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XXXV.

In diesen Tagen begann Leo in der »Preußischen Krone« Stammgast zu werden.

Es gab da immer lustige Gesellschaft. die nur auf einen ordentlichen Kerl wartete, welcher Leben in die Bude brachte.

Mit den drei oder vier Ulanen war freilich nicht viel anzufangen. Sie nahmen zwar den Mund sehr voll, und hörte man sie reden, so mußte man glauben, die ausgepichtesten Kehlen vor sich zu haben; aber wenn es an ein gediegenes Saufen ging, so wurden sie zaghaft und verschwanden von der Walstatt, noch ehe der eigentliche Kampf begonnen hatte. – Die Wahrheit war, daß der Rittmeister vom Kommandeur gemessene Ordre erhalten hatte, Excesse jeder Art zu verhüten, damit der demoralisierende Einfluß des Zivils, wie er sich in Teilgarnisonen besonders fühlbar machte, thunlichst vermieden würde.

Die Amtsrichter aber waren famose Brüder, alte Corpsstudenten, verschuldet und vertrunken. Nur einer hielt sich fern, weil er als Jude Neckereien fürchtete. Dagegen gab es unter den Referendaren ein gemütliches Sumpfhuhn, das ihn vollauf ersetzte. Er war gleichfalls Jude, beobachtete aber die entgegengesetzte Taktik und war dank der Anschmiegsamkeit seiner Rasse der Wildeste der Wilden geworden.

In Gemeinschaft mit ein paar Gutsbesitzern, die leider wechselten, weil Weib und Weg allabendliche Wiederkehr verboten, kam so eine lustige Compagnie zusammen, in der sich manche böse Stunde behaglich vertrinken ließ.

Da Bier und Rotwein als unschuldige Wässerchen galten, so trank man den sogenannten »Rußner Punsch«, mit welchem man rascher und gründlicher zum Ziele kam. – Dieses Höllengebräu wurde unter starkem Zuckerzusatz aus Cognac und Portwein zusammengebraut und siedendheiß auf den Tisch getragen. – Der Mann, der den Segnungen einer solchen Mischung widerstanden hätte, war noch nicht gefunden, und jedesmal, wenn in der Küche der Punschkessel aufs Feuer gesetzt wurde, erhielten Hausknecht und Kutscher des Gasthauses den Befehl, sich für spätere Samariterdienste bereit zu halten.

Allein in der »Preußischen Krone« ging es alles in allem noch zu solide her. – Es verkehrten daselbst allerhand brave Honoratioren, die ihre Zeitung lesen und ein Spielchen machen wollten. Wenn man sich auch nicht gerade genierte, so mußte man doch Rücksicht nehmen.

Auch fehlte es an Damenbedienung.

Hingegen gab es in Münsterberg eine Reihe von Spelunken, in denen die Plebs ihre Vergnügungen suchte, und wo bei schlechtem Bier und gutem Grog ein freundliches Fräulein von Schoß zu Schoße wanderte.

Bei Engelmann bediente die blonde Ida, – im Gambrinus, wo es immer leer war, lächelte schon durchs Fenster Grete, genannt die Kröte, – und im Restaurant von Königgrätz wechselte die Bedienung, sobald man es wünschte.

Vor den verhangenen Fenstern der Wirtshäuser mußte Johann in diesen Winternächten, oft stundenlang frierend, auf seinem Bocke warten. Er und Christian hatten zusammen ein Komplott geschmiedet, um den Halewitzern den Verfall ihres Herrn verborgen zu halten. – Sie ersannen tausend Ränke, mit denen sie die Stunde der allnächtlichen Heimkunft verschleierten, und logen jeden an, der sie ausfragen wollte.

Doch auf dem Hofe wußte schon nach acht Tagen jedermann, daß der Herr ein Trinker geworden war und die Nächte durchjubelte. Niemand wunderte sich, – die Geschichte des Weihnachtsabends hatte sich zu tief in alle Gemüter eingegraben.

Im Schlosse härmte man sich ab, ohne recht zu verstehen, was geschah. Leo bewahrte bei Tage leidliche Haltung, nur daß ein launischer Mißmut, der in einen grollenden, quälerischen Humor jählings umsprang, jeden Verkehr mit ihm wie eine Strafe gefürchtet machte. – Es war ein Katz- und Mausspiel zwischen ihm und den Seinen eingerissen, das den armen Weibern oft mitten in einem halb hoffenden, halb erzwungenen Lachen die Thränen der Scham und der Empörung in die Augen trieb.

Die alte, gutmütige Mama hatte nicht weniger zu leiden als Hertha, und Elly wurde abwechselnd mit ihrem fetten Mops gehätschelt und fortgejagt.

Wer aber am meisten litt, das war er selber.

Er versuchte den Dämon zu spielen, und war doch nichts weiter als ein armer Schelm, der unter den Rutenstreichen der Selbstverachtung blutete, und von Sehnsucht und Sinnenfieber gemartert, in einem Zustand seelischer und körperlicher Erschöpfung von einer Betäubung in die andre taumelte.

Der Gedanke, ein Ende zu machen, wurde stärker und stärker in ihm. Er spielte mit verzweifelten Entschlüssen wie ein Kind mit seinen Hoffnungen. – Bisweilen war ihm zu Mute, als müßte er irgendwas zu morden haben … Den umzubringen und jenen, Leute, die ihm nichts zuleide gethan hatten und nie etwas zuleide thun würden, die er sich aber in seiner lauernden Gereiztheit als Feinde und Verleumder zurechtmachte, wurde ein Lieblingsspiel seiner trüben Phantasie.

Morden – und dann ins Zuchthaus wandern – oder lieber noch aufs Schafott – das wär's, was er brauchte … Das verhieß Rettung und Ruhe.

Mit Felicitas war er seit jenem Morgen nicht mehr zusammengekommen. Sie hatte ihm zweimal geschrieben, doch war er der Antwort aus dem Wege gegangen. – Der letzte Rest ehemaliger Energie versteckte sich in dieser Feigheit.

Auch von Ulrich war ein Brief eingetroffen, worin er um Vergebung bat, daß er ihn bei seinem jüngsten Hiersein nicht aufgesucht hatte.

Leo lachte sein bösestes Lachen. Das hätte ein schönes Begegnen werden können!

Mitten in diese Tage fiel eine Nachricht, die wohl geeignet war, ihn aus seiner Selbsterniedrigung emporzurütteln.

In der »Preußischen Krone« zog sein alter Freund Hans von Sembritzky, der dicke, brave Hans, ihn vorsichtig in eine Ecke und sagte gurgelnd und pustend, wie sein Fettherz es mit sich brachte: »Hör 'mal, alter Sohn … das ist ja, wie gesagt, nicht schlimm, und es wird ja auch weiter nichts auf sich haben … aber siehst du, deine kleine Schwester, die Elly, die kommt in die Jahre, wo die Mächens Dummheiten machen … sieh doch dem Kind ein bißchen auf die Finger, oder mindestens häng ihr die Schreibmaterialien etwas höher … Tinte macht Flecken, siehst du.«

Leo war zu Mute, als ob ein Feuerschrei ihn aus wüstem Halbschlafe jagte. Halb erschreckt und halb verdrossen verlangte er Erklärung.

Also, es triebe sich ja der Sohn des alten Brenckenberg seit bald einem Jahre – oder länger – in der Gegend herum. Patenter Corpsstudent von Haus aus – Normannen, seine Couleur, und eng liiert mit seinem eigenen Corps – aber was sei da zu machen? Der Bengel verbummele mehr und mehr – in der Gesellschaft dürfe er sich kaum mehr sehen lassen, und die Inspektoren möchten auch nichts mehr von ihm wissen. Und das sei ihnen nicht zu verdenken, denn –

Leo unterbrach ihn unwirsch.

Ja also, was los wäre? Es sei nämlich gestern sein Oberinspektor, der Lorenz – ein ehrlicher Kerl und glaubwürdig bis in die Fingerspitzen – der sei zu ihm gekommen und habe ihm erzählt, der Kandidat Brenckenberg hätte in Münsterberg am Kneiptisch Briefe der kleinen Elly Sellenthin zum Lesen gegeben, Liebesbriefe, an ihn gerichtet, die ungemein drollig geklungen hätten. Die einen hätten gelacht, die andern wären entrüstet gewesen. Kurzum – Skandal.

In Leo stieg die Wut, gemischt mit einem grausamen Triumphgefühl, jäh in die Höhe. Er brauchte einen zum Niedermachen, zum Zerstampfen, zum Zerreiben, und er hatte ihn.

Hans erstaunte über das Gelächter, das er aufschlug.

»Du scheinst die Affaire nicht ernst zu nehmen?« fragte er, beinahe gekränkt.

»Abwarten, Alterchen!« sagte Leo und klopfte ihn auf die Schulter.

Dann setzte er sich und trank weiter; sein Freund aber meinte kopfschüttelnd bei sich: »Er ist doch eklig runtergekommen da drüben!« – –

Leo gedachte vor allem die Schwester ins Gebet zu nehmen, doch als er ihr folgenden Tags gegenüberstand, hatte er die Lust dazu verloren.

Es war ja alles so egal. Wozu erst Jammer und Thränen heraufbeschwören? Der Bursche blieb ihm so wie so verfallen.

Er begnügte sich, sie in den Arm zu nehmen und sich an ihrer Bestürzung zu weiden, während er ihr mit allerhand verfänglichen Andeutungen die Hölle heiß machte.

Eine Art von schadenfrohem Mitgefühl stimmte ihn lustig. Was that sie schließlich mehr als er? Wenn er sich zu Grunde richtete – sehend, mit vollem Bewußtsein dessen, was er that –, warum sollte so ein kleines, dummes Schaf nicht auch das Vergnügen haben, seine blinde Jugend ein bißchen in die Pfütze zu führen?

Und als er sie genugsam gequält hatte, küßte er sie ab und ließ sie laufen.

Dies spielte kurz nach dem Mittagessen. Eine Weile darauf trat Hertha, blaß vor Erregung, ihn anreden zu müssen, mit einem Briefe Johannas vor ihn hin.

Die Schwester schrieb, sie habe in seinen eigenen Angelegenheiten dringend mit ihm zu reden, und ersuche ihn, sich nach Empfang dieses unverzüglich zu ihr zu bemühen.

»Die kann sich gratulieren,« dachte er und reckte sich. Aber aus dem Hohne heraus, der sein Wesen durchtränkte, fühlte er, daß er sie fürchtete – sie oder die Unbequemlichkeit, mit der sie ihm drohte. Denn Gutes stand nie in Sicht, sobald Johanna sich meldete.

Das prickelnde Lebensgefühl, das plötzlich seine Adern durchströmte, sagte ihm, wie heiß er sie haßte.

Sie und Lizzie und alle – sie aber am meisten.

Er langte die Pelzmütze vom Nagel und schritt in den Park hinaus.

Es ging auf vier.

Eine glanzlos müde Sonne senkte sich dem Untergange zu … Ihr Licht glitt über die Schneeflächen hin ohne die Kraft, deren müdes Grau zu beleben, nur hie und da zitterte ein Krystall in blauen Reflexen … Die Gesträuche kauerten schwarzmassig am Boden … Durch die Lücken des höheren Geästels guckten die auseinander gereckten Lichtwolken wie tausend runde Augen.

In der Schneedecke des Karpfenteiches hatten die Mädchen eine Rutschbahn ausgeschaufelt, die wie ein schmales, dunkles Brett von Ufer zu Ufer reichte.

Gedankenlos nahm Leo einen Ansatz, und während des Gleitens freute er sich, daß er nicht hinfiel.

Jener glutatmende Mittag kam ihm in den Sinn, als er mit dampfender Zigarre hier auf der Bank gelegen hatte, in Ruhe die Unterredung mit ihr abzuwarten.

Auf dem Sitzbrett erhob sich jetzt ein weißes Polster, in welches irrende Vogelfüße bunte Reihen von Sternen hineingemustert hatten, – – Ihm war, als müßte er sich dort in den Schnee werfen, nur um wieder derselbe zu sein.

»Aber meinen Mann werd' ich ihr stehen – besser als damals!« dachte er und schritt den verwehten Pfaden zu, die durch das zerzauste Dickicht zum Witwenhause führten.

Am Fenster stand sie und wartete auf ihn.

Als er die Stube betrat, drehte sie sich langsam um und maß ihn, die Lippen einbeißend, mit einem kalten, glasigen Blicke.

Sie war noch gealtert inzwischen und schien länger und schmaler geworden. Das Fleisch ihres Gesichtes war erschlafft, und die Gramfalte, die senkrecht von den Mundwinkeln zum Kinn hinunterstieg, zerhackte vollends das Oval ihrer Wangen … Das graue Licht, das seitlich auf sie fiel, gab dem Gesichte einen kreidig-fettigen Ton, wie ihn Todeskandidaten haben oder Leute, deren Kräfte durch Ueberreizung verfallen sind.

»Also hier beliebst du zu hausen,« sagte er und that, als ob er Umschau hielte. – Er sah nur das weiße Kruzifix in seiner Ecke mit dem Betschemel davor, und einen Aufbau von schwerfälligen Möbeln, über deren Flächen und Kanten das späte Licht grauspiegelnd dahinstrich. Der Armeleutsdunst, den die Kinder der Betschule zurückgelassen hatten, legte sich drückend auf seine Brust. Ein Geruch wie von gepreßten Kräutern und vergilbten Gebetbüchern mischte sich muffig darein.

»Bitte, nimm Platz,« sagte Johanna, ohne ihm die Hand zu reichen.

Es lag etwas Müdes, Weiches, Weinerliches in ihrer Stimme, das ihm an ihr neu war. Auch die Art, in der sie sich zum Sofa hinschob und sich langsam in die Polster sinken ließ, war die einer Kranken oder seelisch Gebrochenen.

»Ich habe dich zu mir gebeten,« begann sie, »damit du weißt, was der liebe Gott mit uns beschlossen hat … Denn was jetzt kommen wird, das ist Gottes Gericht … Ich hab' nichts weiter zu thun, als was mir befohlen ist … Aber du sollst mir nicht vorwerfen dürfen, daß ich den Schlag tückisch und aus dem Hinterhalte heraus gegen dich geführt habe.« Sie drohte … Natürlich … Er hatte nichts Besseres erwartet.

»Also, was ist schon wieder los?« fragte er, den Ingrimm bändigend, der ihn schüttelte. »Was willst du? … Und wieviel kostet die Geschichte? … Ihr Frommen habt ja eure festen Preise, wenn man sich von euch loskaufen soll?«

Sein Hohn prallte ohne Wirkung an ihr ab.

»Sieh, Leo,« sagte sie, und ihre Stimme wurde noch müder, noch klagender; »du thust mir ja leid … Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich dich hätte retten können … dich und uns alle … denn wir gehn alle daran zu Grunde … Aber gegen Gottes Richterspruch gibt es kein Auflehnen … Und Gott hat gesprochen … Das Kind ist tot … Weißt du, warum das Kind gestorben ist?«

»Laß das Kind ruhen,« stammelte er in jäh aufsteigender Angst. »Was geht dich das Kind an?«

»Das will ich dir sagen, lieber Leo,« erwiderte sie, den matten Arm zum Kruzifix hin ausstreckend. »An jener Stelle hat sie das Kind zum Tode verurteilt! – Und um deinetwillen hat sie es sterben lassen.«

Ihm war, als schlüge eine flache Hand ihm klatschend gegen die Stirn. Er wollte reden, aber seine Gedanken verwirrten sich. – Nur ein würgendes Lachen kam aus seiner Kehle.

War sie mit dem Teufel im Bunde, diese abgewelkte Betschwester, daß sie den heimlichsten Sinn des heimlich Geschehenen erfaßte und erriet?

Für einen Augenblick wurde es totenstill in dem dumpfen, überheizten Zimmer, das die sinkende Dämmerung mit ihren Schatten umspann.

Johanna sah mit stierem Auge in die dunkle Ecke hinein, aus welcher das Kruzifix, wie ein Blutzeuge der vollendeten Schuld, in verschwimmenden Umrissen herüberleuchtete.

»Auf jener Stelle,« fuhr sie fort, »hat sie gekniet und geschworen … und ich hab' ihr geglaubt, denn das Haupt seines Kindes verschwört man doch nicht … Und gewarnt waret ihr alle beide … Selbst das Abendmahl ließ ich euch nehmen, damit ihr ganz sicher sein solltet eines vor dem andern … Dann sah ich, wie du verwildertest, und bekam Angst … Aber das Kind lebt ja, dacht' ich dagegen, noch ist nichts geschehen … Gott wird sprechen, wenn es Zeit ist … Gesessen und gewartet hab' ich Tag für Tag, ob das Kind nicht sterben würde … Und es ist gestorben … Da wußt' ich, was ich wissen wollte … Du brauchst dich nicht zu wehren, lieber Leo, du brauchst nicht erst zu leugnen … Gott hat gesprochen, und Gott glaub' ich mehr als dir.«

In ihm fing die Wut zu wühlen an, doch war er noch ungewiß, auf welche Art er ihr die Zügel schießen lassen könnte. »Gesessen und gewartet hast du!« knirschte er. »Eine noble Beschäftigung – eine hochnoble Beschäftigung – wie eine Kreuzspinne im Winkel zu sitzen und auf den Tod eines unschuldigen Kindes zu lauern.«

»Ich habe ja sonst nichts zu thun auf der Welt,« erwiderte sie mit einem klagenden Lächeln. »Ich bin ja ganz überflüssig – ganz überflüssig bin ich.«

»Es scheint doch nicht,« hohnlachte er. »Wozu hättest du mich sonst rufen lassen? … Also los! … Was ist das für ein Schlag, den du in petto hast?«

»Schlag, sagst du,« erwiderte die Schwester. »Ebenso kannst du es nennen Wohlthat … Wohlthat, Wohlthat für uns alle … Ich habe geschwiegen jahraus, jahrein – und habe alles darüber verloren – Glück und Jugend und alles … Aber nun muß ich reden … das will der liebe Gott so … Gott will, ich soll mit Ulrich reden, damit sein Haus wieder rein wird – damit er weiß, wes Geistes Kind sein Weib ist … und sein Freund … einer wie der andre.«

Er war in die Höhe getaumelt … Seine Hände tasteten nach ihr … Vor seine Augen legte sich ein Blutdunst. »Mache sie unschädlich!« schrie es in ihm. »Lieber schlag sie tot, bevor sie dich verrät!«

Seine Blicke schweiften in irrer Suche an den Wänden umher. Er sah einen Strauß verstaubter Gräser … eine blaue Porzellantasse … und einen Erlöser, welcher mit süßem Lächeln ein Lamm in den Armen trug.

Dann sammelte er sich mühsam. »Wann gedenkst du dein Vorhaben auszuführen?« fragte er heiser.

»Sobald es not thut,« erwiderte sie.

»Wann wird's denn not thun?« fragte er gierig weiter. »Ulrich ist fort … von Königsberg geht er nach Berlin … vor Monat März kommt er nicht wieder … so lange wirst du dich also wohl gedulden müssen.«

»Ich kann ihn ja auch heimrufen,« erwiderte sie nachdenklich mit ihrem weinerlichen Lächeln. »Wenn es not thut, kann ich ihn ja auch heimrufen.«

»Das wirst du nicht thun!« schrie er, indem er auf sie lossprang und sie packte.

Das Zimmer drehte sich ihm im Kreise … Er sah wieder einen blutigen Dunst, und aus demselben weitaufgerissene Augen in stierem Grauen zu ihm emporgewandt. Er fühlte einen hageren Hals ohnmächtig unter dem Drucke seiner Finger zucken. Ein Insekt, eine graue, lichtscheue Motte, die man auf der Welt hinwegwischt, wenn sie lästig wird, – mehr war die Schwester ihm nicht in diesem Augenblick.

»Deinen Mund wirst du halten,« knirschte er, »oder ich erwürg' dich.«

Er versuchte sie in die Höhe zu reißen. Mit einem harten, kurzen Schalle schlug ihr Kopf gegen die Kante des Sofas. Ein Zittern jähen Schmerzes lief über ihr Angesicht, sie sank knieend auf die Erde nieder.

Da kam er halbwegs zur Besinnung, löste die Hände von ihrem Halse und lehnte ihren Kopf gegen das Sitzpolster.

Dann rannte er im Zimmer umher, wie ein Verzweifelnder in die Winkel spähend, als müßte dort irgend etwas stecken, das er bloß zu greifen und hervorzuziehen hatte, um sich und Ulrich damit zu retten … Er sah und suchte … Das Kruzifix verfloß gespenstisch in den dichter werdenden Schatten … der gute Hirte lächelte ihn an … der staubige Blumenstrauß schien sich zu schütteln.

»Wie rett' ich mich? wie rett' ich mich?« schrie es in ihm. Er suchte und suchte und kroch in sich zusammen … Ihm war, als hinge senkrecht über seinem Scheitel das Beil, das der Schattenriese seit Monden unermüdlich vor ihm hertrug.

Dann sah er die Schwester reglos vor dem Sofa liegen, und begann, sich seiner zu schämen.

»Richt dich doch auf, Johanna,« bat er murrend, »wenn ich dich auch hab' umbringen wollen, mißhandeln wollt' ich dich nicht.«

Er streckte die Hände helfend nach ihr aus, aber erschauernd wehrte sie ihm und zog sich mühsam auf ihren Sitz zurück.

»Armer Leo!« sagte sie, und ein müdes Mitleid zitterte in ihrer zerbrochenen Stimme.

»Jawohl – armer Leo, armer Leo!« rief er, indem er sich in seiner Ratlosigkeit dicht vor ihr aufpflanzte. »Bedauern kannst du mich – aber zu Grunde richten willst du mich doch.«

»Du – bist es ja schon,« klagte sie.

»Und wenn ich's bin? Nehmen wir mal an, ich bin's … Wer ist schuld daran als du? … du und der Pfaffe, der Hund, mit dem ich auch demnächst meine Abrechnung halten werde … Jetzt willst du reden, Weib, – jetzt, wo uns kein Tod und Teufel mehr hilft! … Aber damals, als Ulrich in die wahnsinnige Geschichte hineinrennen wollte, und als du die einzige warst auf der Welt, die das Unheil verhüten konnte, damals – warum hast du damals deinen Mund nicht aufgethan – hä?«

Sie sah aus ihren untergesunkenen Augen mit einem Blicke scheuen Jammers zu ihm auf. Dann zog sie wie fröstelnd das locker hängende Kleid mit den Schultern in die Höhe.

»Ich hab' ja alles bereut,« murmelte sie. »Alles hab' ich bereut, siehst du, alles hab' ich bereut.«

»Bereut oder nicht … Damit kommst du mir nicht mehr! … Schon damals im Sommer, als ich dich fragte, wichst du mir aus … Wenn du ein reines Gewissen hast, warum antwortest du mir nicht?«

»Quäl mich doch nicht,« bat sie in wachsender Angst und drückte sich in die hinterste Sofaecke.

Und als Leo seine Forderung noch dringender wiederholte, brach sie in lautloses Weinen aus … Ohne Regung saß sie da, und die Thränen liefen in leuchtenden Rinnen über ihr Gesicht.

Er hatte sie noch nie so weich, so wehrlos gesehen. Ritterlichkeit und Mitleid regten sich in ihm. Mitten aus Wut und Angst heraus begann er – wider Willen fast – in weicherem Tone zu ihr zu reden:

»Siehst du, Hannah, als ich heute zu dir ins Haus kam, haßt' ich dich … Viel fehlte nicht, bei Gott! und ich hätte dich – – Aber du bist nicht mehr das, was du warst … trotz deiner Drohungen … Viel Staat ist mit uns beiden nicht mehr zu machen … Wir sind beide armes Gesindel … Drum hab Vertrauen zu mir! … Sag mir, was ich wissen will … Es könnte sonst leicht zu spät werden für uns alle beide.«

Ihre Thränen versiegten. Sie schaute ihn an, erstaunt, verdutzt beinahe ob der ungewohnten Milde seiner Sprache. Sie schien so sehr daran gewöhnt, ihn in ihrem Innern als ein wildes Tier zu behandeln, daß sie seine wiedererstandene Herzlichkeit nicht zu fassen vermochte.

Und dann erwachte in ihrem Auge wieder das starre Brennen. Mit geheimnisvollem Lächeln nickte sie ihm zu und wies nach dem Kruzifix in der Ecke.

»Sieh ihn dir an,« sagte sie, »ganz genau!«

»Wen?«

»Wen? Den Heiland!«

Er trat vor das Betpult und schaute in das weiße Angesicht des Gekreuzigten, das sich im Frieden des Verscheidens, müde von allen Schmerzen, auf die Brust herniederneigte.

»Siehst du keine Aehnlichkeit?« fragte die Schwester … ihr Lächeln spannte sich und wurde fast verschmitzt.

»Nein, mit wem?«

»Aber schäme dich, Leo,« erwiderte sie und schlug mit einer trübselig scherzenden Bewegung durch die Luft. »Jedes Kind kann es erkennen … Genau so sieht doch Ulrich aus.«

»Ja – so!« machte Leo gedehnt und starrte ihr in das abgehärmte Gesicht, das ein triumphierendes Leuchten des Besitzes verklärte. Ein lebenslanges Martyrium enthüllte sich ihm blitzartig in diesem wirren Geständnis.

»Hannah!« sagte er dann, »wenn du ihn geliebt hast, warum nahmst du denn jenen Lumpen?«

Sie fuhr zusammen, »Lieben?« stammelte sie. »Wer spricht von Lieben? … Wen soll ich lieben?«

»Laß nur!« erwiderte er, »um mir Komödie vorzuspielen, hast du mich doch nicht herbestellt.«

Da sank sie auf das Sofa zurück und hub aufs neue zu weinen an – lautlos wie vordem, als wagte der tiefste Jammer ihrer Seele sich nicht ans Tageslicht empor.

Sie wollte reden, aber ihre Laute blieben ein tonloses Gestammel. Nicht allein, daß sie hatte leiden müssen ein Leben lang, – das Schlimmste von allem: sie schämte sich noch des Erlittenen.

Und endlich fand sie das Wort, das demütig genug war, um ihre Beichte zu beginnen:

»Es klingt ja lächerlich, wenn ich es heut sage, Leo … und du kannst mich ja auch aushöhnen, so viel du willst … aber du hast recht: Ich lieb' ihn und ich hab' ihn geliebt, solang ich denken kann … das ist mein ganzes Verhängnis … Und ich bin ihm von Gott bestimmt gewesen! … ich allein: ich ganz allein … denn ich hab' sein Wesen verstanden, wie keiner auf der Welt … auch du nicht, Leo … mitsamt deiner großen Freundschaft … Wär' ich seine Frau geworden, ich hätte ihm Hände und Füße geküßt … ich hätte mich verzehrt in Sorge um seinen armen, kranken Leib, der jetzt hinsiechen muß, weil keiner ihn pflegt … Aber da ist sie gekommen … Ich will sie nicht schelten … sie hat ihren Lohn dahin … Um ihretwillen hat er mich vergessen und ist hinter ihr hergerannt – geradeso wie du … Da hat mich der Trotz gepackt, daß ich jenen Menschen genommen hab', weil er eben da war … Und als ich als Witwe zurückkam, da fragt' ich mich: Ob er dich jetzt wohl wollen wird? … Aber sie war auch Witwe geworden … Du, lieber Leo, hatt'st ja dafür gesorgt … Und ich war verbittert und vergrämt und traute mir kein Glück mehr zu … Aber sie that süß und verschämt, und ihre ganze Trauer war nichts wie ein neues Locken: Komm doch – nimm mich doch – ich bin ja da! … Ich sah, daß er immer öfter und öfter zu ihr fuhr, um ihr beizustehen in ihrer Verlassenheit, wie es hieß … Und ich war wie gelähmt durch die Angst, er könnte mir von neuem verloren gehen … Und anstatt um ihn zu kämpfen, verkroch ich mich vor ihm … Und richtig, da verlor ich ihn …«

Sie schwieg und lächelte still vor sich hin. In ihm bäumte ein jäher Zorn sich auf. Ihm war, als müßte er sich mit der letzten Kraft seiner Fäuste dem Schicksal entgegenstemmen, unter dessen Schritten sie beide – schon halb zermalmt – sich wanden.

Und die Schwester fuhr fort:

»Dann freilich, als der Tag kam, wo ich euer Geheimnis von ihr erfuhr, da hatt' ich sie in meiner Hand … Aber da waren Haß und Verbitterung so groß in mir geworden, daß ich mir sagte: So – bist du ihm so vielmal zu schlecht, daß er dir sogar diese Dirne vorzieht, dann soll er in sein Unglück rennen … Und du auch … Und Leo auch … Und darum schwieg ich … So – nun weißt du's! … Das ist die große Sünde, die ich begangen habe … Die muß ich bereuen … immerzu bereuen … immerzu bereuen, solang mein armer Kopf noch zusammenhält … Aber mein Kopf ist müd … Und meine Kniee sind auch müd … Lang wird's nicht mehr dauern, lieber Leo.«

Sie legte die flachen Hände auf die Schläfen, sank in die Sofaecke zurück und lächelte ihn an.

»Was denkst du über deine Zukunft, Hannah?« fragte er, in tiefster Seele erschüttert.

»Ich? … Ich komm' ins Irrenhaus,« erwiderte sie ruhig.

»Hannah!« schrie er auf.

»Ja, siehst du denn nicht, daß ich verrückt werde?« fragte sie, und der verschmitzte Zug erschien wieder in ihrem Gesicht. »Wenn du wüßtest, was mir schon alles erschienen ist, du würdest mich nicht so frei herumlaufen lassen … Weißt du, was ich unlängst gesehen hab'? … Vier feurige Reiter hab' ich gesehn … mit großen, blanken Sensen … Und den Brand Jerusalems hab' ich auch gesehn … Und den großen Moloch hab' ich gesehn, wie ihr ihm den kleinen Paul in den glühenden Rachen warft … Und Urias' Weib hab' ich auch gesehen … Das ist immer sie … Und allnächtlich, weißt du –«

Ihr Auge vergrößerte sich. Eine Welt voll seliger Geheimnisse brach daraus hervor.

»Allnächtlich kommt der Heiland und unterhält sich mit mir. Und ich darf zu seinen Füßen sitzen und die Finger in seine Wundmale legen … Und das ganze Zimmer ist dann voll von seinem Glanz … und hunderttausend Engel flattern rings herum. Die haben rote und blaue Flügel wie Paradiesvögel … Das ist ein wunderschöner Anblick, das kannst du mir glauben – aber wenn du's weiter sagst, lieber Leo, dann kommen zwei fremde Männer und kriegen mich zu packen und bringen mich ins Irrenhaus. Und das willst du doch nicht, – nicht wahr, lieber Leo?«

Sie reckte sich zu ihm herüber und streichelte bittend seine Hand.

Der Jammer dieses armen, verlorenen Daseins packte ihn so, daß er das eigene Schicksal beinahe darüber vergaß … Wohl fuhr ihm für einen Augenblick der Gedanke durch den Kopf: »Wenn du sie einsperren läßt, so bist du gerettet!« Aber mit Ekel verwarf er ihn wieder … Auch er war müde geworden.

»Armes Weib!« sagte er, vor sie hintretend, »armes Weib!« und ließ die Rechte in mitleidiger Liebkosung über ihren nonnenhaften Scheitel gleiten.

Mit dem Blick eines gequälten Hundes sah sie an ihm empor, seufzte tief auf und machte einen zagen Versuch, ihren Kopf gegen seinen Leib zu lehnen.

Als er ihre Bewegung gewahrte, ließ er sich neben ihr auf dem Sofa nieder und legte schweigend den Arm um ihren Hals.

So saßen sie lange, still aneinander gedrückt, und starrten vor sich nieder.

Jetzt erst wußte er, wie sehr sie seine Todfeindin war, sie, die er in seinem Arme hielt, und dennoch war von Haß nichts mehr in seinem Herzen.

Denn was war sie weiter, als ein Stück von ihm? Sie halb eine Wahnsinnige – er halb ein Schuft – – und zu Grunde gerichtet sie alle beide!

Das Sellenthinsche Vollblut hatte allzu heiß in ihnen gequirlt und sie auf verschiedenen Wegen zum gleichen Ziele hingejagt …

Er nahm Johannas Kopf in seine beiden Hände.

Ihre Blicke trafen sich und wollten sich nicht trennen.

Im tiefsten Elend, im wildesten Wüten gegeneinander, hatten Schwester und Bruder sich wiedergefunden.

Dann küßte er sie leise auf die Stirn und stand auf.

»Und reden mußt du mit ihm?« fragte er, »das ist dein fester Entschluß?«

Ihre Züge spannten sich, ihr Auge bekam wieder den starren, fiebrig-trüben Glanz.

»Frag doch nicht erst!« sagte sie im Tone weinerlichen Eigensinns. »Gott will es doch so … Gott hat es doch selbst von mir verlangt … Soll ich etwa Gott ungehorsam sein? Und ich muß es auch bald thun, denn sonst schenkt man mir am Ende keinen Glauben mehr.«

»Na, dann in Gottes Namen,« sagte er, seine Mütze aufstülpend. »Leb wohl, Hannah!«

»Auch du, Leo!«

Draußen fing er zu pfeifen an … Es war das Lied von der »Paloma«!

Er fühlte, er hatte sein Todesurteil empfangen. – –


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