Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII.

Die Wirtschaftssorgen häuften sich.

Die Ernte zwar bot Aussicht auf guten Mittelertrag, der Raps, der sich am frühesten zu Gelde machen ließ, war sogar glänzend geraten, allein was wollten die paar Groschen sagen, die auf diese Weise in die Kasse kamen? Wer der bisherigen Mißwirtschaft an den Kragen gehn wollte, mußte über viele Tausende gebieten.

Leo arbeitete mit dem Aufgebot all seiner Kräfte. Vom ersten Laut der Morgenglocke bis zum Erlöschen der letzten Stalllaterne war er auf den Beinen, und ob auch im Herrenhause ringsum die Fenster dunkel wurden, er saß über den alten Schreibtisch gebeugt und sann und rechnete, bis das Papier vor seinen Augen trüber wurde und die Zahlenreihen sich vermischten.

Aber was half das alles! Kapital fehlte, und Kapital war nicht zu beschaffen. Vorerst hätten die Liebesgaben Ulrichs als Hypotheken eingetragen werden müssen. Das war er als ehrlicher Mann sich und dem Freunde schuldig. Und wer alsdann noch lieh, der verdiente ins Irrenhaus gesperrt zu werden.

So mußte also wohl oder übel im alten Gange weitergetrottet werden, bis die ersten Ersparnisse es erlaubten, Meliorationen in Angriff zu nehmen, oder auch nur das tote Inventar durch Neuanschaffungen wieder in stand zu setzen.

Und wenn er in dieser Zeit beim Schlafengehn die Augen schloß, so träumte er nicht – wie es sonst wohl seine Art gewesen – von einem drallen Mädchenleibe, von Rassepferden oder einer dreisten Tempelei. Vor seinen Augen standen als lichte Ziele sehnsüchtigen Strebens eine massiv gewölbte Decke im Schweinestall, sechs neue Kastenwagen und eine Drillmaschine nach Zimmermannschem Modell, gefolgt von einer unabsehbaren Reihe ähnlicher Gebilde, die verdämmernd und verzerrt bis ins Traumland hinüberreichten.

Der stachlige Humor, der seinem Wesen auch in der Selbstbehandlung eigen war, verließ ihn nie, allein was jüngst geschehen, vermochte er nicht mehr zu verschmerzen.

»Was wär' ich jetzt, wenn ich die Arbeit nicht hätte,« sagte er sich oft, des Fürchterlichen gedenkend, das die Schwester ihm offenbart hatte. – Ulrichs Schicksal grub sich in seiner Seele fest und ließ den Drang zu helfen und zu retten nicht mehr zum Schweigen kommen.

Wenn er über die Felder ritt, überraschte er sich nicht selten, wie er, den Zügel in schlaffer Hand, die Pfeife erloschen im Munde, blind und taub gegen alles ringsumher, sich die Stunde ausmalte, welche ihm den Gefährten seiner Jugend zu neuem, unerschütterlichem Glücke wiedergeben würde.

O, wie er das Weib, wie er sich selber haßte, wenn er alsdann sich mit seinem Schimmel einsam auf den weiten, gelben Stoppelfeldern wiederfand – in flimmernder Ferne den blauen, rohrumsäumten Strom, der sich in wenigen Minuten wohl durchkreuzen ließ und der dennoch breiter als das Weltmeer zwischen ihm und dem Freunde lag. –

Wiewohl er sich selber das Versprechen gegeben hatte, ein Zusammentreffen künstlich nicht herbeizuführen, so schmeichelte er sich dennoch ab und zu eine Veranlassung ab, um bei Wengern über den Strom zu setzen und durch einen Ritt auf der Chaussee nach Münsterberg hin dem trägen Zufall unter die Arme zu greifen.

Zweimal hatte er ihn in der Ferne auf seinen Feldern reiten sehn. Er saß noch immer auf dem Braunen, den er selber vor sechs Jahren für ihn zugeritten hatte, und der in dem Augenblicke, in dem der Körper auf seinem Rücken sich zur Seite neigte, feststand wie ein Felsen.

Im Schatten eines Chausseebaumes hatte er Halt gemacht und ihm nachgeschaut, wie er auf dem schaukelnden Paßgänger nach Uhlenfelde hin verschwand.

Einmal glaubte er auch sie gesehn zu haben. Im offenen Landauer war eine hellgekleidete Dame auf dem Dammwege dahergekommen, – das Gespann trug Uhlenfelder Gepräge. Wer konnte es anders gewesen sein, als sie? –

Diesmal hatte er nicht Halt gemacht. Seinem Schimmel die Sporen andrückend, war er davongerast.

Mit Grauen gedachte er des Augenblicks, da er ihr begegnen und nicht mehr würde ausweichen können. Ob er sie schweigend grüßen, ob er abgewandten Blicks an ihr vorübergehen würde, er wußte es nicht. –

Einmal mußten ihrer beider Augen sich kreuzen, das war klar. Mochte es lange währen bis dahin!

Nach Münsterberg, wo am ehesten zu einem Begegnen sich Gelegenheit bot, kam er selten. Er vermied die Stadt, weil er den Nachbarn noch keine Antrittsvisiten gemacht hatte und am dritten Orte schiefe Gesichter zu sehn fürchtete.

Doch drängte die weiterschreitende Ernte, die günstige Konjunktur zum Verkaufe nicht vorübergehn zu lassen.

Es war um die Mitte August, als er dem »Juden« einen Besuch abstattete. –

Der »Jude« – wie die Gutsbesitzer kurz zu sagen pflegten – war ein einflußreicher Kaufmann mit Namen Jacobi, der die Erträgnisse des Münsterberger Kreises dem Weltmarkte übermittelte. Er gab und lieh, so weit eines jeden Kreditfähigkeit reichte, und manches stolze Rittergut gehörte von Rechts wegen in seine Tasche.

Allein seine Macht mißbrauchte er nie, und nicht ein einziger Fall war bekannt, wo er den Totengräber gespielt hätte. –

»Schenken is 's beste Geschäft,« pflegte er zu sagen, und er behielt recht mit dieser Parole, denn er genoß ein unbegrenztes Vertrauen und wurde reicher von Jahr zu Jahr.

Mit seinen graulichen Koteletten, den Kneifer auf dem plattgedrückten Nasenende, saß er hinter den Holzschranken seines Comptoirs in demselben Winkel, in dem ihn Leo vor fünf Jahren verlassen hatte.

»Na, da wären Sie ja, Herr Baron,« sagte er aufstehend und legte den Kneifer beiseite. »Herr Baron« nannte er alle adligen, »Herr Lieutenant« alle bürgerlichen Besitzer, mit denen er Geschäfte machte – und ein beinahe väterliches Lächeln flog über das gelbe, verwitterte Hebräergesicht, dessen rotgeränderte Augen klug und nachsichtig zu ihm herüberblinzelten.

»Haben eine kleine Vergnügungsreise gemacht, der Herr Baron,« fuhr er fort und öffnete das Gitterthor, um Leo ins Allerheiligste einzuladen. »Nehmen Sie Platz, Herr Baron – – hab' schon Furcht gehabt, daß der Herr Baron nie wird Platz nehmen mehr auf diesem Stuhl. Aber der Raps ist gut, Herr Baron. Gut ist der Raps, und am Putzen war zu sehn, daß der Herr Baron wieder zu Hause sind. – Verkauft is er noch nicht, Herr Baron – denn nächste Woche werden die Preise steigen – und dem Herrn Baron sein Raps soll liegen bleiben, bis die Preise werden steigen. – Denn dies Jahr will ich nichts verdienen am Herrn Baron.«

»Sie sind ein guter Kerl, Jacobi,« sagte Leo, dem Alten die Hand schüttelnd. Hier war einer, der wußte besser, als er selber, wie's um ihn stand, das fühlte er wohl. Und dann sich ein Herz fassend, fragte er:

»Was meinen Sie, Jacobi, werd' ich mich halten können?«

»Nehmen Sie's nicht übel, Herr Baron,« erwiderte der Alte, »wenn ich sag', daß, wenn ein Mann wie der Herr Baron so 'ne Frage thut, so is das Stuß. Wer ein Mann is, wie der Herr Baron, wenn der bloß sagt: das und das will ich – so kann er's auch. – Und wenn er dazu noch hat einen Freund wie den Herrn Baron auf Uhlenfelde, welcher ist der reichste Mann im Kreise – dann kann er sich halten, bis die Welt untergeht.«

Leo fühlte, wie ihm das Blut heiß in die Schläfen stieg. – Daß er auf des Freundes Tasche lebte, das wurde von Kennern der Verhältnisse als selbstverständlich vorausgesetzt.

Und der Alte fuhr fort: »Vor fünf Minuten, wie der Herr Baron von Kletzingk hier ist vorbeigefahren, da hab' ich noch zu mir gesagt –«

Leo fuhr in die Höhe und fragte hastig, nach welcher Richtung er gefahren sei.

»Nach der Station,« war des Alten Antwort.

Ob er allein gewesen sei?

Der Alte versuchte ein dummes Gesicht zu machen, als ob er den Sinn der Frage nicht verstanden hätte, und meinte: soviel er gesehen habe, sei er allein gewesen.

Leo ergriff seine Mütze, versprach das Wiederkommen und stürmte hinaus.

Das Verlangen, Ulrich abzufangen und seine Hand für eine Sekunde nur zwischen seinen Fingern festzuhalten, war so mächtig in ihm emporgestiegen, daß alles andre dahinter verschwand …

Die Station lag zehn Minuten vom Marktplatze entfernt. Schon von weitem erkannte er Ulrichs gelben Korbwagen, vor der Steintreppe haltend. Er konnte ihm nicht mehr entwischen.

Der Herr Baron sei nach dem Wartesaal gegangen, rief ihm Wilhelm entgegen, der steif und würdig wie vor jenen zwanzig Jahren auf dem Bocke thronte. –

Das Zimmer war leer, nur in einer Fensternische saß einsam wartend ein Knabe. Leo achtete seiner nicht. In den auf dem Tische zusammengeworfenen Gepäckstücken hatte er Ulrichs altes Reisezeug erkannt: die Plaidtasche, den gelben Handkoffer und die Hutschachtel. Fremdes lag daneben.

Er wollte also fort – auf lange vielleicht … Es war ein Glück, daß er seiner noch einmal habhaft wurde.

Ob er ihm nachlaufen sollte? Das beste war's, ihn hier zu erwarten, wo niemand das Wiedersehen mit ihm belauern konnte.

Niemand als jener kleine Bursch, der aus einem blassen, kränklichen Gesicht mit großen, braunen Augen zu ihm herüberstarrte.

Die Augen kamen ihm bekannt vor, auch in den langgezogenen, mageren Wangen lag etwas, was ihn an ein Gesicht aus alter Zeit gemahnte. Irgend eine unangenehme Erinnerung hing damit zusammen. Was es war, konnte er nicht erraten.

Schon wollte er den kleinen Burschen fragen, wie er hieße, da besann er sich, weswegen er hier war und wie wenig die übrige Welt ihn anging. –

Er warf sich in eine Sofaecke und brütete vor sich hin, den Blick auf das gelbe Messingschloß geheftet, das Ulrichs Namenschiffre trug.

Da hörte er eine Stimme, eine leise, zagende Kinderstimme, welche sagte: »Onkel Leo.«

Er schrak zusammen. Die Stimme schien ihm bekannt. Schon ahnte er alles und wagte nicht aufzublicken. Ihm war, als ergösse sich ein eisiger Strom vom Herzen her durch seine Glieder. Unfähig sich zu rühren saß er da.

Und noch einmal hörte er sagen: »Onkel Leo!« – Ein zärtlich fragender Vorwurf, wie ihn Kinder nur für ihre alten Freunde bereit haben, von denen sie sich vernachlässigt fühlen, lag in dem schüchternen, zitternden Anruf.

Nun mußte er schlechterdings aufschauen.

Der Knabe hatte seinen Winkel verlassen. Mit dem rechten Arm die Plaidtasche umklammernd, stand er neben dem Tische und sah mit einem halb klagenden, halb gespannten Lächeln furchtsam zu Leo empor.

»Wer – bist du – mein Kerlchen?« stammelte er … Ihm war, als sähe er ein Gespenst.

Das waren ihre Augen in Rhadens spitzem Gesicht.

»Ich bin ja Paul,« sagte der Knabe, »kennst du mich wirklich nicht mehr, Onkel Leo?«

Er zwang sich zu einem freudigen Ausruf. – Der arme, kleine Bursch war ihm stets in Liebe zugethan gewesen. Er durfte ihn nicht grundlos verletzen. Seine Hand krampfte sich zusammen. In ihm schrie es: Warn' ihn, daß er sie nicht berührt. – Aber schon hatte der Knabe sie ergriffen, und sich zuthunlich an ihn schmiegend, plauderte er drauf los: »Ich hab' dich gleich erkannt, Onkel Leo … Gleich als du rein kamst … Und du hast doch so einen langen Bart bekommen … Früher hattest du ja auch einen Bart … Aber der war viel kürzer … Ach es ist so schrecklich lange her, daß du wegwarst … Und ich habe immer gedacht, wenn du wiederkommst, wirst du mir was Schönes mitbringen – denn du hast mir ja immer was mitgebracht. Das Schaukelpferd, das du mir einmal mitgebracht hast, das hab' ich noch … Aber das ist mir zu klein geworden … Ich habe noch ein größeres bekommen … Und deins ist jetzt das Füllen … Du solltest nur sehn, wie hübsch sich das macht.«

Leo biß die Zähne aufeinander und nickte lächelnd.

»Wie lange bist du eigentlich schon zu Hause, Onkel Leo?« fragte der Knabe.

»Seit vier Wochen, Paulchen,« erwiderte er.

»Und warum bist du denn nicht zu uns gekommen?« fragte er weiter. »Damals, als mein früherer Papa noch lebte, kamst du doch jeden Tag zu uns?«

»Ich habe noch keine Zeit gehabt, Paulchen.«

»Aber du wirst doch bald kommen?«

»Wenn ich kann, gewiß, Paulchen.«

Ueber das magere Gesicht des Knaben, dessen kurze, schiefe Brauen bisweilen in nervösem Spiele auf und nieder zuckten, ging ein stolzes Lächeln. »Ich werde ja dann nicht mehr zu Hause sein,« sagte er, indem er die Hände in die Hosentaschen steckte. »Ich komme jetzt aufs Gymnasium.«

Leo stutzte. »Auf welches Gymnasium?« fragte er.

»Weit, weit weg,« erwiderte der kleine Bursch. »Wiesbaden heißt die Stadt. Das ist eine sehr schöne Stadt, sagt Mama. Und ich habe viel neues, schönes Spielzeug von Mama geschenkt bekommen, das geht alles mit.« –

»Und wirst du dich nicht sehr bangen?« fragte Leo.

»Gymnasiasten bangen sich nie, hat Mama gesagt,« erwiderte Paul. »Die müssen tapfer sein. Aber die arme Mama bangt sich furchtbar … Sie weint immerzu … Du, geh doch hernach zu Mama und sag ihr, daß sie sich nicht bangen soll …«

»Kommst du denn nicht erst zu Michaelis fort?« fragte Leo befremdet.

Paulchen lächelte verächtlich. »I pfui!« sagte er, »wir fahren jetzt gleich – Papa und ich – schon mit diesem Zuge. Papa ist gegangen, das große Gepäck besorgen, und ich warte hier auf ihn.«

Leo sprang in die Höhe … Dann mußte ja auch sie auf dem Bahnhofe sein! Im nächsten Augenblick schon konnte sie zur Thür hereintreten.

Das Ungeheuerliche der Situation, das er unter dem lieben Geschwätze des kleinen Burschen beinahe vergessen hatte, kam ihm von neuem zu Sinn. –

Er raffte seine Mütze auf … Wie ein Dieb wollte er sich zur Hinterthür hinausdrücken.

»Gehst du schon, Onkel Leo?« fragte ängstlich der Knabe.

»Ich muß, Paulchen.«

»Und sagst du mir nicht einmal adieu?«

In ihm schwoll es heiß empor. Mit einem jähen Satze sprang er auf den Knaben zu und riß ihn in seine Arme. – Der Kindermund preßte sich liebkosend gegen seine Backe.

Ihn schauderte.

Da öffnete sich die Thür. Nicht sie, doch Ulrich trat herein. –

Er ließ den Knaben sinken. Wie ein ertappter Verbrecher erschien er sich …

Doch als er den erstaunten Tadel in Ulrichs Angesicht gewahrte, trat er rasch auf ihn zu und seine Hand ergreifend, sagte er leise:

»Schilt mich nicht … Mach mir keinen Vorwurf … Der Zufall hat es so gewollt … Ich hab' ihn nicht einmal erkannt, als er hier saß … Davonlaufen konnt' ich nicht, als er auf mich zukam. Ich hab' ihm lebewohl gesagt und ihn still um Verzeihung gebeten … Da ist schließlich nichts Böses dabei.«

»Du hast recht,« erwiderte Ulrich, »da ist nichts Böses dabei …«

Jetzt erst gewahrte Leo, daß er noch um einen Schatten elender, noch abgezehrter aussah, als an jenem Abende, da er Abschied von ihm genommen hatte. Sein Atem ging kurz, und seine Augen glühten tief in ihren blauen Höhlen. –

»Dir geht es schlecht, mein Alter?« fragte Leo. Hätte er nicht gewußt, wie zäh der Körper des Freundes beschaffen war, er würde vor dem Schlimmsten Furcht bekommen haben.

»Ich habe viel Aufregung gehabt,« erwiderte Ulrich, und indem er auf seinen Stiefsohn wies, fügte er fragend hinzu: »Weißt du schon?«

Leo nickte.

Ulrich streichelte den langen, schmalen Kopf des kleinen Burschen, dessen kurz geschorenes Braunhaar in zwei halbrunden Kreiseln auf die faltige Stirn herniederging. – »Hast du dem Wilhelm schon adieu gesagt?« fragte er.

Nein, das hatte er vergessen.

Ulrich sah nach der Uhr. Bis zur Ankunft des Zuges blieben noch zehn Minuten. »So lauf!« sagte er. »Ich werde dich holen kommen.«

Der Knabe sprang hinaus, das eine Bein, wie schwächliche Kinder thun, ein wenig hinterherschleifend.

Mit einem Lächeln voll trauriger, angstvoller Zärtlichkeit sah Ulrich ihm nach.

»Es wird mir schwer, mich von ihm zu trennen,« sagte er, »er war gewissermaßen das einzige, was ich recht eigentlich noch besaß.«

»Muß es denn sein?« fragte Leo, dem dieser plötzliche Entschluß, von dem vor vier Wochen noch keine Rede gewesen war, durchaus nicht geheuer schien.

Ulrich nickte stirnrunzelnd vor sich hin. »Es muß wohl,« sagte er. »Ich natürlich würde nie darein gewilligt haben – vielleicht schon aus Egoismus nicht – hätte ich das Recht gehabt, über das Schicksal des Kindes selber zu bestimmen. Aber es ist ihr Kind. Und sie will es so.«

»Sie ist doch nicht hier?« fragte Leo, von neuem in Unruhe geratend.

»Nein,« erwiderte Ulrich, »ich habe sie mit vieler Mühe bewogen, daheim zu bleiben. Im Momente vor der Abfahrt bekam sie einen Weinkrampf. – Hätte sich der auf dem Bahnhof wiederholt, wär's schlimm gewesen.«

»Wenn es ihr so schwer wird,« sagte Leo, »warum schickt sie ihn denn fort?«

Ueber Ulrichs Gesicht glitt jener Schimmer schmerzlichen Ungenügens mit sich selbst, den Leo seit der Kindheit an ihm kannte. »Schließlich trage ich ja doch daran die Schuld,« sagte er.

»Natürlich du trägst an allem die Schuld,« erwiderte Leo. »Wenn in Borneo einem ein Stein auf den Kopf fällt, so trägst du die Schuld.«

Ulrich lächelte nachsichtig. »Sieh dir den Jungen an,« sagte er, »und dann mich – und du wirst gestehen müssen, daß er als mein Fleisch und Blut mir nicht ähnlicher sein könnte, als er ist. – Kränklich war er von Anbeginn – reizbar – blutarm, ganz wie ich. Seitdem er sich aber an mich angeschlossen hat, bildet er sich mehr und mehr nach meinem Beispiel aus … Und etwas Schlimmeres für ihn kann es nicht geben. Wer weiß, was ich geworden wäre ohne deine derbe Breitbrüstigkeit. – Solch ein Kamerad, wie ich ihn an dir hatte, fehlt ihm … Statt dessen bin ich bloß da … Und ich verzärtle und verpimple ihn. Unter meiner Leitung wird ein Schwächling aus ihm und kein Mann … Damit er in kräftigere Hände käme, riet ich Felicitas, ihm den Sohn eures Brenckenberg zum Erzieher zu geben – und sah sogar durch die Finger, als der Bengel mir mein ganzes Volk zu demoralisieren anfing … Schließlich wurde auch Felicitas seiner satt und schickte ihn fort … Eine oder zwei Wochen lang unterrichtete sie den kleinen Kerl selbst, aber Felicitas müßte nicht die sein, die sie ist, wenn sie so etwas wie Ausdauer besäße. Und dann blieb er ja auch immer noch unter meinem Einfluß. Da hatte sie wohl recht, wenn sie darauf bestand, einen Strich zu machen. – Die Schuld, daß ihr Kind zu Grunde gerichtet wird, darf ich nicht auf mich nehmen.«

Das klang wohl alles ganz plausibel, doch was geschah, blieb ungeheuerlich trotzdem.

»Und wenn ihr ihn fortgeben mußtet,« rief Leo, »warum denn gleich bis ans andre Ende der Welt? Dort kann er euch ja wegsterben, ohne daß ihr es ahnt.«

»Mache mich verantwortlich, wofür du willst,« erwiderte Ulrich, und in seinem Auge flackerte die Angst, »aber hierbei laß mich aus dem Spiel. Das Kind ist nicht mein Kind, und ich muß mich fügen. Alles, was ich kann, ist, dafür sorgen, daß es gut untergebracht wird. Felicitas selbst hat die Pension ausgesucht. Sie hat hierin eine Energie entwickelt, die ich sonst nicht an ihr kenne. Sie behauptet, so ein Luftwechsel könne – seelisch und körperlich – nur dann segensreiche Folgen haben, wenn jeder Einfluß aus früheren Verhältnissen her verschwindet … In der Theorie möchte ich ihr gerne recht geben, wenn die Nutzanwendung mir nicht gar zu tief ins eigne Fleisch schneiden würde. – Aber was red' ich von mir? … Sie ist ja die leibliche Mutter. Sie leidet mehr als ich. Und was wird sie noch leiden?«

Leo schwieg. Der dumpfe Verdacht, daß seine eigene Wiederkunft bei diesem Geschehnis eine Rolle spielte, wurde stärker in ihm. – Nun er wieder da war, lag die Befürchtung nahe, daß das Herz des Kindes durch die Nachricht jener Unthat vergiftet würde. – Jeder ungeschickte Dienstbote, der aufgefangene Fetzen eines Gespräches nur, konnte dem armen Geschöpfchen Seelenfrieden und Unbefangenheit zunichte machen. – Sie schied sich von ihm, sie schickte es in Verbannung, damit der Quell seiner Kindheit nicht getrübt würde.

Diese Kraft der Entsagung hätte er ihr niemals zugetraut. Beinahe zu groß schien das Opfer, welches das Mutterherz sich abgerungen hatte. –

Mochte sie so leichtfertig sein, wie sie wollte, dies machte vieles wieder gut.

Ein Wunder war es bei allem zu nennen, daß Ulrich nichts sah und nichts ahnte. Immer mehr schien er, der Praktiker par excellence, die Fühlung mit der praktischen Welt zu verlieren. –

Doch ihn sehend zu machen wäre grausam gewesen. Grausam vor allem gegen sich selbst. – Wozu der Freundschaft auch noch diese Last zumuten, da sie schon siech am Boden lag? – – – –

Draußen läutete die Ankunftsglocke. – Ulrich sprang in die Höhe.

»Geh dort hinaus!« sagte er, auf die Thüre zum nächsten Warteraum weisend, »damit du ihm nicht mehr begegnest.«

»Du hast recht … Es soll das letzte Mal gewesen sein,« erwiderte Leo, drückte dem Freunde die Hand und ging.

Hinter sich her hörte er rufen: »Onkel Leo!«


 << zurück weiter >>