Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII.

Nach der offiziellen Versöhnung der beiden Gutshöfe hatte Leo die Ueberfahrtsstation nach Uhlenfelde, die bis dahin unbrauchbar gewesen war, rasch wieder in stand setzen lassen.

Er hatte dem alten Boote, welches nicht mehr ganz wasserfest schien, ein neues hinzugefügt und das Badehaus, das in Rücksicht auf demnächstige Ueberflutungen bis zur Dammhöhe zurückgezogen worden war, in einen Schuppen umgewandelt, so daß es dem wartenden Reitknecht samt den Pferden zum Unterschlupf dienen konnte, wenn er selbst im Gespräche mit dem Freunde die Stunde der Rückkehr überschritt. – Und falls ihn einmal unversehens die Lust anwandelte, nach Uhlenfelde hinüberzuschlüpfen, so hatte er nicht nötig, im Hause Aufhebens davon zu machen. Er brauchte nur das Pferd in den Schuppen zu stellen und den Schlüssel zu sich zu stecken, bis das Boot ihn wieder zurückführte, zumal die abgelegene Stelle vor jedem diebischen Besuche sicher war.

Dieser Einfall kam ihm, als er am Tage nach des Pfarrers Besuche von den Rübenfeldern her den Weg nach Uhlenfelde einschlug.

Es war nicht eigentlich die Sehnsucht nach dem Freunde, die ihn fortwährend hinüberzog, vielmehr eine quälende Unruhe, ein dumpfes Verlangen, zu wissen, ob dort alles in Ordnung wäre.

Als er diesmal den Gutshof betrat, sah er an einem der Fenster des Schlosses Felicitas stehen, die ihm mit leisem Kopfnicken entgegenlächelte.

»Heute werd' ich wohl schicklicherweise bei ihr vorsprechen müssen,« dachte er, und winkte ihr einen Gruß hinauf.

»Der gnädige Herr sind nach Münsterberg gefahren,« sagte der Groom, der sich aus dem Kutschenstalle hervorschob. »Es ist Kreistag heute.«

Er stieß einen Fluch aus. Der verdammte Pfaffe hatte seinen ganzen Kalender aus Rand und Band gebracht.

Und drüben am Fenster stand Felicitas und lächelte noch immer. – Sich vom Hofe schleichen wäre Feigheit gewesen.

Sein Herz schlug höher, als er die Rampe hinanschritt. Seit dem Tage der Freundschaftsinsel war er unter vier Augen nicht mehr mit ihr zusammen gewesen.

Sie empfing ihn im Gartenzimmer, dessen gläserne Thürflügel herbstlicher Kühle halber bereits geschlossen waren.

Die Hände auf dem Schoße gefaltet, saß sie da und lächelte immer noch. Es schien auswendig gelernt – dieses Lächeln, kummervoll, ironisch und verzeihend.

»Ich möchte fast glauben, mein Freund, du hast Furcht vor mir,« sagte sie, während sie ihm zögernd die Hand bot.

»Ich habe in meinem Leben noch nicht vor Tod und Deiwel Furcht gehabt,« erwiderte er sich zum Prahlen zwingend. »Und vor dir doch wahrhaftig nicht!«

»Dabei aber läufst du mir aus dem Wege, wo du kannst. – Ich möchte sogar wetten, dein Kommen heut beruht auf einem Irrtum. Hättest du geahnt, daß Ulrich nicht zu Hause ist –«

»Ah,« machte er, unwillig mit der Zunge schnalzend.

»Aber du kannst ruhig sein. – Ich beiße dich nicht. – Nein, ich beiße dich nicht.«

Und sie zeigte ihm auflachend das weiße Mäusegebiß.

Er dachte: »Gott sei Dank, sie jammert nicht;« und etwas wie wiederkehrendes Behagen kam über ihn.

»Du bleibst doch ein paar Minuten bei mir?« fragte sie leichthin. »Ich will versuchen, dir Ulrich zu ersetzen.«

Das klang bescheiden und unverfänglich. Er verbeugte sich bejahend.

»So laß uns in mein Zimmer gehen,« sagte sie, »dort läuft niemand hin und her.«

Ein leiser Widerwille überkam ihn, als er das weichlich und frauenhaft geputzte Kabinett betreten wollte, dessen parfümierte Luft ihm wieder den Atem beengte.

»Oder möchtest du lieber hier bleiben?« fragte sie, mit seinem Instinkt sein Zögern ergründend.

»Wenn's dir egal ist – ja!«

Sie breitete die Hände ein wenig nach außen, um ihm zu zeigen, daß sie keinen andern Willen habe, als den seinen.

Ein kleines Schweigen entstand.

Die Septembersonne belebte das weite Gemach mit ihren warmgetönten Farben. – Herbstmüde Fliegen surrten an den Fensterscheiben auf und nieder. – Kein Laut störte den nachmittäglichen Frieden, der fast zu wohlig, zu einschläfernd schien für dieses schuldbeladene Paar.

Felicitas schmiegte sich in die Ecke ihrer Chaiselongue, und mit einem tiefen, behaglichen Seufzer sagte sie: »Gott sei Dank.«

»Warum Gott sei Dank?« fragte er.

»Daß ich dich endlich einmal für mich habe.«

»Da hast du was Rechts.«

»Ei, ei, Leo!« drohte sie lächelnd. »Du glaubst ja selbst nicht, was du sprichst. – Wie wir uns hier gegenüber sitzen, brauchen wir kein Stäubchen, kein Fältchen unsrer Seelen voreinander zu verstecken. – Und das thut gut, wenn man im Leben so viel gelogen hat wie ich … Ach, was hab' ich für eine Sehnsucht nach Wahrheit! … Es ist das so eine Art platonischer Liebe, weißt du, die man sich ruhig gestatten darf, weil man sicher ist, daß sie ja doch zu nichts Ernstem führt … Und darum bin ich glücklich, daß ich wenigstens vor dir nicht besser zu erscheinen brauche, als ich bin. Was dich anbelangt – nun ja – du bringst mir nur ein Opfer, während du hier sitzest, das weiß ich, und du hast dich hart genug dagegen gesträubt, aber du – du hassest mich ja auch!«

»Ich – dich? – Was?«

»Leugne nicht, mein Lieber! Du siehst, ich kann ihn ertragen, deinen ganzen, großen Haß … Denn ich weiß, ein Tropfen – Freundschaft mischt sich doch darein … Wir beide – ach Gott! – wir konnten uns so herrlich miteinander vertragen … Die Liebe haben wir ausgeliebt – – ach, ist das schön, wenn man einen Menschen gern hat und ihn nicht mehr zu lieben braucht!«

Sie nestelte sich in den Polstern zurecht, wie man sich nach heißem, mühereichem Tage in dem kühlen Frieden eines wohlverdienten Bettes streckt.

»Ich möchte behaupten, mein Freund,« fuhr sie fort, sich mit der Zunge die Mundwinkel netzend, »daß das Verhältnis, in welchem wir beide jetzt zu einander stehen, das einzig wünschenswerte ist, das zwischen Mann und Weib existiert.«

Er lachte – wider Willen fast.

Wie war sie drollig in ihrer gewissenlosen Naivität! – Vielleicht hatte man unrecht, sie allzu ernst zu nehmen. Man mußte sie reden lassen, wie man dem Geschwätz eines Kindes lauscht und dazu lächelt.

»Nein – ernsthaft,« fuhr sie fort. »Schon tausend Menschenkenner haben gesagt, daß die Liebe nichts ist wie ein Krieg … Das Weib ärgert sich über das Begehren des Mannes und möchte es doch nicht vermissen. – Der Mann ärgert sich über den Widerstand des Weibes und kann es doch nicht vertragen, daß sie sich ihm willenlos ergibt … O, wie ist das dumm! … Und wie gemein! – Erst wenn alles, alles vorüber ist, wenn nichts mehr übrig bleibt, als die Erinnerung an ein paar traumhaft schöne Stunden –«

»Und die Reue!« setzte er finster hinzu.

Sie sah ihn erschrocken an. »Du bist grausam,« flüsterte sie, eine Schleife ihres Kleides um den Zeigfinger wickelnd.

»Ich wollte dich bloß daran erinnern,« erwiderte er, »daß zwischen uns denn doch nicht alles ist, wie es sein sollte.«

»Als ob ich das nicht wüßte!« seufzte sie.

»Du redest gerade so,« fuhr er fort, »als ob wir Heiden oder Künstler oder Zigeuner wären … Das paßt sich nicht für uns … Wir sind aus einer ganz andern Sorte Holz geschnitten … Zwar – heißes Blut hat man auch – nein, daran fehlt's nicht – und Gelegenheit macht Diebe, ganz gerad so bei uns … Aber wir haben einen Kantschu im Genick, das ist unser verdammtes protestantisches Gewissen –«

»Schweig vom Gewissen, ich bitte dich!«

»Und eine ordentliche Dosis Pflichtgefühl ist uns auch eingebleut worden!«

»Ach, warum verbitterst du uns die erste trauliche Stunde, die wir miteinander verleben?« hauchte sie.

»Wir haben keine traulichen Stunden miteinander zu verleben,« erwiderte er rauh.

Sie faltete die Hände. »Mein Gott, ich weiß ja … ich weiß alles! Was ich vorhin sagte, sagt' ich nur, um mein eigenes Gewissen zu bezwingen und dich heiter zu stimmen … Was haben wir davon, wenn wir uns gegenseitig die Ohren volljammern?«

Er stutzte. – Wie hatte sich alles verschoben seit jenem Morgen auf der Insel! – Verteidigte sie nicht den Standpunkt, den er selbst früher eingenommen hatte, während er sich vom Schuldbewußtsein treiben ließ, wie sie es sonst gethan? – Noch vor wenigen Minuten hatte er nichts so sehr gefürchtet, wie ihr Jammern, und nun trieb er selbst sie in den Jammer hinein.

»Du hast recht, Lizzie,« sagte er, »wir müssen ruhig Blut behalten und uns mit Vorwürfen verschonen, denn alte Sünden sind nicht mehr zu ändern. Aber der Teufel hol' uns, wenn wir vergessen, zu welchem Zweck wir diese neue Art von Gemeinschaft geschlossen haben.«

»Um Gottes willen, wie könnten wir das?« rief sie, die Hände vors Gesicht schlagend.

Er atmete beruhigt aus. Nun die beiderseitige Reinheit des Willens von neuem feierlich attestiert war, brauchte er nicht mehr auf der Lauer zu liegen, konnte er sich ohne Argwohn und Selbstvorwurf dem Reize dieses gefürchteten Beieinanderseins überlassen.

Denn, in der That, es war nicht ohne Reiz.

Die Gedanken, die ihn seit Monaten – und von Tag zu Tag härter und häufiger – quälten, auf die er jedes Erlebnis, jede Begegnung, jede Erinnerung beziehen zu müssen glaubte, ohne doch je durch Aussprache das überlastete Herz befreien zu dürfen – hier fanden sie ein williges Echo.

Aus diesem blauen, schwimmenden Augenpaare blickte die eigene Schuld, durch Grazie gemildert und verklärt, ihm vertraulich entgegen.

Aus diesen weichen Lippen blähte sich kein hartes Richterwort, und wenn sie flüsternd von dem Verbrechen redeten, das besser unbenannt geblieben wäre, so thaten sie's in milder Selbstanklage, die für ihn so gut wie ein Verzeihen war.

Das that wohl. – Ja, das that wohl.

Mit einem leichten Seufzer lehnte er sich in den Sessel zurück. Er gedachte die Stimmung vollends behaglich zu machen und bat, sich eine Zigarre anzünden zu dürfen.

»Du weißt, daß du alles darfst,« erwiderte sie und erhob sich, ihm Feuer und Aschbecher zu holen.

»Willst du mich etwa bedienen?« fragte er, seinerseits aufspringend.

»Laß nur,« sagte sie mit ihrem wehmütigen Lächeln. »Es macht mir Vergnügen, und – es geschieht ja nicht zum erstenmal.«

Er schaute ihr nach, wie sie in ihrem hellblauen Schlafrocke mit anmutigem Gleiten durch das Zimmer schlurfte. Die Spitzenärmel strafften sich auf den üppigen Oberarmen und warfen klare, kleine Fältchen nach dem Korsett hinunter, dessen starre Fischbeinstreifen, auf dem leichten Kleide abgezeichnet, sich strahlenförmig nach der wogenden Rundung des Busens hin verloren, über welchem eine Atlasschleife leise zitterte.

Es lag ein holdes Behagen in dieser vollreifen, weichlinigen Gestalt, das von verglühendem Feuer und schwer errungenem Frieden sprach. – Magdalenenhaftes freilich war nichts darin, nur die traurigen, stets verschleierten Augen wußten ein Lied von süßer Sünde und bitterem Bereuen zu singen.

Sie sank auf ihren Sitz zurück und schaute traumverloren in den Park hinaus.

Die schon tiefstehende Sonne sandte eine Flut purpurnen Lichtes ins Zimmer, dunkelgoldige Arabesken an die Wände malend.

Leo, mit seiner Zigarre beschäftigt, verfolgte die Rauchwolken, die, sobald sie in den Sonnenbereich traten, sich zu einem tiefen, lichtrandigen Blau verklärten.

»Du bist wohl jetzt viel allein?« fragte er, da das Gespräch wieder in Fluß gesetzt werden mußte.

»Fast immer!« erwiderte sie.

»Was treibst du den langen Tag über?«

Sie zuckte die Achseln.

»Bist du viel in der Wirtschaft thätig?«

Sie schob gelangweilt die Lippen vor. »Ja – auch das!«

»Und – und – der Besuch läßt dich in Ruh?«

Sie errötete bis in den Nacken hinein. »Welcher Besuch?«

»Nun – du weißt schon – die Bengels.« –

Sie lächelte in tiefer Beschämung. »Warum erinnerst du mich daran?« flehte sie. »Mir schaudert, wenn ich bedenke, wo ich noch vor kurzem meine Freuden suchte. – – O Leo, wie groß, wie rein fühl' ich mich, seitdem du wieder in mein Leben getreten bist!«

»Von mir könnt' ich das nicht sagen,« dachte er, sich seiner Nöte erinnernd, aber er fühlte sich geschmeichelt, als guter Engel anerkannt zu sein.

»Ich klammere mich an dich,« fuhr Felicitas fort, »mit allen guten Instinkten meines Wesens, denn ich weiß, du bist derjenige, von welchem mir Hilfe kommt. – Und wenn ich mit meinen Qualen ringe –«

»Jetzt wird sie doch tragisch,« dachte er, aber diese »Tragik« war ihm nicht mehr so fatal wie ehedem. Ob auch die Form des Ausdrucks noch kein Echo bei ihm fand, die Stimmung, aus der sie floß, verstand er nur zu gut.

»Und wenn die bösen Geister über mich herfallen,« fuhr Felicitas fort, »so sag' ich mir nur das eine: Er ist da, er verläßt dich nicht – und es wird wieder hell und friedlich in meiner Seele.«

Sie seufzte. Die beiden Fäuste in die Polster hineinbohrend, saß sie da und schaute mit geöffneten Lippen hilfelechzend zu ihm empor, während ihr blondes Gelock wie ein Gewirr von spielenden Schlänglein über die Ohren herniederfiel.

»Freilich,« fuhr sie fort, »was hab' ich viel von dir? – Wenn ich dich brauchte, so warst du nicht da … O, Leo, wie bist du grausam gegen mich … Nein, nein, ich will dich nicht kränken! … Du bist gut, engelsgut. Du hast mir auch verziehen, daß ich wieder in Halewitz eingedrungen bin! Denn das hast du doch, nicht wahr? … Auch daß ich's gewagt habe, mich und dich dem Haß Johannas preiszugeben. – Aber warum fliehst du vor mir? – Warum erlaubst du nicht, daß ich dich rufe, wenn es Nacht in mir wird, wenn das Gespenst des Getöteten –«

Er zuckte zusammen. Das grauenhafte Bild, das der alte Pfarrer in seinem Rausche heraufbeschworen hatte, stand wieder vor seiner Seele.

»Also dich sucht er auch heim?« murmelte er, die Zähne zusammenbeißend.

»O frage nicht … Ich muß schweigen … Es ist besser so – für dich und mich … Denn wie könntest du ertragen, fern von mir zu sein, wenn du wüßtest …«

» Was wüßtest?«

»Ein andermal!« flehte sie. »Wenn es not thut. Heut fühl' ich mich froh und frei, denn ich bin ja so sicher in deiner Nähe … Laß mich diese Stunde genießen! … Sieh nur, wie die Sonne dort in den roten Wolken zerfließt … Sieht es nicht aus, als weinte sie blutige Thränen mit uns und über uns?«

Er machte »Hm«. Denn diese Wendung war ihm zu poetisch.

»O, warum haben wir uns je begegnen müssen!« hauchte sie, das Antlitz zur sinkenden Sonne emporgewandt, die einen rosigen Schleier darüber breitete.

Sie seufzte, aber dieser Seufzer löste sich in einem Lächeln.

»Da wir einmal davon reden,« erwiderte er, wohl bemerkend, welch gefährliche Wendung das Gespräch genommen hatte, aber unfähig, es zurückzulenken. »An dem Begegnen lag es nicht … Wir waren ja jahrelang ruhig nebeneinander hergegangen, trotzdem schon die alte Jugendeselei hinter uns lag … Nur unser Blut und unsre Wünsche hätten wir besser in acht nehmen müssen … Daran lag's … Rhaden ließ uns zu oft allein … Wir durften zu oft in den einsamen Winkeln bei einander stecken und zu oft im dunkeln Park spazieren gehn … Daran lag's … Daran lag's.«

Halb in den Polstern ausgestreckt, stützte sie das Kinn in beide Hände. »Wie mag nur der erste Gedanke daran in uns entstanden sein?« fragte sie träumerisch.

Er zuckte die Achseln. »Soll man das heut noch wissen!« sagte er. »So was attrappiert man wie drüben das Fieber und weiß nicht, wie.«

»Ich weiß es aber doch,« flüsterte sie, immer zur Sonne hinausschauend. »Es war an einem Juliabend … Rhaden hatte in der Stadt zu thun … Wir saßen in der Laube unter den verschnittenen Cypressen … In Halewitz habt ihr ja eine ähnliche. – Besinnst du dich auf die Laube?«

Warum fragte sie? – Bis zu ihrem letzten Atemzuge würden sie beide der Stätte gedenken müssen, welche der Tempel ihres Glücks, der Ursprung ihrer Verdammnis geworden war.

»Es war ganz dunkel um uns. – Wir sahen uns kaum … Deine Zigarre war dir ausgegangen … Du wolltest Feuer … Ich sagte: Laß mich dir helfen, und hielt das brennende Hölzchen gegen das Zigarrenende … Und wie du mit tiefem Atem die Flamme einzogst … da hobst du deine Hand auf und streicheltest dreimal meine Hand, mit der ich das Streichhölzchen hielt … Gerade, als das Feuer zum letztenmal aufflackerte, da trafen sich unsre Augen … und da wußt' ich schon: Es ist um mich geschehen.«

»Da wußtest du's schon?«

Sie nickte. Als wär's der Abglanz des versunkenen heißen Glücks, so purpurn und geheimnisvoll lag der Widerschein der nun verschwundenen Sonne auf ihrem Angesicht.

»Wir Frauen ahnen dergleichen bald,« sagte sie. »Noch bevor ihr Männer euch über eure Wünsche klar seid, fühlen wir schon die Annäherung. Es ist, als ob ein heißer Luftzug uns entgegenweht. Manchen von uns ist nur wohl in einer solchen Lust.«

»Wenn du so was merktest, warum hast du dich nicht gewehrt?« fragte er finster.

»Wozu sich wehren gegen das, was einem das Schicksal beschert?« sagte sie, fromm die Hände faltend.

»Warum hast du mich nicht weggejagt? Warum hast du erlaubt, daß ich wiederkam?«

»Aber ich freute mich ja, daß du wiederkamst.«

»Ja, ja verzeih … Du bist schon im Recht … Ich hätt' alles wissen müssen und Reißaus nehmen – weg, weg, weg – bloß weg! … Du hast keine Schuld – bloß ich!«

»Sei nicht so strenge gegen dich, Leo,« bat sie. »Es ist gekommen, wie es hat kommen müssen … Wehrlos waren wir ja beide schon damals … Weißt du noch – damals, als das Streichholz erloschen war und es wieder finster wurde in der Laube, wie wir ganz stille schwiegen alle beide? … Lange Zeit hörte ich nichts wie dein Atmen, ganz kurz, ganz schwer … Du mußt mir sagen, Leo: Was dachtest du in jenen Augenblicken?«

Er wollte rufen: »Laß mich in Ruh damit,« aber allzu leibhaftig stand vor seinen Augen das Bild jenes heißen, purpurnen Juliabends, der alles Unheils Anfang war.

»Was ich dachte?« murmelte er, »hab' ich da was gedacht? … Du – das weiß ich nicht mehr … Aber dann … als wir aufstanden und ins Haus zurückgingen, fragt' ich mich: Wie kommt's, daß ihre Schulter so warm anliegt? … Ich schob's auf den heißen Sommerabend … und dann ritt ich nach Haus' … Aber als ich mich zu Bette legte, fühlt' ich noch immer deine Schulter an meinem Oberarm … das weiß ich noch wie heut.«

Felicitas blickte ihn lächelnd an. – Aber mitten im Lächeln brach sie in krampfhaftes Weinen aus. Sie drückte den Kopf gegen die Lehne, streckte sich der Länge nach aus und warf, von heftigen Erschütterungen geschüttelt, den Leib in den Polstern umher. Einer ihrer Schuhe löste sich und fiel klappend zu Boden.

In tiefster Seele erschrocken sprang Leo auf und trat an ihre Seite.

»Warum? – Warum?« schluchzte sie. »Warum hat es so kommen müssen? … Nun bin ich elend und verworfen … und du bist elend … und die andern auch … O mein Jesus, hab Erbarmen!«

»Du – nimm Vernunft an,« sagte er, sein Bangen unter Barschheit versteckend.

»Ja – ja! – Sag – was – ich soll! … Ich will ja alles, was du befiehlst!«

»Beruhigen sollst du dich! – Wenn einer kommt!« Seine Blicke irrten nach der Thür.

»Ich … will … sofort … O Jesus, Jesus!«

»Felicitas!«

Er wollte sie schütteln, aber er scheute sich, sie mit seinen Händen zu berühren.

Sie, unter dem Banne seiner Strenge, richtete sich halb empor und wischte sich mit schlaffen Händen über das Gesicht, »Mir ist schwach,« stammelte sie, »hol mir, bitte, mein Flacon aus dem Zimmer nebenan.«

Er eilte, ihren Wunsch zu erfüllen, denn immer mehr folterte ihn die Angst, man könnte sie beide in dieser Verfassung überraschen.

Als er wiederkehrte, lag sie regungslos mit dem Gesichte nach unten in den Kissen. Er rief ihren Namen. Statt der Antwort deutete sie nach dem Hinterkopfe.

Er goß etliche Tropfen der grell duftenden Flüssigkeit in ihr Haar und wischte sich die benetzten Hände rasch an den Rockärmeln ab.

Sie drehte sich um. »Nun die Stirn,« flüsterte sie mit geschlossenen Augen.

Er feuchtete ihre Schläfen. »Wie gut du bist!« fuhr sie flüsternd fort. »So elend also muß man werden, wenn man dein Mitleid kennen lernen will.«

»Richt dich doch auf,« bat er.

»Du hast recht,« erwiderte sie, die Augen groß zu ihm emporschlagend. »Unsre Zeit ist um. Ulrich muß jeden Augenblick heimkommen.«

Ulrich!

Eine Blutwelle schoß ihm ins Gesicht. – Der Name des Freundes drang schmerzhaft wie eine Züchtigung auf ihn ein.

»Ich muß weg!« stieß er hervor.

»Willst du ihn nicht erwarten?« fragte sie unschuldig.

Er schüttelte den Kopf, die Zähne aufeinander beißend.

»Aber morgen kommst du – nicht wahr? … morgen?«

Er konnte nichts, als stumm bejahen.

Sie beugte sich über den Rand des Sofas, den verlorenen Pantoffel zu suchen, der sich irgendwo an der Wandleiste verkrochen hatte.

Als sie sich aufrichtete, lächelte sie wieder. Die blauen Augen hatten die alte Klarheit zurückgewonnen, nur auf den Wangenrändern brannten als letzte Thränenspuren schmale rosarote Flämmchen.

»Bist du mir böse?« fragte sie.

»Wieso böse?«

»Weil ich dir diese thörichte Scene bereitet hab' … Aber die Thränen lasteten zu schwer auf mir … Ich mußte sie mir von der Seele weinen … Und jetzt ist mir so froh, so leicht, wie seit Monaten nicht mehr … O Leo – hab Dank für deinen Trost.«

Und in überströmendem Gefühl erhaschte sie seine beiden Riesenhände, die sie in ihren weichen, kleinen Fäustchen zu pressen versuchte.

Er verabschiedete sich rasch. Ihm war, als würde er von dannen gejagt. Doch seiner Flucht sich schämend, drehte er sich in der Thür noch einmal um.

»Grüß ihn!« sagte er, ihr fest ins Auge schauend.

Sie nickte, indem sie den Blick zu Boden schlug. –

*

Als er die Vorhalle verlassen hatte, stieg sie mit schleppenden Schritten zum ersten Stock empor, von dessen Eckbalkon die Strombreite sich übersehen ließ.

Die Hände über der Stirn gefaltet, sah sie dem Davoneilenden nach, wie er mit einem mächtigen Rucke das Boot vom Ufersande ins Wasser stieß, ihm nachsprang und rasch die Riemen in die Ruderbänke fallen ließ, ehe noch die Strömung das winzige Fahrzeug einen Fuß weit mit sich reißen konnte.

Sie zog das Taschentuch hervor, um einen Gruß hinter ihm herzusenden, aber er schaute nicht mehr zu ihr empor. – Ungesehen leuchtete das Tüchlein durch die Dämmerung.

Das Boot wurde zum Schatten und verschwand.

Ein Frösteln überrieselte sie. –

Sie gedachte des fernen Knaben, mit dessen Verbannung sie diese Stunde erkauft hatte.

Vorsichtig nach der Thür hinhorchend, zog sie einen Brief aus der Tasche, betrachtete voll Angst und Rührung die mühsam gemalten Schriftzüge und las noch einmal die ungelenken Worte, die sie seit gestern peinigten:

»Meine gelibte Mama!

Ich bange mich sehr und wie Lange sol ich noch hier bleiben Bite sag mir auch ob ich zu den Weinachts Fehrchen zu hause komen darf und die Jungs faren fast Alle zu den Fehrchen zu hause und glaube nur das Ich nicht etwa Feige bin Nein ich bin gar nicht Feige. Und wenn sie mich Schlagen beis ich die Zehne zusamen und die Klasen Keile tuht doch weh. Aber wen du denkst ich Weine nein ich Weine gar nicht bloß wen ich alein bin Weine ich und Abents nach dem Gebeht das schad doch nicht nicht war? Und ich bete für die libe Mama und den liben Papa seine krankheit das er nemlig gesunt wird wil ich gerne hirbleiben und den fido und was macht der kleine schimelchen wo ich darauf rit Ich bange mich sehr nach den fido und den schimelchen und ich bange mich über Haupt sehr das kanst du mir Glauben libe Mama. Bis Weihnagten sind noch 87 Tage Und ich winsche mir den Schorers Jugendfreunt und brif MMahrken Alpum Und eine Pistohle wo man daraus schist aber nicht mit Amorsen sondern ist eine feder drin das ein Feil fligt Und die Lagriezenkuchen wo die alte Jette imer bakt Und ich bange mich auch ser nach der alten Jette womit dich küst

dein liber Sohn
Paulchen.«

In nervöser Qual knitterte Felicitas den Bogen zusammen.

»Mein Gott, mein Gott, was soll daraus werden? stammelte sie: dann, wie um sich selbst zu entfliehen, trat sie rasch vom Balkon zurück und rannte in dem großen leeren Giebelzimmer angstvoll auf und nieder.

»Ich kann, ich darf und ich will nicht daran denken,« rief sie. »Tausend Kinder leiden dasselbe und überstehn's. Er wird es auch überstehn!«

Sie schloß die Glasthür –, und die Stirn gegen die Scheiben pressend, starrte sie nach der Stelle hin, wo vor wenigen Augenblicken das Boot verschwunden war, während ihr Antlitz sich allgemach zu träumerischer Weichheit verklärte.


 << zurück weiter >>