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XIX.

Auf der Hinterseite des Halewitzer Parkes, in die Umzäunung eingelassen, stand einsam ein graues, einstöckiges Gebäude, dessen fünf Fenster ein paar rankenartige Rokokoschnörkel in gesuchter Heiterkeit umgaben.

Die Front wies auf einen Feldweg hinaus, während die Giebel samt der Rückwand in dem falben Grün des Parkes vergraben lagen.

Von dem Treiben des Gutshofes drang kein Laut hierher, nur von Zeit zu Zeit schleifte eine Pflugschar oder rollte ein Erntewagen, auf dem Heimweg begriffen, vorüber; durch das Blätterdickicht klang zuweilen das melodielose Jauchzen einer halbkindlichen Mädchenstimme, das freudige Aufbellen eines tobenden Hundes, das zu jener Stimme den Widerhall bildete.

In der Morgenfrühe sammelte sich vor dem Gitter eine armselig, doch sauber gekleidete Kinderschar, barfüßig und barhäuptig, im Alter von drei bis sieben Jahren – die kleinsten an der Hand der älteren, etliche auch von ihren Müttern geleitet, elenden, frühverblühten Wesen, durch die zwiefache Last der Arbeit und des Gebärens zu Boden gedrückt.

Um sieben Uhr öffnete sich das Gitterthor. Die kleine Schar strömte in das Parkbereich, kletterte die Treppenstufen hinan und verschwand im Innern. Alsbald hörte man dann vom Wege auf das Krähen der singenden Kinderstimmen, die von einem vollen, etwas brüchigen Frauenalt geführt wurden.

Wenn jenseits des Parkes die Mittagsglocke läutete, wurde das Thor aufs neue geöffnet und die Schar trollte sich von dannen, dem Dorfe zu. –

Dann wurde es still rings um das einsame Haus, nur eine blutjunge Dienstmagd lief bisweilen zwischen Kellerthür und Treppe hin und her.

Erst nach der Vesperstunde näherten durch den Park sich Schritte, leicht beschwingt und doch energisch das Unterholz durchbrechend, um die Windungen des Pfades abzuschneiden.

Hertha kam, um ihrer Stiefmutter den täglichen Besuch abzustatten.

Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter war nie ein innerliches gewesen. – Die zunehmende Verdüsterung in Johannas Gemüt, ihr Sibyllentum, die Atmosphäre, mit der sie sich umgab, weihräucherig und krankenstubenhaft, – alles das hatte dem licht- und luftbedürftigen Herzen des Kindes unmöglich gemacht, sich der Stiefmutter zu nähern. Doch in ihrem Innern lebte eine schwärmerische Dankbarkeit für die Wohlthäterin, die ihr, der Heimatlosen, mit diesem Hause eine Welt voll Liebe zu eigen gegeben hatte. –

Als die Gräfin Prachwitz nach der Auseinandersetzung mit ihrem Bruder in das Witwenhaus übergesiedelt war, hatte Hertha es für ihre Pflicht gehalten, sie zu begleiten. – Aber ihre Stiefmutter selbst hatte sich diesem Vorhaben widersetzt, da sie mit ihrem Gotte allein zu sein wünschte.

Seitdem war es zur Regel geworden, daß Hertha eine Stunde täglich bei ihr zubrachte. Diese Stunde hatte sie sich ausgemacht, um nach ihrer Art für das Seelenheil des wilden Kindes Sorge zu tragen.

Hertha las aus dickleibigen Büchern düstere Bußgebete vor, in welche von Zeit zu Zeit ein inbrünstiges Gesangbuchlied hineinflammte, wie eine Feuersbrunst in einen grauen Regentag.

Inmitten einer solchen Erbauungsstunde war's. –

Mutter und Tochter saßen einander gegenüber an dem geöffneten Fenster, dessen Jalousien herabgelassen waren, so daß von dem draußen flutenden Sonnenlicht nur eine grünliche Dämmerung übrig blieb.

Hertha sagte mit eintöniger Stimme, welche eine überlange Schwimmtour am vorigen Tage ein wenig verschnupft hatte, die guten, alten Formeln her, in denen das höchste Bedürfnis des Menschen seit Jahrhunderten sein tägliches Brot findet.

In der glückseligen Gedankenlosigkeit ihrer sechzehn Jahre ließ sie sie ruhig über sich ergehen. – Mit dem Gotte, zu welchem sie alle Abende sehnsuchtsvoll für ihre Liebe betete, der tröstend aus dem Säuseln der Blätter, trotzig aus dem Rauschen des Sturmes, lachend aus dem Strahlen der Morgensonne zu ihr sprach, hatten sie nichts zu thun.

Mitten im Lesen klopfte es: – klopfte mit leisen, furchtsamen Schlägen,– erst einmal, dann nach einer kleinen Weile, als ob man Kraft zu sammeln nötig hätte, ein andres Mal.

Die Gräfin fühlte sich durch die Störung, die jedermann um diese Stunde strenge verboten war, aufs peinlichste berührt.

»Geh sehn, wer es ist, und schick ihn fort,« sagte sie.

Hertha öffnete die Thür ein wenig und fand sich gegenüber der Lichtgestalt einer schönen jungen Frau, die totenblaß, mit großen, hilfeflehenden Augen ihr entgegenschaute.

Mühsam sammelte sie ihre Fassung so weit, um stotternd nach ihren Wünschen zu fragen.

Doch kaum hatten die bebenden Lippen der Fremden den Namen ihrer Mutter genannt, da ertönte hinter ihr ein Schrei: – die Gräfin hatte ihr die Klinke der Thür aus der Hand gerissen und fragte mit einer heiseren Stimme:

»Felicitas – du?«

Stumm bedeckte die fremde Frau mit beiden Händen das süße, bleiche Gesicht.

Und gleich darauf fühlte Hertha sich heftig hinausgeschoben – der Schlüssel drehte sich zweimal im Schlosse – die Fremde war drinnen bei der Mutter – sie befand sich allein in dem dämmerigen Hausflur. –

Und dann rannte sie, von einem geheimnisvollen Entsetzen gepackt, die knirschende Treppe hinunter, durch Sträuche und Büsche, über Pfad und Rasen, an Gartenhaus und Teich vorbei, zu denen, deren fröhliches Lachen von der Terrasse her erlösend auf sie niedertönte.

*

Die beiden Jugendfreundinnen standen sich gegenüber.

Die eine, die demütig als eine Flehende sich an die Thür drückte, wie wenn sie nicht wagte, einen Fuß vor den andern zu setzen, vollkommen in sich zusammengesunken vor Zerknirschung und Reue, und dennoch voll von sieghaftem Liebreiz, leuchtend schön in der straffen Jugendlichkeit ihrer Formen, in der reifen Ueppigkeit ihrer Bewegungen … die andre hochaufgerichtet, im Triumphgefühl des Sieges, erfüllt von der strengen Hoheit eines fleckenlosen Wandels, eine Herrscherin im Reiche selbstquälerischer Tugend, bewährt in Leiden und Wollen – aber zugleich verwelkt, verwüstet, mit den dürftigen Fältchen aufgedrungener Entsagung um die Mundwinkel, mit schlaffem Halse und abgezehrten Wangen, mit dem Glühen unerfüllter Wünsche im untergesunkenen Auge, – Siegerin und doch Besiegte.

Johanna war's, die zuerst das Schweigen brach. –

»Hast du dir überlegt, was dieser Schritt für dich zur Folge hat?« fragte sie.

Felicitas neigte das Haupt noch tiefer zur Erde.

Johanna hatte diese Bewegung nicht als Antwort gedeutet.

»Du scheinst kurz von Gedächtnis zu sein,« stieß sie höhnisch hervor.

»Ich habe alles überlegt … und denk' an alles,« hauchte Felicitas.

»So bist du vorbereitet, daß dein Mann am morgigen Tage über dich im klaren sein wird?« –

Nun erst sandte Felicitas einen Blick zu ihr empor, einen rührenden Blick, hoffnungslos und gefaßt zugleich.

»Warum morgen?« sagte sie leise wie vorhin. »Warum nicht gleich? … Er ist ja hier.«

Eine fliegende Röte breitete sich über Johannas Angesicht.

»Hier im Hause?« fragte sie hastig.

»Nein – drüben im Schloß.«

»Was bedeutet das? – Er kommt doch seit langem nicht mehr hierher?«

»Ich hab' ihn drum gebeten, Johanna.«

Die beiden Frauen ließen eine Weile die Blicke ineinander ruhen, die eine in prüfendem Argwohn, die andre voll seraphischer Ergebung.

Dann trat Johanna einen Schritt auf sie zu.

»Felicitas – du spielst ein gewagtes Spiel,« sagte sie.

»Ich will ein Ende machen, Johanna.«

»Und dazu hast du ihn mitgebracht?«

»Ich hab' es dir leicht machen wollen, Johanna.«

Wiederum herrschte Schweigen, dann sagte Johanna mit weggewandtem Auge:

»Warum stehst du an der Thür? Du kannst näher kommen.«

»Ich danke dir,« flüsterte Felicitas und schritt mit wankenden Knieen auf einen Sessel zu, dessen Lehne sie als Stütze umklammerte.

»Erst sprich!« sagte Johanna, »was hat dich hergeführt?«

»Die Not,« flüsterte Felicitas, »die Not meiner Seele.«

Johanna lachte auf.

»Wahrhaftig – deine alten Phrasen machst du noch immer! … Und was willst du von mir in der Not deiner Seele?«

»Ja, verachte mich nur,« sagte Felicitas, »du hast das Recht dazu. Aber glaub mir – ich bin nicht mehr dieselbe, die du einst von dir gestoßen hast … Damals war ich feige und schlecht … Heute komm' ich geläutert und mutig zurück … Und daß ich so vor dir stehe, Johanna« – ein schwärmerisches Leuchten flog über ihr Gesicht – »siehst du, das verdank' ich ihm – das hat er in den zwei Jahren unsrer Ehe aus mir gemacht.«

Johanna zuckte die Achseln. Sie erinnerte sich dessen, was über das Thun und Treiben der schönen Schloßfrau von Uhlenfelde in der Leute Munde war.

»Dein Ruhm ist nicht fein, Felicitas,« sagte sie. »Hat er das auch aus dir gemacht?«

»Was – Johanna?«

»Was die Welt von dir erzählt?«

»Da müßt' ich dich erst fragen, Johanna: Was erzählt die Welt von mir? … Aber ich bin zu stolz dazu … Ich bin auch zu stolz, mich zu verteidigen … Sieh, daß ich so sprechen kann, das hat er auch aus mir gemacht.«

Und sie breitete die Arme aus, während sie in Gedanken Leos Namen an die Stelle Ulrichs setzte.

Johanna wischte sich über die Stirn, wie um einen verwirrenden Eindruck loszuwerden. Es lag in der That etwas in dem Gebaren dieses Geschöpfes, was sie vordem an ihm nicht gekannt hatte und was ihr eine widerwillige Teilnahme abzwang. –

»Und nun endlich – was willst du von mir?« fragte sie, unsicher geworden.

Felicitas lächelte matt.

»Willst du nicht erlauben, daß ich mich setze … Der Weg hierher ist mir nicht leicht geworden!«

Und in der That, sie vermochte sich kaum mehr auf den Beinen zu halten.

Aber erst, nachdem sie die stumme Erlaubnis Johannas abgewartet hatte, ließ sie sich in den Sessel sinken, der ihr so lange zur Stütze gedient hatte. – Die Augen schließend, atmete sie tief.

Dann begann sie leise zu reden:

»Ich bin wie im Traum, Johanna … Ich wag' es noch gar nicht zu glauben, daß ich heute den Frieden wiederbekommen soll, nach dem ich seit Jahren ringe. – Denn glaub mir – ich hab' mich an dem, was mein eigen war, nicht eine Sekunde lang erfreuen können … Dein Bild hat immer zwischen uns gestanden … Es schien mir, als hätt' ich alles erschlichen –«

»Das hattest du auch –« fiel ihr Johanna hart ins Wort.

»Ja – und als hätt' ich einer Würdigeren den Platz fortgenommen … Sieh – so lange ich an seiner Seite lebe, so lange geh' ich auch schon mit dem Gedanken um, mein Schicksal in deine Hände zu legen. Was du auch über mich beschlossen hast, Johanna, es wird mir Erlösung sein … Aber eh' ich so weit gekommen bin, was hab' ich alles leiden müssen!«

Und wie erschauernd unter dem Hauch des Vergangenen kroch sie in sich zusammen.

Johanna hatte ihre Fassung wieder gewonnen. Sie kannte dieses Hinsterben des Blickes, diese verschleierten Flötentöne. – Ihr Auge, vom Hasse geschärft, schaute durch all die feinen Künste wie durch einen Mantel von Glas. Der Blick, der groß und unbarmherzig auf der Zerknirschten ruhte, wartete nur auf die erste Blöße, die sie sich geben würde. Und dann – wehe ihr!

Felicitas ahnte das alles.

Diese magere Betschwester mit dem hoheitsvollen Busen – Felicitas hielt ihn für ausgestopft – war schwerer zu behandeln als ihr Bruder, der liebe, große Junge.

Aber auch sie hatte ihre Schwäche. – Auch sie! – Und mit hingehauchten Worten, die Hände gefaltet, die Augen gesenkt, fuhr Felicitas fort, die Geschichte ihrer Leiden und Kämpfe bloßzulegen. Es war ungefähr dasselbe, was sie Leo auf der Freundschaftsinsel anvertraut hatte, nur um ein weniges für den besonderen Fall zurecht gebogen. – Ein Gemisch von Selbstanklagen und Rechtfertigungen, von Zeugnissen schwärmerischer Liebe zu ihrem Gatten und Ausbrüchen qualvoller Angst vor ihm, ein Hin- und Hertaumeln zwischen dem Bewußtsein der Würdelosigkeit und dem Drange, dieses Bewußtsein in neuen Unwürdigkeiten zu verlieren – das alles in eine Flut von Reue und Demut getaucht, von dem magischen Lichte einer schönheits- und liebebedürftigen Seele beschienen. –

Wie weit sie daran glaubte, das wußte sie selber wohl kaum. In ihrem leicht beweglichen Geiste, der mit sich selbst nur spielen konnte, wie man mit einem verwöhnten Kinde spielt, wandelte sich die Wahrheit in Lüge und Lüge in Wahrheit, je nachdem der Augenblick es verlangte.

So war sie vor dem ersten Begegnen mit Leo angekommen. – Da stockte sie, denn der Eingebung des Momentes vertrauend hatte sie nicht überlegt, welche der drei Lesarten sie für sich in Gebrauch nehmen sollte, die, welche die Welt sich erzählte, die, welche für Ulrich geschaffen worden war, oder die, welche den Thatsachen entsprach.

»Bleibe groß – bleibe edel in deinem Thun,« rief es in ihr. – Und sie erzählte die Wahrheit. –

Freilich – es war nicht die Wahrheit – beileibe nicht – aber sie nahm es dafür.

Johanna hatte, als des ersten Briefes an Leo Erwähnung geschah, einen Seufzer der Genugthuung ausgestoßen. Dann saß sie wieder wie ein Steinbild da, doch die Feindin mit den Augen verschlingend. –

Felicitas näherte sich dem Ende.

»So scheint also alles vergebens,« schloß sie, »was ich für Ulrichs Glück gethan habe, wenn es mir nicht gelingt, eine Versöhnung auch zwischen unsern Häusern – das heißt zwischen dir und mir herbeizuführen.« –

Johanna lachte grell auf.

»Ulrich muß hier bei euch aus- und eingehn können,« fiel Felicitas rasch ein, »wie in früheren Zeiten, ohne zu fürchten, daß er damit die Würde seiner Frau verletzt … Da hast du's, warum ich kam, Johanna … Das ist das gewagte Spiel, das ich spiele … Ich fühl' ja, ich seh' ja, daß ich es verloren habe, denn du antwortest mir nur mit Hohn und Lachen … Lach noch einmal, damit ich – keine Hoffnung – mehr – habe.«

Und indem sie plötzlich niederfiel und das Kleid Johannas ergriff, schrie sie schluchzend auf:

»Nein – lach nicht … lach nicht … Vergib mir … Laß mich nicht untergehn … Sei du meine Zuversicht … Ich verzehr' mich ja in Sehnsucht nach Reue … Du bist rein … Du bist eine Heilige … Weise du mir den rechten Weg, damit ich das Heil finde … Bete für mich! … Und lehr mich beten … Laß mich zu dir kommen, wenn meine Schuld mich in Verzweiflung stürzen will … Und knieen … und weinen … so … hier zu deinen Füßen.« –

Sie machte einen Versuch, Johannas Kniee zu umklammern, aber diese, die mit festgekniffenen Lippen auf sie niedergeschaut hatte, erhob sich rasch, und die Schleppe ihres Kleides an sich ziehend, schritt sie an ihr vorbei.

»Hör meine Antwort,« sagte sie. »Du hattest deinen Plan schön eingefädelt, das muß man dir zugestehn … aber du irrtest dich, wenn du meintest, daß ich dich nicht durchschauen würde … Wir beide kennen uns, Felicitas … Zwischen uns gibt es kein Spiegelfechten. Du selbst interessierst mich wenig mehr … Von dir sag' ich, was der Apostel Paulus von den Heiden sagt: ›Was gehn mich die draußen an, daß ich sie sollte richten.‹ – Was gehst du mich an, daß ich dich zu verdammen hätte oder dir zu vergeben? … Versuche auf eigene Rechnung mit dem, was du Leben nennst, fertig zu werden … Wenn du aber meinst, daß ich ruhig zusehn werde, wie du meinen Bruder zum zweitenmal in dein Netz ziehst und ihn an Leib und Seele ganz und gar verdirbst – –«

»Jesus!« schrie Felicitas.

Wieviel sie auch geplant und berechnet haben mochte, dieser Aufschrei aus gequälter Seele war nicht dabei gewesen.

Selbst Johanna stand einen Augenblick betroffen. Aber sie nahm rasch ihren Faden wieder auf:

»Du leugnest natürlich. – Die Unschuldige spielen ist ja dein Geschäft. – Um ganz offen zu dir zu sein, ich habe selbst darauf hingearbeitet, daß mein Bruder sich dir wieder näherte, um deinem wahnsinnigen Treiben ein Ende zu machen … Denn das Haus deines Mannes mußte gesäubert werden um jeden Preis. – Aber du – du durftest den ersten Schritt zu einer Annäherung nicht thun. Du nicht. Das war schamlos, wenn es nichts Schlimmeres war. Auf dem Grunde deiner Seele wächst nichts wie Unkraut. Und das muß ausgerottet werden.«

Ueber das weinende Antlitz der Unglücklichen zuckte ein Blitz geheimen Erschreckens. – Sie erhob sich langsam und ließ sich in den Sessel fallen. –

»Das ist der Lohn, wenn man die Wahrheit sagt,« dachte sie. – »Es wäre so einfach gewesen, die Lesart Ulrichs zum besten zu geben … Das übrige hätte sich von selbst gemacht … Und nun sollte alles verloren sein?«

Nein, noch nicht … Sie fühlte es: den höchsten aller Trümpfe hielt sie selbst in Händen. Doch sie wußte nicht, wie er auszuspielen war.

So sagte sie fürs erste, wie eine, die mit dem Leben abgeschlossen hat:

»Es ist gut so … Schicke nach ihm … Ich bin bereit.«

Johanna maß sie mit blinzelndem Auge, als ob sie einem neuen Schliche auf den Grund kommen wollte. Dann griff sie nach der Klingelschnur und ließ sie wieder sinken.

»Du glaubst wohl noch immer, daß ich scherze?« fragte sie, während Felicitas mit schmerzlichem Lächeln und scheinbar ruhig jede Regung ihrer Hände verfolgte.

»Ich glaube, daß du mich zu Grunde richten willst,« erwiderte sie. »Und das ist ja genug.«

»Warum sollt' ich das wollen?«

»Weil du mich hassest, Johanna.«

Johanna trat einen Schritt auf sie zu, und mit einer Stimme, an der sie zu ersticken schien, sprach sie leise zu ihr nieder: »Ich will ehrlich sein. Ja – ich hasse dich … Ich habe selbst meinen Mann nicht so gehaßt wie dich … Aber, das geht mich allein an. Das hat hiermit nichts zu thun … Meinetwegen könntest du ein Dasein führen, so lustig und so sündhaft, wie es dir beliebt … Das sollte mir wenig Sorgen machen … Aber du hast Hand an die gelegt, die mir lieb und wert sind … Ich würde mein Auge aufreißen, falls es mich ärgert … Warum sollt' ich dich schonen?«

»Das ist der richtige Augenblick,« dachte Felicitas. Und die Hand auf das hochklopfende Herz gepreßt, doch mit derselben Leidensmiene wie bisher, sagte sie:

»Wenn dies der Grund ist, Johanna, so kannst du gleich mit mir gehn!«

»Was heißt das?«

»Weißt du nicht, daß du heute selber Hand an einen legst, der dir lieb und wert ist?«

Johanna zuckte leise zusammen, ihr Auge öffnete sich starr, als sähe sie vor sich das nahende Unheil, und Felicitas fuhr fort:

»Glaubst du nicht, daß es ihm wehe thun wird? … Fürchtest du nicht, daß er den Tod davon haben kann? Aber du bist stark. Du bist groß, Johanna … Du willst lieber, daß er stirbt, als daß er einer überlassen bleibt, die seiner nicht würdig ist … Nur mein' ich, du hättest früher thun müssen, was du jetzt thun willst, als die Gewohnheit ihn mit den neuen Verhältnissen noch nicht vertraut gemacht hatte … Gewohnheit, sag' ich, denn von Liebe wag' ich nicht zu reden – vor dir.«

Die Hände Johannas strichen zitternd über die Tischdecke, und Felicitas, noch demütiger, noch ergebener in ihr Schicksal, fuhr fort:

»Aber vielleicht seh' ich zu schwarz … Vielleicht erholt er sich noch einmal von dem Schlage, der ihn heute treffen wird … Dann, Johanna, ist es an dir, ihn den heutigen Tag vergessen zu machen.« –

Johanna fuhr empor. Ihr Auge bohrte sich angstvoll in das Antlitz ihrer Gegnerin. – »Was willst du mir damit sagen?« stammelte sie.

Felicitas mit ihrem klagenden Lächeln fuhr fort: »Ich weiß nur eins, Johanna, daß ich, ich mich nicht davon erholen werde … Ob er mich niederschießen wird? … Ob ich ins Wasser gehe? – Was weiß ich? … Vielleicht geschieht keines von beiden. – Er ist ja mild und edelmütig, und ich – ich fürchte mich vor dem Tode … Vielleicht geh' ich irgendwo in Schande und Elend zu Grunde … Denn ich bin haltlos, Johanna … Ich steh' für nichts … Auf alle Fälle bin ich aus dem Weg geräumt … Ich bin gestorben von heute ab … Nun, Johanna, zwischen uns gibt es kein Spiegelfechten, hast du gesagt … Gut … Am allerwenigsten heute. Wozu es also verbergen wollen?« – Sie breitete die Arme aus – »Wir lieben ihn ja alle beide, du wie ich – und ich wie du … Das ist ja unser ganzer Haß.«

Johanna schrie auf – sie machte eine Bewegung, als wolle sie mit gespreizten Fingern gegen die Wehrlose losfahren … dann brach sie auf dem Sofa zusammen, das Gesicht in den Polstern verbergend.

Felicitas leckte sich nach ihrer Gewohnheit mit dem roten, spitzen Züngelchen ein wenig die Lippen.

Der Klingelzug würde nun nicht mehr berührt werden, dessen war sie gewiß.

Sie näherte sich der Hingestreckten und wollte die Hand auf ihre Schulter legen, aber vorsichtig zog sie sie wieder zurück.

»Das einzige, worauf es ankommt,« begann sie von neuem, »ist, daß er glücklich wird … Bist du sicher, Johanna, daß du das besser bewirken kannst als ich, so will ich dir gerne weichen. – Und wenn ich auch nicht wollte, ich müßte es ja, da ich wehrlos in deinen Händen bin. Aber ich bin müde von all der Angst und will es aus freiem Herzen … Und darum, siehst du, ist auch gar kein Grund mehr zum Hasse zwischen uns … Vielleicht ist es sogar möglich, daß wir beide uns zusammenthun und gemeinsam einen Weg ersinnen, wie ihm das Schrecklichste erspart wird … denn, vergiß nicht: zugleich mit mir verliert er auch seinen Freund … Und sein Freund ist das Höchste, was er auf Erden kennt …«

Johanna richtete sich auf und sah irrenden Auges zum Kruzifix empor, das mit seinen weißen Armen aus dem Schatten leuchtete. »O, mein Heiland,« stöhnte sie, »was hab' ich thun wollen? … Wie konntest du zulassen, daß ich das wollte?«

»Gräm dich nicht,« fuhr Felicitas fort, und nun legte sie wirklich die Hand auf die zuckende Schulter. »Es ist ja noch nichts geschehn … Und drum mach' ich dir einen andern Vorschlag: Ich will morgen sein Haus verlassen und ihm von Münsterberg aus einen Brief schreiben: Vergib mir – ich sehe ein, ich kann dich nicht glücklich machen. Du hast einen Irrtum begangen … Ich gebe dich frei … Wähle das Weib, das deiner wert ist!« …

Da wandte sich Johanna jählings um, umklammerte sie und wollte sie mit einem Kusse zu sich niederziehn. Doch als sie die weichen, kühlen Arme der so lange Gehaßten an ihrem Halse fühlte, da riß sie sich schaudernd wieder los und rannte zum Fenster, um so viel Raum als möglich zwischen sich und das weiße, lächelnde Weib zu legen.

Von da aus begann sie zu reden:

»Ich habe mich von dir … überrumpeln lassen, Felicitas … Ich bin nun wehrloser … als du … du sagst, ich lieb' ihn … Nun ja, ich lieb' ihn … Triumphiere immerhin … Du hast ihn, und ich kann nichts, wie für ihn beten. Aber was weißt du, wie ich ihn liebe? … Ich könnte dir ebenso gut sagen: Ich lieb' ihn nicht, und würde doch nicht lügen … Ich lieb' ihn im Geist und in der Anbetung … Ich brauche gar nicht mehr von ihm … Für ihn beten ist mir dasselbe wie ihm angehören … Ich lieb' ihn als den Auferstandenen, den Verklärten, der einst mit mir vor Gottes Throne knieen wird. Doch, was weißt du davon? … Ihr verhöhnt mich ja alle … Nein, höhnen thut ihr nicht. Ihr ahnt etwas und beneidet mich … und in Wahrheit ahnt ihr doch nichts … Was wißt ihr von den Nächten, in denen die Pforten des Himmels sich aufthun? … und die Glorie Gottes herniederleuchtet? … und die weißen Wunden des Heilands zu bluten anfangen? – Denn dies Wunder ist geschehn – hier – mehr als einmal.»

Und mit großen, verzückten Augen betrachtete sie das Kruzifix, das über ihrem Betschemel hing.

Felicitas zog die Schultern zusammen. Sie hatte begonnen, sich zu fürchten … Es war also wirklich wahr, was die Leute sagten: Johanna hatte sich überbetet.

Diese sah die fröstelnde Bewegung wohl und brach in ein Lachen aus.

»Du hast Angst,« sagte sie. »Das glaub' ich dir … Vor dem nackten, blutenden Manne da besteht kein Schleier und keine Lüge … Komm her … Gib mir deine Hand.«

Der herrische Befehl gestattete kein Widerstreben. – Halb furchtsam, halb neugierig kam Felicitas näher und fühlte ihre Finger von einer Hand gepackt, die wie im Fieber glühte.

»Weshalb zitterst du?« fragte Johanna … »Freu dich doch lieber … Ich bin ja ebenso in deinen Händen wie du in den meinigen. Oder hast du Angst vor dem Auge des Gekreuzigten? … Sieh nur hinein – du! – Weißt du, wer solche Augen hat?«

»Nein,« sagte Felicitas.

»Und sie behauptet, ihn zu lieben! O – du, du! … Nun hör zu: Entweder dein Wille ist rein und lauter wie Gold, so lauter wie das Blut, das aus diesen Wunden quillt, und ich hab' mich in dir getäuscht … Oder aber, du bist ein Abgrund von Schmach, dessen Tiefen ich nicht ausmessen kann und auch nie im Leben möchte.«

»Die Wahrheit wird wohl in der Mitte liegen,« dachte Felicitas.

»Wie dem auch sei! – Wenn du willst, daß unsre Feindschaft ein Ende haben soll, so wirst du mir den Eid nicht verweigern, den ich jetzt von dir verlange.«

»Es wird so schlimm nicht sein,« dachte Felicitas, und mit niedergeschlagenen Augen erwiderte sie: »Ich scheue mich vor keinem Eide.«

»So kniee nieder!«

»Wie? – Wo?« fragte Felicitas betreten.

»Hier – auf meinem Schemel.«

»Gut! Auch das!« sagte Felicitas und that wie ihr geheißen, indem sie das luftige Kleid sorgfältig zur Seite strich.

»Leg' deine Hände auf die Füße des Heilands.«

Felicitas wagte nicht, sich zu weigern. – Als ihre Fingerspitzen den kalten Marmor berührten, fuhr sie fröstelnd zusammen. Ihr war, als ob von diesen weißen Füßen her ein eisiger Strom auf sie eindränge, in dem ihr Körper zu erstarren drohte.

Aber tapfer hielt sie aus.

Und mit leiser, ein wenig zittriger Stimme, wie eine Konfirmandin, welche in ihrem weißen Kleidchen zart und duftig vor dem Altar kniet, das Glaubensbekenntnis nachzustammeln, sagte sie her, was Johanna ihr vorsprach:

»Ich schwöre zu dir, allbarmherziger Heiland – ich bekenne und beteure bei deinem Namen, daß die Reue über das, was gewesen ist, mich ganz erfüllt und erfüllen wird bis an meines Lebens Ende.«

»Wenn's weiter nichts ist!« dachte sie dazwischen.

»Ich will keinen andern Gedanken hegen – will keinen andern Wunsch kennen, als zu büßen, was geschehn ist: – Ulrichs Glück und Ehre sollen die Entsündigung sein, nach der ich streben will bis zu seinem Tode.«

»Amen!« fügte Felicitas mit einem Seufzer der Erleichterung hinzu und wollte sich rasch erheben, aber Johanna drückte sie auf den Schemel zurück.

»Wir sind noch nicht fertig,« sagte sie und lächelte zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Felicitas dachte: »Meinetwegen,« und machte sich bereit, auch fernerhin nachzusprechen, was sie in abgebrochenem Geflüster, mit heißen Atemwellen gemischt, an ihr Ohr schlagen fühlte.

»Wenn ich aber nicht reinen Herzens bin, wenn ich diesen Eid spreche als eine List« – –

Felicitas stockte ein wenig, um sich zu prüfen. Nein, es war keine List, was sie vollführte. Sie wollte aufrichtig, was sie versprach.

»Wenn ich mein Begehren fernerhin auf eitles Gefallen richte oder gar sündige Wünsche in mir nähre, so sollst du mich strafen an dem Teuersten, was ich besitze. Du sollst mich mit Schmach bedecken vor allen Menschen« –

»Du sollst mich – mit Schmach – bedecken vor allen Menschen« – sprach Felicitas nach und sah sich ängstlich nach beiden Seiten um.

»Das Kind, das du mir gegeben hast, soll sterben« – tönte es flüsternd hinter ihr.

Ein kalter Schauder rann ihr den Wirbel hinab, dann wiederholte sie auch dieses.

»Und ich soll seine Mörderin sein.«

Felicitas schwieg und zitterte.

»Nun – warum zögerst du?«

»Das ist gräßlich, Johanna, was du verlangst.«

»Ja, das ist es. – Aber nur so bin ich vor dir sicher. – Willst du nicht? – Du hast die Wahl.«

»Und – ich – soll – seine – Mörderin sein.«

»So. Und nun sage Amen.«

»Amen.«

Dann sank sie mit der Stirn schwer gegen die Kante des Pultes. Ihr Blick glitt an den Fingern entlang, die soeben die Füße des Gekreuzigten umklammert gehalten hatten. Sie wischte sie voll Grauen an ihrem Kleide ab, als müßte von dem Blute, das Johanna den Wundenmalen entströmen sah, etwas daran kleben geblieben sein. – Ihr war zu Mute, als hätte sie sich das eigene Leben abgeschworen, als sei mit diesen Worten die Sonne untergegangen, um nie mehr wiederzukommen.

Sodann erhob sie sich langsam.

Da fühlte sie sich von Johanna umschlungen – und fühlte, wie deren fiebrige Lippen, mit dem Widerwillen kämpfend, sich auf die ihren drückten. –

Mechanisch erwiderte sie den Druck und dachte schaudernd hinterher:

»Das ist auch ein Kuß.«

Johanna faßte ihre Hand.

»Du wirst also unangefochten an den Platz zurückkehren,« sagte sie, »den du bis heute eingenommen hast. Ebenso wird dein Wille geschehn: du sollst mich von heute ab zur Freundin haben … Und nun komm hinüber. Ulrich muß wissen, daß wir versöhnt sind.«

»Und Leo erst recht,« dachte Felicitas, ihr Kleid zurecht streichend, das von dem vielen Knieen zerknittert war.

Als sie an Johannas Seite ins Freie hinaustrat und die Sonne trotz allem, was geschehn, grüngoldig durch die Blätter leuchten sah, kam ihr ein erster Trostgedanke. Sie fing an, sich mit ihrem neuen Zustande zu befreunden.

»Der Eid hat auch sein Gutes,« dachte sie bei sich. »Nun darf ich wenigstens keine Dummheiten mehr machen.«

*

Auf der Terrasse saßen Frau von Sellenthin und Ulrich Kletzingk in beklommenem Gespräche bei einander, voll Ungeduld Lizzies Wiederkunft erwartend. – Ein reitender Bote war nach den Feldern entsandt worden, um Leo heimzuholen.

Elly, ganz von ruhiger, rosiger Unschuld übergossen, stichelte mit übergeschlagenen Knieen an ihrer Stickerei, während Hertha unthätig auf der Lauer lag, kommender Ereignisse gewärtig. – Selbst die Gegenwart Ulrichs, dem sie sich von alters her in glühender Freundschaft zugethan fühlte, hatte das Bangen nicht verscheuchen können, das seit dem geheimnisvollen Begegnen der beiden Frauen in ihr nachzitterte. –

Sie war es, welche deren Nahen zuerst gewahrte. Dicht nebeneinander tauchten sie aus der Tiefe des Parkes empor – die eine in ihren schwarzen, schlappen Trauerkleidern wie ein Schatten daherschleichend – die andre ein weißes, duftiges Sommerwölkchen.

Nun hatte auch Großmama die Kommenden bemerkt.

»Gott sei gelobt,« murmelte sie, das Häkelzeug einrollend, und gab Ulrich einen Wink, sich umzuwenden. –

»Gott sei gelobt,« sagte auch er, indem er die Hand der alten Dame küßte, »jetzt endlich wird's Friede werden zwischen uns.«

Alle hatten sich erhoben und sahen den Frauen entgegen, welche die Stufen der Freitreppe emporstiegen.

»Allzu friedlich sieht das nicht aus,« dachte Hertha, den Zug bittern Grams gewahrend, welcher die Züge der Mutter noch strenger, noch verbissener erscheinen ließ, als je zuvor. – Ihre Augen hatten sich in Ulrichs Angesicht gebohrt.

»Sie schaut ihn an, als ob sie ihn verschlingen möchte,« dachte Hertha. –

Und dann geriet sie in den Bann von Frau Felicitas, der sie so bald nicht wieder loslassen sollte. –

»O, wie ist sie schön!« dachte sie mit einem Seufzer. »Wie glücklich wär' ich, wenn ich ihr ähnelte.«

Man begrüßte sich, man wechselte halblaute, kurze und bedeutungsvolle Worte. – Aber sie vernahm nichts davon, sie war wie bezaubert von der schönen, fremden Frau, die so wehmütig zu lächeln und so weich den Kopf zu neigen wußte. –

Sie hatte eine dunkle Empfindung, als höre sie Musik – eine leise, träumerische, fremdartige Musik, die sich verstärkte, sobald die schöne Frau irgend eine Bewegung machte, und zu mattem Geflüster herabsank, wenn sie reglos und sinnend dastand. –

Als sie ihren Gatten küßte, beneidete ihn Hertha.

Als sie Elly mit freundlichen Worten begrüßte, fühlte Hertha sich verlassen und verloren.

Aber dann wandte die schöne Frau sich auch zu ihr und maß sie mit einem verwunderten und doch wie lieblichen Lächeln.

Hertha fühlte die Glut, die ihr vom Nacken aus ins Antlitz stieg. –

»Das ist wohl Komteß Hertha, die vielgenannte?« fragte Frau Felicitas.

»Wer hat mich viel genannt?« dachte Hertha, ohne daß sie wagte, den Blick zu erheben.

Und nun sah sie eine runde, schneeweiße Hand, die sich ihr einladend entgegenstreckte. –

Sie hätte sich darauf stürzen, sie hätte sie küssen mögen, aber in ihrer Unbeholfenheit vermochte sie nichts, als drei Finger zögernd hineinzulegen und rasch wieder zurückzuziehn.–

»Sie sind ein Glückskind, Komteß Hertha,« hörte sie die süße, verschleierte Stimme der Fremden dicht vor sich, »so schön und so stolz! – Wir müssen Freundinnen werden!«

»Ach!« rief Hertha, und eine glühende Dankbarkeit erwachte in ihr für so viel Güte.

Und noch mehr – die schöne Frau umschlang sie mit ihren Armen und küßte sie auf den Mund.

Da geschah etwas, was sie sich nicht erklären konnte. In dem Augenblick, da die Lippen der Fremden sich den ihren näherten, ergriff sie von neuem das unheimliche Gefühl, das sie bei dem Aufschrei der Mutter durchrieselt hatte. – Wie erstarrt ließ sie sich küssen, und atmete schwer, denn der betäubende Wohlgeruch, der in dieser Umarmung über sie herströmte, benahm ihr fast die Luft.

Da hörte sie Großmama neben sich sagen: »Sie ist noch so scheu. – Sie kommt nicht häufig unter Fremde.« –

Die liebe, liebe Großmama! Und sie zerdrückte fast die alte, schützende Hand, die so herzlich ihr zerfahrenes Dasein leitete.

Hierauf setzte man sich auf der Terrasse nieder. Es wurde Thee serviert – denn die Vesperstunde war längst vorüber. –

Hertha saß wie im Traum und aß und trank aus Versehen, als ob sie drei Tage gefastet hätte.

Ihre Aufmerksamkeit wurde erst wieder rege durch das Gespräch, welches ihre Stiefmutter mit dem Baron Kletzingk führte.

An sich zwar bot es nicht viel Bemerkenswertes – es drehte sich um die pädagogischen Grundsätze, nach welchen Ulrich seine Dorfkinder erziehen ließ, seltsam war nur der Ton, in welchem es sich hinzog.

In den gleichgültigsten Worten der Mutter zitterte etwas wie verhaltener Zorn, – bald schien sie weinen zu wollen, bald sank sie brütend in sich zusammen, und ihr Auge voll schmerzlicher Starrheit wich nicht von seinem Angesicht. – Er seinerseits redete mit ihr, wie mit einer Kranken. – Er widersprach ihr nicht, sondern milderte sofort, was ihr Mißfallen erweckte – und wenn sie mit nervös zitternden Lippen ein geringschätziges oder ungläubiges Wort hinwarf, so bat er sie herzlich, ihre Ansicht zu erläutern – er glaube wohl, daß ihre Gründe wichtig genug seien, um seine Meinung abzuändern. –

Aber dann hatte sie als Antwort kaum mehr als ein Achselzucken.

»Was mag er ihr nur gethan haben?« dachte Hertha, »daß sie ihn so haßt?« Und dann wandte sie sich aufs neue Felicitas zu, um sie voll Bewunderung anzustarren.

Mitten in die schleichende Unterhaltung drang vom Eßzimmer her ein dröhnender Schritt, den das Schnaufen des Leonbergers begleitete. –

Wer da sprach, brach mitten im Satze ab. Ein jeder richtete sich auf und blickte gespannt nach der Thür.

Hertha fühlte ihr Herz pochen. Für einen Moment kreuzten sich ihre Blicke mit denen der schönen Frau, Ihr schien, als ob das bleiche Angesicht noch um einen Schatten bleicher geworden wäre.

Die Thür wurde aufgerissen, und Leo stürmte auf die Terrasse.

Doch plötzlich fuhr er zusammen und machte Halt. Seine Hand tastete an den Zipfeln seines Bartes herab, seine Augen blieben an Felicitas hängen, forschend und drohend zugleich.

»Er mag sie nicht!« hallte es aus Herthas Innern.

Ulrich ging ihm rasch entgegen und ergriff seine Hand.

»Was du hier siehst, bedeutet Versöhnung, mein Junge. Jetzt werden wir endlich aneinander froh werden können.«

»Ihr zwei?« fragte Leo, die beiden Frauen mit dem Finger bezeichnend.

»Wir sind versöhnt – jawohl,« entgegnete Johanna mit ihrem bittersten Lächeln.

Er wollte mehr sagen, aber Ulrich raunte ihm zu: »Denk an die Kinder!«

»So wirst du hoffentlich nicht verschmähen, mir auch die Hand zu geben, Schwester?« sagte er.

»Zu diesem Zwecke bin ich hergekommen,« entgegnete Johanna, indem sie sich erhob. –

Beider Hände, beider Blicke ruhten ineinander.

Ihre Hand sagte ihm: »Ich halte dich« und ihr Blick: »Ich passe auf!«

Dann grüßte ihn Felicitas mit einem flehenden Lächeln. –

»Warum mag er sie nicht mögen?« fragte sich Hertha, der das alles nicht geheuer schien.


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