihn zustürzen wollte. »Was ich habe, steht dir auch fernerhin zur Verfügung. Das versteht sich unter uns von selbst. Und nun Glück auf und leb wohl!« –

Er wollte rasch zur Thür hinaus, doch im letzten Augenblick übermannte ihn der Anfall, den Leo schon seit etlichen Minuten geahnt und gefürchtet hatte. Er sank erbleichend quer über das Sofa. Seine Augen verdrehten sich – sein Puls stand still – er verlor das Bewußtsein.

Leo kannte diese Erscheinung seit frühester Jugendzeit, aber er kannte auch das Gegenmittel. Im Fallen noch fing er Ulrichs Kopf in seinen Armen auf und begann ihm die Schädelhaut heftig mit den Fingerspitzen zu bearbeiten. –

Schon nach wenigen Sekunden gewannen die Augen ihren Blick zurück, ein matter Blutstrom stieg zu den Schläfen empor, und er kam wieder zu Sinnen.

»Danke dir schön, mein Junge,« sagte er, sich aufrichtend, mit schmerzlichem Lächeln. »So hab' ich's doch noch erlebt, daß du mir die weißen Mäuschen hast austreiben können.« –

Und er griff nach seinem Hute.

Leo bat ihn, sich erst vollends zu erholen, aber Ulrich lehnte ab. –

»Was nützt das Hinschleppen,« sagte er, »wir würden uns nur wieder von neuem erregen.«

Der Wagen stand noch vorgefahren.

Für einen Augenblick ruhte die schmale, schlaffe Hand zuckend in Leos harten Pranken, dann riß er sich los.

»Und grüß mir die Deinen,« sagte er, das Schutzleder einhakend. Die Pferde zogen an, der Wagen rollte mit leisem Knirschen in den purpurnen Abenddunst hinaus.

Halb blind durch die emporschießenden Thränen taumelte Leo in sein Arbeitszimmer zurück.

»Vernünftig sein – nicht flennen, – kein altes Weib sein,« schrie er, sich guten Mut einredend.

Denn so war es recht. – Nur so konnte alles noch gut werden.


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