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XXXIV.

Es war am ersten Sonntage des neuen Jahres um die siebente Abendstunde, als Ulrich, vom frischen Grabe seines Stiefsohnes kommend, auf dem Bahnhof zu Münsterberg eintraf.

Nach langem Ueberlegen hatte er beschlossen, die Leiche fürs erste am Orte des Todes zu bestatten, um später, wenn der Zustand seiner Frau neuen Aufregungen gewachsen sein würde, eine Ueberführung nach dem Rhadenschen Erbbegräbnisse in Fichtkampen vornehmen zu lassen.

Felicitas hatte die Farben nicht geschont, ihm das, was sie durchgemacht, ihren Selbstmordversuch, ihre Krankheit und Verzweiflung, so düster als möglich auszumalen. Sie hatte zu viel zu vertuschen und umzudrapieren, als daß sie dem Schmerze, den sie fühlte, einfachen und aufrichtigen Ausdruck hätte geben können. Nicht umsonst nannte sie sich Mörderin, ihr lag nun auch die Aufgabe ob, den Mord zu verhehlen und ihrer Schuld – soweit dieselbe sich nicht verleugnen ließ – vor der Welt, vor Ulrich und nicht zum mindesten vor sich selbst ein romantisches Mäntelchen umzuhängen.

Eines vor allem war ihr dabei nicht eingefallen: ihren Gatten zu schonen. In ihren Briefen, die sie mit fiebernder Hand vom Bette aus an ihn richtete, erging sie sich in endlosen Klagen über das Thema: »Warum haben wir ihn in die Fremde gehen lassen?« und grub dadurch den Widerhaken des Selbstvorwurfs tiefer und tiefer in seine gequälte Seele.

Indem sie mit dem Instinkt der Selbsterhaltung die Verantwortlichkeit für das Geschehene zum Teil auf seine Schultern hinüberzuwälzen suchte und ihn – wie auf der andern Seite Leo – zu ihrem Mitschuldigen stempelte, reizte sie sein nie ruhendes Pflichtbewußtsein zu krankhafter Empfindlichkeit, so daß er schließlich sich selbst, und sich vor allem, für den Urheber all des Schrecklichen hielt.

»Sie ist ein Kind,« so sagte er sich, »sie folgt Launen und Einfällen des Augenblicks. Ich hätte das wissen müssen, hätte ihr nicht nachgeben dürfen, selbst wenn ihr eigen Fleisch und Blut es war, über dessen Schicksal sie bestimmte.«

Und dann das Schlimmste von allem: für ihn, und nur für ihn war es geschehen! Damit er dem, der den Tod des Vaters auf dem Gewissen hatte, die Freundestreue bewahren konnte, war das Kind in Verbannung und Tod gejagt worden, ein Opfer, grausam, widernatürlich, das sich rächen mußte, früh oder spät – und das noch dazu, wie die Dinge sich gestalteten, umsonst gewesen war.

Denn es ließ sich nicht mehr leugnen: sein Freund, sein Jugendgenosse, sein Liebling, er, für den er gesorgt und gehofft hatte, solang er denken konnte, er, der sein Stolz, seine Zuversicht, seine Gesundheit, seine Kraft gewesen war, er, in dem sich alles verkörperte, was ihm selbst das Schicksal versagt hatte, – er löste sich von ihm.

Schon jetzt verstand er ihn nicht mehr. – Die Gesetze seines Fühlens waren ihm fremd geworden, und was früher wie ein Vollaccord der lachenden Mutter Natur durch die Welt gebraust war, erschien ihm jetzt in einen Wirrwarr schreiender Mißklänge auseinandergefallen.

Ob er selbst sich so verändert hatte, ob jener, er wußte es nicht: nur eines war ihm klar, daß jede Aeußerung von Leos Wesen ihn befremdete und ihm wehe that.

Niemand wußte so gut, wie der Freund, wie nahe das Stiefkind seinem Herzen gestanden hatte, aber der Brief, den er am Tage des Begräbnisses von ihm erhalten hatte, war steif und befangen gewesen, als hätte ein Fremder seine Kondolenzphrasen mühsam zusammengedrechselt. Das war traurige Heimkunft!

Niemand empfing ihn. Nur der Bahnhofsvorsteher, der ihn im Laternenschein erkannte, trat an sein Coupé und brachte ihm beim Aussteigen sein respektvolles Beileid dar.

Der alte Wilhelm, der den Kutscherbock nicht hatte verlassen dürfen, verschluckte bei seinem Nahen ein paar Thränen, und als er die Hand auf seine Achsel legte und leise zu ihm sagte: »Na, Wilhelm, unsern Jungen, den sehen wir nun nicht mehr,« da entglitt ihm fast die Leine aus der wetterfesten Faust.

Allerhand Kisten und Kasten, die Paulchens Nachlaß enthielten, hatte Ulrich mit sich gebracht. – Die wurden auf dem hinteren Trittbrett des Schlittens festgeschnallt, so daß sie sich zum Berge stauten. – Auch die beiden Weihnachtspakete waren dabei, nach denen der kleine Bursch am heiligen Abend sehnsüchtig auf die Suche gegangen war, und die am ersten Feiertage der Postbote fröhlich abgeliefert hatte.

Der Schlitten fuhr in die mondlose Dunkelheit hinaus. – Auf den Ebenen lag das ruhige Schneelicht, das sich in falbem Dämmer verlor … Die Pappelstämme der Chaussee quollen in endloser Wiederkehr – ein Paar wie das andre – aus dem Grau der Nacht hervor. Ulrich war zu Mute, als müßte hinter jedem Baum der Knabe stehen und ihm zurufen: »Nimm mich mit … Ich bange mich … Ich will nach Hause.«

Dann kam die lange Brücke, die über die Niederung der Maraune führte, und die zu allen Zeiten Paulchens Entzücken gewesen war. Hundertfünfzig Schritte war sie lang und hatte eine Balustrade mit schwarzweißen Pfeilern, auf die er immer hatte klettern wollen, wenn er erst groß geworden war … Unter der Brücke, wo man zu Zeiten der Trockenheit herumspazieren konnte, gab es ein Echo, und wenn ein Wagen oben vorüberfuhr, klang es, als ob der Donner rollte.

Und ein Ende weiter kam das größte Wunder des Weges: die Windmühle, die auf dem Dache stand. Man denke sich: eine Windmühle hoch oben auf dem Dache. – Traurig starrten ihre verschneiten Flügel in die Luft – wie ein Riesengespenst hob sie sich zum grauen Nachthimmel empor, die Arme weithin ausgestreckt.

Und weiter ging die Fahrt. Das Gebiet von Uhlenfelde nahte. Hier gab es keinen Fußbreit Landes, der nicht durch irgend eine Erinnerung an den Toten geheiligt war.

Wie öde und düster lagen die Felder da! Es war, als ob nie mehr ein Tag herandämmern würde, sie in Sonnenlicht zu baden, und als ob der letzte ewige Winter für die Welt gekommen wäre.

Ein Grauen wandelte ihn an vor dem, was seiner wartete, vor seinem Tagewerk und mehr noch vor seiner Muße.

Dann fiel Felicitas ihm ein, und er schämte sich seiner. Auf ihn harrte ein Weib daheim, das der Verzweiflung nahe war, und das er mit vorsichtiger Arbeit und zärtlicher Geduld langsam sich selbst und dem Leben zurückzugeben hatte.

Eine Flut mitleidiger Liebe quoll aus seiner Seele ihr entgegen. Ihm war zu Mute, als wäre sie und Leo und die ganze Welt ein großes Vermächtnis, das der arme kleine Bursch ihm hinterlassen hatte.

Auch mit Leo mußte sich alles wieder zum Guten wenden. Er würde zu ihm gehen und zu ihm sagen, Aug' in Auge, Hand in Hand: »Mensch – nun rede – angesichts des Todes, der noch über uns schwebt, rede: Was hast du – was steht zwischen dir und mir?«

Der Schlitten fuhr durchs Hofthor. Längs des Fahrweges standen in schwarzen Gruppen die Leute und zogen schweigend ihre Mützen, Kein einziger war zu Biere gegangen, oder daheim geblieben bei Weib und Kind, die spärlichen Stunden der sonntäglichen Ruhe auszukosten. Alle wollten sie ihm zeigen, daß sie in seinem Leide zu ihm standen.

Der Schlitten hielt. Sein Herz schlug höher. – Er fürchtete, daß sie ihm entgegenkommen würde. Aber sie kam nicht.

In ihrem Eckzimmer wartete sie auf ihn, neben dem Schreibtisch stehend.

Das Trauerkleid machte sie größer. Fast majestätisch erschien sie ihm. Oder war es ihr Schmerz, der sie in seinen Augen mit Majestät umkleidete? Doch, was aus dem lang gewordenen Gesichte mit großen, grellen Augen ihm entgegenstarrte, das war nicht Schmerz, – Angst und Entsetzen schien's – vor einem, dem man sich wehrlos überantwortet sieht.

»Lizzie,« stammelte er, die Arme ausstreckend.

Da schloß sie die Lider und lehnte sich wankend gegen die Wand.

Er nahm sie in seine Arme, führte sie zu einem Sessel und sprach leise und tröstlich auf sie ein. Alles, was sein übervolles Herz an Liebe für sie hatte, preßte er in seine Worte. Er sprach von innigerem Zusammenschließen, von Aufgehen ineinander, von der Weihe und Heiligung, die der Tod des unschuldigen Kindes ihrem Leben fortan geben würde. Grenzenloses Vertrauen, innigste Hingebung, zarteste Rücksicht, all das versprach er ihr für die Zukunft, was er ihr seit Jahren bereits, mehr als gut war, gegeben, und was sie lächelnd hingenommen hatte, ohne des Gebers zu achten.

Als sie merkte, daß er nicht willens war, sie zur Verantwortung zu ziehen, da löste sich ihre angstvolle Starrheit. – Sie glitt auf den Teppich nieder, und den Kopf auf seine Kniee legend, schluchzte sie jämmerlich.

Er sprach weiter, wie man zu einer Kranken spricht.

Sie rang die Hände und schlug sich mit den Daumenballen gegen die Stirn.

Für ein paar Augenblicke kam der Mutterschmerz, der trotz allem brennend in ihr tobte, schrankenlos und ohne Hintergedanken zum Durchbruch, nur daß sie sich im Ausdruck vergriff und durch Uebertreibung fälschte, was wahr und gut und der Rettung fähig noch in ihr lebte.

Und allgemach beruhigte sie sich. Ihre Arme glitten herab. Eine Müdigkeit, die etwas Wohliges, Erlösendes an sich hatte, kam über sie.

Sie ließ sich von ihm emporziehen und lehnte sich in die Ecke der Chaiselongue.

Ein brennender Wunsch, bedauert, bewehklagt zu werden, wie Kinder ihn haben, wenn sie über Rutenstreiche weinen, erfaßte sie.

»Ach, Ulrich,« stammelte sie, »was hab' ich alles gelitten!«

Er stutzte. Ein Gefühl unruhiger Enttäuschung flackerte in ihm auf und dämpfte die schmerzvolle Steigerung seines Wesens.

Mitleid mit sich selbst – das ziemte sich nicht für diese Stunde, das hätte das erste Wort, welches von ihren Lippen kam, nicht zu Tage fördern dürfen.

Er sagte nichts – aber er sah mit großen Augen um sich herum, wie einer, der etwas Unerwartetes an sich erfährt.

Das Abendessen wurde gemeldet. Die Beamten, die sonst mit bei Tische saßen, hatten aus zarter Rücksicht um Urlaub gebeten. Die Gatten blieben allein.

Die Theemaschine dampfte. Aus der bronzenen Hängelampe ergoß sich ein mildes Leuchten über den weißen Damast und das mattschimmernde Silbergerät.

In emsiger Dienstfertigkeit war Felicitas um ihn beschäftigt. Sie hatte den Drang, es ihm behaglich zu machen, und durch das Kleingeld liebevoller Sorgfalt die schwere Schuld der Stunde zu bezahlen.

Sie legte ihm die Sardinen vor, wie er sie liebte, sie schnitt ihm das dünnste Butterbrot und goß in den Thee die drei Theelöffel mit Rum, die er als Erfrischung nicht gern entbehren mochte. Auch ein Kissen legte sie ihm in den Rücken und ließ den Schirm der Lampe tiefer herab, damit seine »armen, müden Augen« nicht geblendet würden.

Mit peinlichem Staunen sah er ihrem Treiben zu. Er wollte seinen Hunger befriedigen, schweigend wie ein Tier, und nicht daran erinnert sein, daß es Leibgerichte und Leckerbissen auf der Erde gab.

»Wie kann sie Sinn haben für das alles?« fragte er sich, »da sie sich noch eben in Jammer auf der Erde wand?«

Ein feiner Instinkt in ihr, der seine Verstimmung witterte, machte sie noch unsicherer. Und in dem Verlangen, ihre sühnenden Leiden im hellsten Lichte strahlen zu lassen, fing sie aufs neue von sich zu reden an.

»Nein, Ulrich,« sagte sie, »du kannst dir nicht vorstellen, was für Qualen es mir bereitet hat, dich allein dort zu wissen – an seinem Sarge, … dir nicht helfen zu können – nicht um dich sein zu können … aber es ging nicht. Ich durfte nicht reisen … der Doktor hatte es mir streng verboten … ich war ja auch schwer leidend … Viel fehlte nicht, so hättest du auch mich nicht mehr gefunden.«

Sie hielt inne, denn sie erwartete, daß er sie nach dem Selbstmordversuche fragen würde, und als er schwieg, suchte sie selber das Gespräch darauf zu bringen.

»Bist du mir noch böse, Liebster?« fragte sie.

»Weshalb sollt' ich dir böse sein?«

»Weil ich so sündhaft gehandelt habe … Weil ich im ersten Schrecken an Gott und seiner Barmherzigkeit irre geworden bin, so daß ich geglaubt hab', nicht weiter leben zu dürfen … Ach, Ulrich, wenn du wüßtest, wie es damals in mir ausgesehen hat, du würdest mir gewiß verzeihen …«

»Ich habe dir nichts zu verzeihen, Felicitas.«

»Und das sagst du so finster, Ulrich! Ich weiß ja, ich habe gefrevelt. Ich weiß ja, man soll ausharren auch im tiefsten Elend. Aber ich war so allein – so verlassen. Du nicht bei mir – niemand bei mir. Zuerst dacht' ich daran, mich in den Strom zu stürzen. Dann wär's am schnellsten zu Ende gewesen … aber der Strom war ja mit Eis bedeckt … Dann dacht' ich, ich könnte mich totfrieren lassen und bin umhergeirrt auf den Feldern – die halbe Nacht lang. Aber der Tod kam nicht … Und dann bin ich heimgekehrt und griff zum Gift … Ich sah gar nichts, weißt du … Ich griff bloß so hinein in die Flaschen … Und trank – und trank … Es war, wie wenn mir brennendes Feuer in den Schlund hinabfloß … und vor meinen Augen sah ich lauter Sonnen … und dann bin ich umgefallen … Und weiter weiß ich nichts mehr … Siehst du, Uli, so schlimm erging es deiner armen Frau.«

In dem Verlangen, eine Tröstung zu erhaschen, fing sie von neuem zu weinen an. Aber diese Tröstung blieb aus.

»Ach, mir wäre besser gewesen,« klagte sie weiter, »ich wäre nie wieder erwacht. Wozu ist doch das ganze menschliche Leben? Nichts wie Kummer und Not und Mißverstandensein … Wie fühlt man sich doch immer allein mit seinem vollen Herzen! Ach, Uli, auch für dich wäre es besser gewesen! Würdest du ein bißchen um mich getrauert haben, Uli?«

Er antwortete nichts. Er sah sie an und immer wieder an. Wie ein eisiger Strom ging es von ihr aus und ergoß sich über ihn. Er wartete auf einen Aufschrei des wunden Mutterherzens. Statt dessen redete sie von sich und nur von sich.

Er sah sie in ihrem blonden Liebreiz sich auf dem Stuhle hin und her wiegen. In seiner schlanken Ueppigkeit straffte sich der Busen unter dem knappen Trauerkleide. Wie ein Heiligenschein flimmerte das Wirrhaar rings um ihre mattweiße Stirn. Die feinen, rosigen Ohren glühten, und das schmale, sanfte Leidensgesicht, das ihm noch neu an ihr war, lächelte wehmütig und gekränkt, als könnte es mit diesem Lächeln Tod und Verderben aus dem Leben hinausschaffen.

Ihn packte ein leiser Widerwille, dessen er sich im nächsten Augenblicke schämte. Er wußte ja, man mußte Geduld mit ihr haben. Wie war plötzlich diese Bitterkeit in sein Wesen gekommen?

Und mahnend, mehr als tadelnd, sagte er:

»Und nach dem Kinde fragst du nicht, Felicitas?«

In entsetzter Abwehr streckte sie die Hände gegen ihn aus. »Heute nicht, Liebster,« flehte sie, »nur heute noch nicht! … Es würde uns zu sehr erregen, dich wie mich … Ich hab' mir alles ausgemalt tausendmal – ach, tausendmal! … Die Bilder all des Schrecklichen umschweben mich, wo ich geh' und stehe … Und ich bin müde, ach – so – müde! – Ich sehne mich nach dem Schlafe … Einmal recht, recht schlafen – und am liebsten gar nicht mehr aufwachen. Das wäre schön! Ach ja, das wäre schön.«

Die Augen schließend, legte sie sich über die Lehne des Stuhles zurück, so daß der Hals in seiner rosigen Fülle weit aus der schwarzen Krause hervorquoll.

Er mußte einen neuen Anfall des Widerwillens niederkämpfen. Mit der ruhigen Pedanterie, die seinem Wesen eigen war, hielt er an seinem Vorsatz fest, ihr von den letzten Tagen Paulchens zu erzählen.

»Wir dürfen uns nicht feige vor unsern Empfindungen verkriechen, Lizzie,« sagte er: »du hast viel gelitten, ich glaub' es dir gerne, auch ohne daß du es mir sagst. Aber es wäre vergeblich, wenn du dich schonen wolltest. Unsre Gedanken kehren ja doch immer wieder zu ihm zurück. Und erst, wenn du alles durchgekostet hast, kannst du hoffen, zur Ruhe zu kommen.«

Erschauernd kroch sie in sich zusammen. »Nun denn, sprich,« sagte sie, sich in ihr Schicksal ergebend, »erzähl, was du willst.«

Als er das Grauen gewahrte, mit dem sie dem Kommenden entgegensah, wurde ihm zu Mute, als könnte er niemals über die Lippen bringen, was an Erinnerungen heilig und schmerzvoll in ihm lebte. Er hatte geglaubt, sie würde ihm in neidvoller Gier die Worte vom Munde trinken, sie würde ihn ausforschen nach jeder Minute, die er am Bette des Sterbenden hatte weilen dürfen, bis jedes Bild ihr eigener Besitz geworden war: statt dessen zog sie sich in wohlfeiler Nervenangst vor drohenden Erregungen zurück.

Unmütterlich, unmenschlich fast, erschien ihm, was er an ihr erlebte.

Sein Herz krampfte sich zusammen. Ihm war plötzlich, als würde das traurig stille Sterben des Kindes entweiht dadurch, daß er der Mutter davon erzählte. Er, dem kein fleischliches Anrecht gegeben war, fühlte sich ihm zugehörig im Leben wie im Tode: – das Weib dort, aus dessen Schoß es entsprungen, das angstvoll lächelnde Weib, das nur an sein eigenes Leiden dachte, und nur sich bedauert wissen wollte, hatte sich selber zur Fremden gestempelt.

Fremd war sie dem Kinde geworden, und fremd ihm selbst.

Erschreckend sah er die Kluft, die zwischen ihm und ihr sich aufgethan hatte, und die kein Schmeicheln, kein verführerischer Reiz mehr überbrücken konnte.

»Ich sehe ein, daß du recht hast, Felicitas,« sagte er, »wir wollen's lassen. Es würde uns zu sehr erregen.«

»Ja, du bist gut,« flüsterte sie dankbar. »Du hast ein Herz für deine arme, müde Frau.«

Und wie sie wohl auch sonst gethan, wenn sie ihn durch eine billige Zärtlichkeit bezaubern wollte, reckte sie sich weit zu ihm herüber und bettete, mit ekstatisch emporgeschlagenen Augen, ihren Kopf in seinem Arm.

Er ließ es geschehen und blickte in kaltem Erstaunen auf das Antlitz nieder, das in seiner milchigen Blässe mit fast koketter Wehmut zu ihm auflächelte.

Ihm war, als durchschaute er mit einem Schlage die tausend Mätzchen, mit denen sie ihn jahrelang an sich gefesselt, die halben Lockungen, mit denen sie trübe Wünsche in ihm genährt, ohne sie zu befriedigen, die nachlässigen Launen, mit denen sie seinen Willen gefälscht und seinen Intellekt erniedrigt hatte, das ganze Netzwerk, gewoben aus lächelnder Selbstsucht, zielsicherem Liebreiz und gemachter Kindlichkeit, mit dem sie ihn so lange als einen scheuen Anbeter hinter sich hergezogen hatte.

Er konnte freilich nicht ahnen, daß alles, was sie in dieser Stunde that und sagte, nichts war als eine geheime Bitte um Entschuldigung, aber gerade der Drang, begangene Fehler zu vertuschen, hatte ihm die wahren Linien ihres Wesens bloßgelegt. Er sah das Hohle, das Eitle, das Verlogene in ihr, wenn er auch nicht ergründen konnte, warum sie sich spreizte und log.

Wohl noch eine Stunde saßen sie beisammen.

Der Tisch wurde abgeräumt, nur der Heißwasserkessel brodelte weiter. Die altdeutsche Uhr im Winkel schlug ruhig ihren dumpfen Pendelschlag. Von Zeit zu Zeit schwirrten Schneewölkchen gegen die leise klingenden Fenster. Ein tiefer, träumerischer Friede schien sich auf das Gemach herabzusenken, ein Friede, recht dazu angethan, wunde Herzen aneinander gefunden zu lassen.

Felicitas, ahnungslos und doch voll innerer Besorgnis, fuhr fort, sich reizvoll und gefällig zu zeigen. Sie sprach von der teilnahmsvollen Freundschaft, die ihr die Nachbarschaft erwiesen hatte, den unzähligen Beileidsbriefen, die sie empfangen, und den ebenso unzähligen Visiten, die sie abgewiesen hatte. Sie schmiedete Pläne für die Zukunft und versprach Wunderdinge, wie sie ihn trösten und zerstreuen wollte.

Ernst, in aufmerksamer Prüfung hörte er ihr zu, und jedes Wort, das er vernahm, ward ihm eine Probe für sein Exempel.

Mit großen Augen schaute er um sich, – sah Schatten und Lichter auf den Wänden zerfließen, – sah das alte, liebe Hausgerät, in dessen Mitte er aufgewachsen war und das er seinem Stiefkinde hatte hinterlassen wollen, sobald es vor dem Gesetz sein eigenes geworden war – er lauschte dem Ticktack der Uhr und all den heimlichen Lauten, die zur stillen Abendzeit vertraute Stätten beleben.

Doch alles erschien ihm anders, erschien ihm fremd, widersinnig und fast beängstigend.

In ihm schrie es: »Fort! Fort aus diesem Hause, das nicht mehr dein eigenes ist! …«

Als der Wächter draußen die zehnte Stunde pfiff, erhob er sich … Es war genug der Quälerei.

Sie bot ihm mit müdem Anschmiegen des Kopfes die Stirn zum Kusse dar. Er bückte sich tief herab und küßte ihr die Hand.

»Bist du mir auch wirklich nicht böse?« flüsterte sie, von neuer Gewissensangst gepackt.

Er verneinte lächelnd. Ein weher Hohn saß in seiner Seele und machte ihn stark und kalt.

Er ging – und als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, rief sie mit ausgebreiteten Armen: »Gott sei Dank!«

*

Am nächsten Morgen erklärte Ulrich seiner Frau, daß er dringender Geschäfte wegen sofort nach Königsberg reisen müsse, wo das Komitee für die Landwirtschaftliche Ausstellung mit seinen Sitzungen auf ihn warte. Ob er vor Wiedereröffnung des Reichstags nach Uhlenfelde zurückkehren könne, sei noch ungewiß.

Felicitas erschrak ein wenig, doch fügte sie sich gern.

Der Abschied der Gatten war voll ruhiger Freundlichkeit. So sehr empfand Felicitas die Trennung als Erlösung, daß sie jedes Komödienspiel vergaß.

Als der Schlitten die Dammhöhe erreicht hatte, ließ Ulrich halten und schaute lange nach Halewitz hinüber, das mit seinen verschneiten Scheunen und dem alten, grauen Schloß heimatlich herüberwinkte.

Wie sehr auch sein Herz nach dem Freunde schrie, er fürchtete sich, ihm zu begegnen.

Er fürchtete, daß auch das Letzte, was er auf Erden – vielleicht noch! – besaß, ihm unter den Händen zerrinnen würde.


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