Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.

Die Mittagssonne brütete auf dem glattgestampften Vorplatz der Station. –

Schläfrig nickte der alte Schimmel vor dem gelben Postkasten, welcher zu jeglichem Zuge aus dem Städtchen nach der Bahn herüberwackelte. Auch ein paar Hotelwagen – braungrau, die Räder bedeckt mit altem Straßenlehm – kamen klirrend die staubige Allee dahergezogen, an deren jenseitigem Ende zwei nüchtern rote Türme ihre kreuzbewehrten Spitzen in das Tiefblau des Julihimmels bohrten.

Schon meldete das dunkeltönige Glockensignal, daß der Zug die benachbarte Station verlassen habe …

Der Vorsteher setzte die rote Mütze auf, das Büffettfräulein wischte den Staub von den Käseglocken, und zwei Briefträger schoben den Gepäckkarren über den knirschenden Kies.

»Wieder einmal keine Katze drinnen,« brummte der Restaurateur, durch das Fenster des Wartesaals die auffahrenden Hotelwagen musternd, »wozu hält man das Bier eigentlich kalt, wenn's doch keiner säuft?«

Die Mamsell nickte nachdenklich und scheuchte die Fliegen von einem Stapel alter trockner Waffeln. –

Da kam ein offener Landauer, mit zwei feurigen Braunen bespannt, auf der Allee herangebraust.

Das Gesicht des Wirtes verklärte sich.

»Die Stoltenhöfer,« rief er, nach seiner Mütze greifend, »den Jungens ihr Urlaub ist alle.«

In kunstvollem Bogen steuerte der Wagen um die harrenden Gefährte herum und hielt vor den Stufen der Hintertreppe.

Einer der beiden Kürassieroffiziere, welche den Rücksitz des Wagens innehielten, richtete sich langsam in seiner ganzen blonden Hochstämmigkeit empor, kletterte gemächlich hinaus und schob mit brüsker Handbewegung den Wirt zur Seite, der sich beflissen gefühlt hatte, seine guten Dienste anzubieten. Der andre, ebenso blond, ebenso hochstämmig und vielleicht noch ein wenig phlegmatischer, folgte ihm. –

Sie faßten zu beiden Seiten des Schlages Posto und halfen mit hastiger Armbeuge, die den Formen einer höfischen Quadrille entnommen schien, der mächtigen Frauengestalt, die rechts im Wagen saß, zur Erde nieder. –

Hochbusig, mit breitausladenden Hüften, die großen Hände in neue, hellbraune Glacéhandschuhe gezwängt, den grauen Staubschleier bis über die Stumpfnase zurückgeschlagen, entstieg sie ruhig dem Wagen und maß mit einem wartenden Blicke, der scharf und unzufrieden schien, den ältlichen Herrn, welcher ihr folgte.

»Laßt man, Jungens,« sagte der schnarrend, da sie auch ihm beistehen wollten, »euer alter, gebrechlicher Vater hilft sich immer noch selber.«

Und mit elastischem Schwunge, ohne den Tritt zu berühren, sprang er zu Boden, den Staubmantel hinter sich auf den Sitz werfend. In knapper, eleganter Jacke stand er da, und aus dem verwitterten Lebemannsgesicht mit den Hängebacken und dem grauen, keckgewirbelten Schnurrbärtchen guckten die Aeuglein vergnüglich zu Frau und Söhnen empor, die ihn sämtlich um eines halben Hauptes Länge überragten.

Man trat in den kleinen Wartesaal, der für Reisende der beiden ersten Wagenklassen reserviert war und der außer zwei blankpolierten Tischen und den mit blaßgrüner Gaze überzogenen Oeldruckbildern der Allerhöchsten Herrschaften nichts weiter enthielt als Fliegenvertilgungsapparate. Eine Glasflasche mit Seifenwasser, zwei Teller mit Giftpapier und etliche Gläser, mit durchlöchertem Schnapsbrote überdeckt. Innerhalb dieser Apparate und um sie herum wälzten sich Hunderte ertrinkender und vergifteter Fliegen im Todeskampfe …

Der Wirt bot dem »Herrn Baron« seine Erfrischungen an. Es läge Königsberger Bier auf Eis, auch eine unvergleichliche Brauselimonade wäre vorhanden. – Herr von Stolt bestellte Bier und schickte seine Söhne aus, ihr Gepäck zu besorgen.

Sie schlugen, Urlaub nehmend, die Hacken zusammen und verschwanden nach der Richtung des Buffetts hin, wo man sie alsbald mit dem aufwartenden Fräulein scherzen hörte. –

»Gott sei Dank, daß sie fortkommen,« sagte seufzend die Dame, indem sie das violette Hutband löste, aus welchem ein breites Doppelkinn ehrfurchtgebietend hervorquoll. »Es war hohe Zeit für sie.«

Ihr Gatte versteckte ein Schmunzeln und fragte dann: »Warum?«

»Hast du die Jungens in den letzten vierzehn Tagen außer den Mahlzeiten überhaupt noch zu Gesicht bekommen?« fragte sie zurück.

»Na – so schlimm –« erwiderte er, »aber du hast recht, sie waren ein bißchen viel weg …«

»Und wo waren sie? Darum handelt es sich!«

»Na, wo werden sie viel gewesen sein? – In der ›Preußischen Krone‹ oder sonst wo – bißchen Sekt getrunken – bißchen getempelt, bißchen mit den Mädeln geulkt. – Hab' ich auch so gemacht!« –

»Und machst es jetzt nicht viel besser.«

»Ah, erlaub mal, Malwine!«

Sie richtete sich in die Höhe und maß ihn mit dem mitleidigen Lächeln der Gattin, der das Verzeihen wohl oder übel zur Gewohnheit geworden ist.

»Dich lassen wir lieber aus dem Spiele, mein Freund,« erwiderte sie, »du weißt, es kommt nichts dabei heraus … Ich würde unsern Jungens auch weiter keinen Vorwurf machen. Selbst den Mägden zwischen den Heuhaufen und den Schankmamsells in den Gasthäusern dürfen sie nachlaufen, so viel es ihnen Spaß macht.« –

»Ah, du bist tolerant, Malwine.«

»Jawohl … Aber was mir nicht gefällt, ist, daß sie lernen, Frauen aus der Gesellschaft – aus unsrer Gesellschaft – mit begehrlichem Auge zu betrachten … Königsberg ist für zwei Kürassiere, die vom Vater das Geld und von der Mutter die Statur ins Leben mitbekommen haben –«

»Daß ich kleiner bin, als du, liebe Malwine,« unterbrach er sie, »habe ich schon zur Genüge von dir erfahren. Ich werde mir Mühe geben, zu wachsen.«

»Ich wollte sagen,« fuhr sie fort, »Königsberg ist gerade kein Tugendparadies – im Gegenteil« – ein mütterlicher Seufzer entrang sich dem mächtig gewölbten Busen. »Aber – auf die Heimat kommt's an … Die muß ihnen eine reinere Welt bleiben. Sag selbst, was soll daraus werden, wenn sie die Kreise, aus denen ich ihnen einstmals ihre Frauen aussuchen werde, anfangen, mit kritischen Augen anzusehen? Und warum? Weil es darin Wesen gibt, die ihre Würde solchen jungen Leuten gegenüber nicht aufrecht zu halten verstehn.«

»Ich weiß wirklich nicht, wo du hinwillst,« sagte Herr von Stolt und besah aufmerksam die Falten seines Reitstiefels. –

»Wenn du dich doch nicht verstellen möchtest,« erwiderte die Gattin. »Du bist ja genau so hinter ihr her, wie deine Söhne.«

»Klingsbergereien hab' ich mir schon lange abgewöhnt, mein liebes Herz,« sagte er schmunzelnd, »wenn du aber mit dem allen Felicitas Kletzingk meinst, so bist du gewaltig auf dem Holzwege. Etwas Harmloseres als diese kleine Frau gibt es nicht … Wir kennen ja Ulrich. Entweder tagt er in Berlin oder er sitzt und büffelt. Seine Misepetrigkeit wird er auch nicht los … Na – und die kleine Frau, die will sich amüsieren.«

Frau von Stolt brach in ein hartes Lachen aus. »Natürlich. Zieh du das alte Register nur auch noch auf. – Sie ist ein Engel … Darüber sind alle Männer ja einig zehn Meilen in der Runde … Wie schalkhaft sie ist und wie schwermütig – und wie geistvoll und wie züchtig – und wie weich und wie – kurz, ein Ausbund … Aber wir Frauen sehen schärfer, lieber Freund, wir lassen uns durch dies Hinschmachten und die süßen Flötentöne und die lachenden Rehaugen kein X für ein U machen. Freilich, bei uns sitzt ja auch kein Diebsgelüst dahinter.«

»Du wirst beleidigend, Malwine,« erwiderte Herr von Stolt, indem er das grauliche Schnurrbärtchen aufwirbelte und den Gekränkten spielte.

»Wenn wenigstens noch etwas an ihr dran wäre!« fuhr sie fort, ohne sich beirren zu lassen, »aber ich sag' euch, gewöhnlich ist sie bis ins Mark hinein. Nicht so viel ist echt in ihr! Ihre Larve hat sie, weiter nichts. Ich habe auch Ulrich nie begreifen können, wie er bei seinem Ansehen und seinem Reichtum sich an diese Person hat hängen können. Die Witwe Rhadens – arm – mit einem Kinde – und kompromittiert dazu!«

»Kompromittiert – nanu – wodurch denn?«

»Thu doch nicht so, Alfred,« entgegnete sie, »ihr Männer seid ja immer der Ansicht gewesen, daß Rhaden in dem Duell mit Sellenthin gefallen ist, weil eine Ehebruchsgeschichte dahinter gesteckt hat.«

»Jawohl, früher. Vor ihrer zweiten Heirat. Das geb' ich zu. Aber Leo Sellenthin und Ulrich sind doch Freunde von Kind auf … Und was für Freunde! Blutsbrüder oder – oder so ganz was Extraordinäres – müßte man dafür sagen. Würde Ulrich diese Frau geheiratet haben, wenn sie vorher mit seinem Freunde –? … das ist doch barer Widersinn – nicht wahr?«

Frau von Stolt versank in Nachdenken. Die Gründe ihres Gatten schienen sie überzeugt zu haben.

»Nun abgesehen davon,« begann sie nach einer Weile, »Leo ist weg und kommt sobald nicht wieder. Was uns näher liegt, das ist die Art und Weise, wie Felicitas Kletzingk sich jetzt benimmt. Und da muß ich doch sagen, das ist beinahe ein Skandal.« –

Herr von Stolt zuckte die Achseln.

»Gut – ein Beispiel,« fuhr sie fort. »Bloß ein Beispiel! Eines Morgens früh revidiere ich die Taschen von unsern Jungens.«

»So – du revidierst also fremde Taschen?« rief Herr von Stolt und wurde merklich unruhig.

»Jawohl, denn es ist gut, hinter ihre Schliche zu kommen, sowohl in Liebes- wie in Borgangelegenheiten. – Und was find' ich? Briefe von Frau Felicitas find' ich ... Schmal, zart, olivengrün, und rochen schon von weitem nach dem abscheulichen Parfüm, das sie ja immer ausströmt.« –

Herr von Stolt zog unwillkürlich die Luft durch die Nase ein und lächelte träumerisch dazu …

»Ich lese … Eine richtige – wie sagt man? – ästhetische Korrespondenz … So überspannt wie nur möglich. Menschheitsadel und Vollmondschein und Einswissen mit der Natur und Paul Heyse und andrer Unsinn. – So das Gehabe, mit dem sich sonst bei den sehr jungen Leuten die allererste Verliebtheit maskiert. – Natürlich war gar keine Rede davon, daß ich unsre braven Jungens diese alberne Rolle noch weiterspielen ließ, denn sie haben zwar einen ausgezeichneten Pferdeverstand, aber der Sinn für das sogenannte ›Höhere‹ geht ihnen ja – Gott sei Dank – gänzlich ab. Ich griff mir einen jeden beim Ohrläppchen und legte ein energisches Veto ein.«

»So – und das hat geholfen?« fragte schmunzelnd Herr von Stolt.

»Soweit ich's überblicke, natürlich … Ihre Besuche bei Frau Felicitas konnte ich freilich nicht verhindern. – Ich verstehe nur Ulrich nicht, daß er den Verkehr seiner Frau mit diesen jungen Leuten billigt. Wie unsre beiden, so trifft man dort Otzen und Neuhaus und den zweiten Sembritzky und andre mehr – alles Grünschnäbel.«

»Na – es kommen ja wohl auch Aeltere,« warf Herr von Stolt überlegen darein.

»Ja – du zum Beispiel.«

»Aber Malwine!« sagte er vorwurfsvoll.

»Lieber Alfred, wir beide kennen uns.«

»Wenn ich nach Uhlenfelde reite, so besuche ich doch Ulrich.«

»Besonders, während er im Reichstag sitzt.«

Die eheliche Auseinandersetzung fand hier ein Ende, denn in diesem Augenblicke glitt eine lange, schmale Männergestalt, in einen weißen, faltenlosen Staubmantel gehüllt, an dem Fenster des Wartesaals vorüber – wie ein wandelndes Handtuch anzuschauen, dem man einen Kopf aufgesetzt hat.

»Wenn man vom Wolf spricht,« rief Frau Malwine und sprang auf, um zu sehen, wohin der Weiterschreitende sich wenden würde.

»Wer war's?« fragte Herr von Stolt, der dem Fenster abgewandt dasaß.

»Ulrich Kletzingk.«

Die Thür zum Hausflur öffnete sich. Der, welcher soeben vorübergegangen war, trat ein.

Auf schmalen Schultern und langem, sommersprossigem Halse saß ein blasses, kränklich dreinschauendes Gesicht mit scharfer, schmaler Nase und eckigen Wangen, die von einem dünnen, fahlblonden Barte wie von einem länglichen Kranze umgeben waren. Die hohe, etwas zurücktretende Stirn, welche von drei Längsfalten geistiger Ermüdung durchfurcht war, endigte in einer Bürste starr aufschießender, dunkelbrauner Haare. Das Hauptstück in diesem hagern, durchgeistigten Kopfe waren zwei dunkle, brennende Augen, welche wie Fackeln der Energie aus blauen, tiefen Höhlungen hervorschauten und nach den Blitzen, die sie schleuderten, in leidensvoller Milde zu erschlaffen schienen, bis eine neue Spannung sie wieder aufflammen ließ. –

Als der Eintretende die Insassen des Zimmers gewahrte, ging ein Schatten nervösen Mißmuts über sein Gesicht, um sofort wieder zu verschwinden. Der Ton, in welchem er das Ehepaar begrüßte, war von jener einfachen und gemessenen Freundlichkeit, die beherrscht, weil sie auf Eindruck verzichtet. Seine Stimme hatte keinen angenehmen Klang. Sie war scharf und gequetscht, und so rasch er auch sprach, jedes seiner Worte schien sich mühsam aus der schmalen Brust emporzuringen.

Frau Malwine strahlte.

Sie war nicht mehr die Gracchenmutter, die sie soeben ihrem Gatten gezeigt hatte ... Sie erschöpfte sich in Liebesbeteuerungen für Frau Felicitas und fügte den zärtlichen Vorwurf hinzu, sie seit undenklich langer Zeit nicht mehr gesehen zu haben. Zweimal schon, als sie sie erwartet hätte, wären extra für sie die Schaumwaffeln gebacken worden, die, wie man ja wüßte, den Stolz ihres bescheiden häuslichen Sinnes bildeten, aber Frau Felicitas wäre nicht gekommen.

Ulrich Kletzingk ließ diesen Liebesschwall ruhig über sich ergehen, nur das nervöse Spiel, das er mit den Knöpfen seiner Fahrhandschuhe trieb, zeigte, daß er sich nicht behaglich fühlte.

»Sie beschämen uns, Gnädigste,« erwiderte er. »Ihre Freundschaft hat sich zu sehr zu verbergen gewußt, denn Sie sind seit Monaten auch nicht mehr auf Uhlenfelde gewesen.«

Frau Malwine, die sich ein wenig verlegen fühlte, da sie den letzten Besuch schuldig geblieben war, trieb die naive Charakterlosigkeit so weit, um zu erklären, sie sei ja durch ihre Söhne würdig vertreten gewesen.

Kletzingk lächelte höflich.

»Uebrigens,« fuhr sie lebhaft fort, »hab' ich Ihnen noch meinen innigsten Dank zu sagen, lieber Baron, für den günstigen Einfluß, den Ihr Haus auf meine zwei jungen Dachse ausgeübt hat. Ich fürchte nur, ich habe Ihre Gastfreundschaft ein wenig gemißbraucht, indem ich sie fast täglich zu Ihnen herüberschickte. Sie haben doch hoffentlich meine Grüße immer bestellt?«

»Ich glaube wohl – gewiß – gewiß …« Er starrte zum Fenster hinaus. Augenscheinlich wünschte er nichts sehnlicher, als dieses müßigen Geschwätzes überhoben zu sein. –

Nun nahm Herr von Stolt das Wort, der sich bisher begnügt hatte, mit cynischem Vergnügen an seiner Frau in einen Winkel hineinzulächeln ... Er erkundigte sich nach dem Stande der Ernte auf Uhlenfelde und gab seine eigene Lage zum besten. Die Winterung wäre gut hereingekommen, nur der Weizen hatte seinen Schuß weg. – Fürs übrige würde der liebe Herrgott sorgen.

»Ja, sagen Sie mal, Kletzingk,« lenkte er ab, »was ist denn eigentlich auf Halewitz los? Dort steht der Roggen quittengelb und wird nicht gehauen. Ich habe meinen Augen nicht trauen wollen, als ich heute vorbeiritt.«

Der Baron Kletzingk biß die Zähne zusammen. Er neigte den Kopf und starrte schweigend vor sich nieder.

»Das soll natürlich kein Vorwurf für Sie sein,« beeilte sich Stolt hinzuzufügen. »Ich weiß ja, daß Sie gegen diese Schweinewirtschaft – Pardon, Malwine – nicht aufkommen können, aber unser Freund bummelt nun schon vier Jahre – ich meine, es wäre Zeit, daß er heimkäme.«

»Ich erwarte ihn soeben,« erwiderte der Baron Kletzingk.

Die Wirkung dieser Worte war eine ungeheure.

Herrn von Stolt blieb ein Schrei der Ueberraschung in der Kehle sitzen, und seine Gattin fuhr in die Höhe, wie von einer Feder emporgeschnellt.

»Leo Sellenthin? Nicht möglich! Jetzt – mit diesem Zuge?«

»Jawohl.«

»Und von wo kommt er?«

»Das weiß ich nicht, gnädige Frau. Mein letzter Brief ging nach den La Platastaaten.«

»Und das sagen Sie alles, als wär' es die einfachste Sache von der Welt! Freuen Sie sich denn gar nicht ein bißchen?«

»Wie sollt' ich mich nicht freuen, gnädige Frau!« entgegnete Kletzingk, »mit ihm war mir ja damals mein halbes Leben verloren gegangen.«

»So! Also doch! Und sagen Sie mir das eine, – Leo und Sie – diese intime Freundschaft besteht also immer noch?«

»Immer noch, gnädige Frau – und ich hoffe, sie wird auch bestehn bleiben, der Welt zum Trotz, wenn's darauf ankommt.«

Seine Blicke ruhten ernst auf ihrem Gesicht, während sie rasch und mit großem Interesse einen Teller mit Fliegenpapier ins Auge faßte.

Die beiden Kürassiere stürmten zur Thür herein und meldeten, daß der Zug zu sehen wäre.

Als sie den Baron Kletzingk gewahrten, wurden sie verlegen. Sie warteten scheu auf seine Hand und drückten sie dann mit beunruhigender Herzlichkeit.

Kletzingk war weit davon entfernt, ihr Gebaren zu beachten. Gerade daß er es noch über sich gewann, den alten Herrschaften in aller Höflichkeit ein Lebewohl zu sagen.

»Ich hoffe, Sellenthin wird uns guten Tag wünschen,« rief Frau von Stolt ihm nach.

Aber er hörte sie nicht mehr. Mit seinen langen Storchschritten eilte er auf den Perron hinaus. Seine Brust arbeitete, und auf den breitgewölbten Schläfen standen in blauen Knoten die Adern. Die Faust gegen die linke Seite gepreßt, stand er da und starrte grellen Auges dem heranbrausenden Zuge entgegen.

»Uli!« rief eine eherne Stimme in dröhnendem Jubel über den Perron hinweg. Aus einem Coupéfenster drängte sich ein strohblonder Schädel mit kupferbraunen Backen darunter, mit lustig blitzenden Augen und langwallenden Bartenden, die der Zugwind wie einen leuchtenden Besen zur Seite trieb.

Frau von Stolt kniff ihren Gatten in den Arm.

»Hübscher ist er nicht geworden,« sagte sie leise.

»Bißchen verwildert,« erklärte er.

Vier Augengläser richteten sich in gespannter Aufmerksamkeit auf die Gruppe der Freunde, die einander schweigend in den Armen lagen.

»Es war doch klug von ihm, daß er über dem allen hat Gras wachsen lassen,« bemerkte Frau Malwine weiter.

Aber Herr von Stolt als wohlwollender Skeptiker hatte seine Bedenken. Er ließ das Monocle aus dem Auge fallen, machte ein flaues Gesicht und meckerte leise vor sich hin:

»Ae, ä, schlimme Geschichte – schlimme Geschichte.«

Dann eilte er freudestrahlend, dem heimkehrenden Nachbar die Hand zu drücken.


 << zurück weiter >>