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XXIX.

In den ersten Tagen des Dezember war es plötzlich Winter geworden.

Nun lag die Welt im Schnee. – Nur die Weggeleise zogen schwarze Ringelbänder über die weite Ebene.

Wie eine Rauchdecke schwer und dunstig hing der Himmel tief über der Erde und ließ den Tag im Abende verdämmern, noch ehe der Morgen recht gekommen war.

Die Monate vom Dezember bis zum März sind die Erholungszeit des Landmannes. Dann pflegt er die Geselligkeit, dann macht er Reisen in die Hauptstadt und selbst bis nach Italien hinein, dann trinkt und hazardiert er, und wer etwa Bildungsgelüste in sich fühlt, der schreibt seinem Buchhändler, er möge ihm in einem Zehnpfundpaket die wichtigsten Erscheinungen der neuen Litteratur gefälligst übermitteln.

Leo fand an alledem keine Freude. Dem Verkehr in den benachbarten Familien ging er aus dem Wege, denn er wußte, die Mütter machten Jagd auf ihn. – Das Reisen hatte er satt. – Sich zu betrinken, war eine Hundearbeit, denn er vertrug zu viel. – »Gejeut« hatte er in Monte Carlo so reichlich, daß seines Geldschranks Leere ihm noch heute ein Memento entgegenschrie; – und um sich in Lektüre zu vertiefen, fehlten ihm Sammlung und geistige Kraft. – Selbst das tröstliche Weidwerk widerte ihn an, seitdem er durch die Jagdgründe »dort drüben« verwöhnt worden war.

So blieb ihm also nichts, als das thaten- und ruhelose Hindämmern, der Müßiggang in jeder Form, welche die Laune des Augenblicks ihm aufzwang.

Und die Sehnsucht zehrte an ihm.

Ja, es ließ sich nicht fortleugnen, er hatte Sehnsucht nach ihr.

Am Abendmahlstische war er ihr zum letztenmal begegnet.

Damals war er von dannen gejagt, ohne Ulrich die Hand zu drücken, ohne auf die verwunderten und gekränkten Blicke der Seinen acht zu geben.

Fort nur aus dem Bannkreis ihres Duftes! Fort aus dem fragenden Auge des Freundes! Fort aus dem Hause des Herrn, der seinen Gnadenschatz für ihn zum Fluche wandelte!

»Denn welcher unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selber das Gericht, damit daß er nicht unterscheidet den Leib des Herrn,« so lautete der Bibelspruch, den er einst auf der Schule gelernt hatte und der sich nun schrecklich an ihm offenbarte.

Seitdem war es stiller geworden in ihm. Da religiöse Grübeleien seinem Wesen fernlagen, so gelang es ihm, das stete Gefühl des Verdammt- und Verworfenseins allmählich wieder abzuschütteln. Und doch war an jenem Tage der letzte Anker seines alten fröhlichen Willens ihm zerbrochen. Ein dumpfes Gedrücktsein hielt ihn fortan im Banne und baute aller Enden Mauern vor ihm auf.

Seit vier Wochen weilte Ulrich in Berlin, seit vier Wochen hatte Leo den Boden von Uhlenfelde nicht mehr betreten.

»Geh ihr aus dem Wege!« das war jetzt wie vor fünf Monaten seiner Weisheit letzter Schluß. – Doch was damals in der rührigen Kraft einer genesenen Seele Wurzel geschlagen hatte, entsprang jetzt aus Feigheit und Angst.

Auch den Hausgenossen wich er aus, soviel die Tischordnung es erlaubte. Er sah es wohl, wie sehr er sich allen entfremdete. – Johanna bemerkte er kaum, Elly zog sich verschüchtert zurück, und Hertha trotzte. Selbst die alte, liebe Mama fand nicht mehr das Herz, ihm ungezwungen zu begegnen.

Halewitz hatte eine trübere Adventszeit nie erlebt …

*

Der 16. Dezember war für die Gutsbesitzer der Gegend von alters her eines der hohen Jahresfeste. An ihm feierte Frau von Stolt ihren Geburtstag.

Einladungen wurden nicht versandt, – aber wehe dem, welcher an diesem Tage auf Stoltenhof zu fehlen wagte!

Wollte Leo der Nachbarschaft nicht leichtfertig Fehde ansagen, so durfte er sich nicht zurückziehen.

»Sie wird nicht da sein,« sagte er sich – denn Ulrich war ja nicht daheim: aber bei dem Gedanken, daß sie doch vielleicht da sein könnte, stieg ihm der Herzschlag zum Halse empor.

Auf den Korridoren gab es ein Laufen und Thürenschlagen ohne Ende. Die beiden Kücken sollten heute zum erstenmal auf den Ball geführt werden. – Darum herrschte das Ankleidefieber im Hause.

Um die Dämmerzeit trat Mama in Leos Arbeitszimmer, hochrot, die Brust mit Stecknadeln gepanzert.

»Willst du nicht heute eine Ausnahme machen und mit uns zusammen fahren, mein Sohn?« fragte sie.

»Nein.«

»Johanna bleibt zu Hause.«

»Auch dann nicht.«

»Leo!« Mit gefalteten Händen, die aufquellenden Thränen hinunterschluckend, trat sie auf ihn zu.

»Was befiehlst du, Mama?«

»Leo, bist du krank?«

»Nein.«

Finster, in starrem Brennen, ruhte sein Blick auf ihr.

»Haben wir dir was gethan?«

»Nein.«

»Hast du kein bißchen Liebe mehr für mich?«

Er sah ihr bettelndes Auge, ihren zuckenden Mund; ein grelles Wehgefühl stieg in ihm auf und erlosch wie ein Licht, das in einer Pfütze ertrinkt.

»Quäl mich doch nicht!« sagte er. »Ich will ja nichts wie mein nacktes Leben. Zu nahe tret' ich ja keinem.«

Und er wandte sich ab.

Sie strich in leiser, zagender Liebkosung zwei-, dreimal über seinen Aermel und schlich sich hinaus.

Im nächsten Augenblicke hörte er sie Doren schelten, weil sie irgend einen Tüllstrich nicht steif genug geplättet habe. »Zum Glück geht ihr nichts tief,« dachte er und lachte hart vor sich hin.

Und dann erschrak er über sich:

Er war im Begriffe, auch die Mutter jenem namenlosen Gespenste hinzuopfern.

Gegen sieben Uhr fuhr der große Verdeckschlitten vor; – er selbst folgte im Einspänner eine halbe Stunde später. Den Kutscher ließ er wie gewöhnlich zu Hause.

Ein trüber Mondschein lag auf den weißen Ebenen, auf denen die Katen und Bauernhöfe sich in mißgestalteten Schattenmassen abhoben. – Ein matter Milchdunst verschleierte die Fernen und umgab die Baumgruppen mit weißlichen Rändern.

Der Weg blieb diesseits des Stromes, ging aber durch Wengern und dicht an der Fähre vorüber, welche gerade zwei herrschaftliche Schlitten abgesetzt hatte, die nun mit ihren stolzen Glockenspielen vor ihm dahersausten. Das Uhlenfelder Geläute – er hätte es auf Meilenweite herausgekannt – war nicht darunter.

Wird sie da sein? – Wird sie da sein?

Und er reckte sich, steif vom Krampfe der Erwartung.

Schon vor den Ställen wurde ihm Gewißheit. Da stand der Uhlenfelder Wilhelm und riß mit dem vertraulichen Grinsen, das die Diener befreundeter Häuser sich erlauben dürfen, vor ihm die Mütze.

Am Ende ist Ulrich auch da! fiel ihm ein … Und er – erschrak bei diesem Gedanken.

Er wollte fragen, aber eine ungewisse Scham ließ das Wort in der Kehle ersticken.

Dann schritt er langsam zur Rampe hinan.

Schloß Stoltenhof glich einem Heerlager. In der Halle war ein Jahrmarkt hergerichtet, mit Schenken und Spielbuden, vor denen in buntem Gewimmel Zivil und Militär sich staute. Denn die Offiziere der Münsterberger und der Wartensteiner Ulanenschwadron wurden überall da zur Hilfsleistung herbeigezogen, wo die Beine der bequemeren Junker sich als unzuverlässig erwiesen.

Dort traf Leo den Hausherrn, dessen kupferbraunes, welkes Altsündergesicht in Humor und Suffisance erstrahlte.

»Na, sind Sie richtig aus Ihrem Dachsbau gekrochen?« schnarrte er ihm entgegen. »Kommen Sie – kommen Sie – im Saale reckt man sich die Hälse nach Ihnen aus?«

»Sind Ihre Jungens da?« fragte Leo. Er hatte nach Ulrich forschen wollen, aber er wagte es nicht.

»Natürlich, natürlich! Das Schlingelzeug scherwenzelt um Ihre schöne Cousine herum.«

»Cousine? Welche Cousine?«

»Nu ja … Frau Felicitas, Sie Glückshase.«

Leo vergaß die Verwandtschaft allzugern. Der Gedanke daran bohrte sich stets wie ein Stachel in sein Fleisch.

»Und schön ist diese Frau wieder … Eine Zeitlang schien's mit ihr bergab zu gehen. Sie langweilte sich offenbar … Vielleicht grämte sie sich auch … Aber seit zwischen euern beiden Häusern wieder alles in Ordnung ist –«

Leo biß die Zähne aufeinander.

Klatschte man schon?

An Massen begrüßender Hände vorüber ließ er sich zur Saalthüre ziehen.

Der weite, kahle Raum schaute trotz seiner giftgrünen Tapete, trotz der niedrigen, verräucherten Decke, an welcher ein sechsarmiger Kronleuchter von grauem Zinkguß dunstete, reich und festlich aus, denn blühende, weißleuchtende Jugend schmückte ihn. Auch war die braungerahmte Galerie berühmter Rennpferde durch eine mit Lichtern gezierte Tannenguirlande, welche in anmutigen Windungen den ganzen Saal umzog, erheblich an Strenge gemildert. Tannenduft und Kerzenglanz lagen wie eine leise Weihnachtsahnung über dem Bilde.

Klavier und Fiedel machten eine anspruchslose Musik. Dazu wurde schon fleißig getanzt.

Mit glühenden Backen, scheu und selig im Arme ihres Tänzers liegend, sah er sein Schwesterchen an sich vorüberrasen. Während sein Blick in brennendem Verlangen nach Felicitas auf die Suche ging, entdeckte er Hertha, deren Auge weitgeöffnet an ihm hing und sich dann schroff zur Seite wandte. Ihr hochmütiges Köpfchen war unvorteilhaft frisiert, und der überschlanke Hals erhob sich steif über dem kindlich dürftigen Busen. –

Der Leute wegen wollte er an sie herantreten, da gewahrte er, über das Gewühl hinaufragend, die Gardistengestalt der Hausfrau, der er Handkuß und Glückwunsch darzubringen hatte.

»Sie sollten sich das Heil unsrer Felicitas ein wenig angelegen sein lassen, lieber Sellenthin,« sagte sie, die Beweise seines Respektes gnädig entgegennehmend.

Er stutzte, denn er glaubte eine gewisse Mißbilligung in ihrem Tone zu entdecken.

»Ihr Freund ist noch nicht zurück,« fuhr sie fort, »ich glaube, Sie sind der Nächste daran, um – verzeihen Sie schon meine Offenheit, aber seit ich die Versöhnung zwischen Ihnen zu stande gebracht habe, glaube ich, ein ganz kleines Recht der Freundschaft in Anspruch nehmen zu dürfen – –«

»Wollen Sie belieben, sich deutlicher zu erklären, gnädigste Frau?«

»Ich habe nichts zu erklären, lieber Freund. Ich meine nur, es fehlt ihr ein Auge, welches … daß sie ein wenig kokett ist, wissen wir … in aller Harmlosigkeit versteht sich … aber sie begeht Unvorsichtigkeiten, die ihr von bösen Zungen übel ausgelegt werden können, und ich möchte nicht gern, daß gerade in meinem Hause der Klatsch neue Nahrung bekäme.«

Ein Schreck durchfuhr ihn, der eine wohlige Erleichterung mit sich brachte. Man ahnte nichts. Man hatte vergeben und vergessen, was einst geargwöhnt worden war.

»Was, um Gottes willen, geschieht denn, Gnädigste?« fragte er.

»Nichts von Belang, aber – na, sehn Sie selbst!«

Sie führte ihn durch das Getümmel der Tanzenden hindurch in einen der Nebenräume, der durch Seidenpapierschleier zu einem rosigen Halbdunkel herabgestimmt worden war.

Dort saß mitten in der eisigen Zugluft – denn weil der Raum bis zur ersten Abkühlungspause unbenutzt bleiben sollte, waren die Fenster geöffnet – Felicitas, von einem Halbkreise junger Leute umgeben, welche die unerlaubte Zurückgezogenheit mit Lärm und Gelächter erfüllten.

Leo sah's, und seine Brust wurde eng. Ein Gefühl, von eisernen Klammern gepackt zu sein, stieg ihm zum Halse empor.

»Hier bring' ich Ihnen noch einen Freund, meine Teuerste,« sagte Frau von Stolt, bevor sie umkehrte: »nun werden Sie in Ihrem Strohwitwensitz wohl niemand mehr vermissen.«

Leo fühlte die Tücke dieser Wendung auch gegen sich gerichtet, und sein Zorn verstärkte sich.

»Da bist du ja, Freund, Bruder und Vetter!« rief Felicitas, ihm die unbehandschuhte Linke entgegenstreckend. »Warum hat man Euer Majestät so lange nicht gesehn?«

»Du wirst dich hier erkälten, Felicitas,« erwiderte er.

»Nicht hofmeistern, mein Freund! – Reiche diesen Jünglingen deine Löwentatze und sei bon garçon.«

Da waren sie alle, die sich mit Stolz »Lizzies wilde verwegene Jagd« titulierten: Otzen und Krassow und Zeßlingen und Neuhaus, auch die beiden Kürassiere natürlich.

Die Preisgabe seines Entschlusses, das Opfer seiner Mannheit, der Sturz in Angst und Lüge – alles war umsonst gewesen. Sie trieb das unwürdige Spiel mit diesen dummen Jungen weiter, ohne sich um ihn zu kümmern. Den langen Leidensweg von jenem Septembermorgen auf der Freundschaftsinsel bis zu den Stufen des entweihten Altars – alles – alles hätte er sich ersparen können.

Er sah einen roten Dunst vor seinen Augen flimmern, das untrügliche Zeichen aufflammenden Jähzorns.

»Nimm dich zusammen!« schrie eine Stimme in ihm. In jedem Hader, den er mit den jungen Leuten vom Zaune brach, war er im voraus der Unterlegene, denn sie traf kaum der Schatten einer Schuld.

Er drückte allen die Hand und sagte dann sehr bestimmt: »Du weißt, Felicitas, wie Ulrich sich um deine Gesundheit absorgt. – Ich kann nicht dulden, daß du hier Selbstmord begehst. Gib mir den Arm.«

Sie, die vor jeder Aeußerung der Energie Angst hatte, wagte nicht, ihm vollends Trotz zu bieten, aber sie wich ihm aus.

Aufstehend legte sie ihren Arm in den des jüngeren Stolt und sagte: »Wer mein Ritter sein will, darf nicht mein Herr sein wollen, lieber Leo … Kommen Sie, Fritz, wir wollen tanzen.«

Und mit einer tiefen Verbeugung rauschte sie, schon den Walzertakt mithüpfend, an ihm vorbei.

»Trösten Sie sich, Sellenthin,« sagte der junge Zeßlingen naiv, »uns behandelt sie noch schlechter.«

Dann stellte sich die Schar zum Entsetzen der Mütter, den Schwestern zum Grame, unthätig in der Saalthüre auf und lauerte auf den Moment, da einer oder der andre sich auf die Ausruhende stürzen könnte.

Als er in die Halle zurückkehren wollte, lief der Kandidat Brenckenberg ihm in den Weg, tänzelnd und geschniegelt, mit frischen Rotweinflecken auf den blanken Seidenklappen seines Frackes. Er suchte sein böses Gewissen in ein paar geringschätzigen Pfeiftönen zu verstecken und ging dann im Bogen um Leo herum.

Dem fiel das »Lied von den lächelnden Sternen« ein.

Er rief sich Elly beiseite, die halbwild von ihren Triumphen, aus dem Arme ihres Tänzers in den seinen hinüberflog.

»Du – ich wünsche nicht, daß du dir mit dem Kandidaten was zu schaffen machst,« sagte er.

Sie that, als wäre der Name ihrem Gedächtnis gänzlich abhanden gekommen. »Kandidat? Kandidat? Ach so – der! … Den hab' ich schon längst abfallen lassen … Mit so was geb' ich mich nicht mehr ab, lieber Leo! Darüber kannst du ruhig sein.«

Und mit dem malerischen Ausdruck grenzenloser Verachtung, wie er nur halbreifen, kleinen Fräuleins zu Gebote steht, schaute sie über die Achsel hinweg nach dem Manne ihrer ersten Liebe hin, der herüberschielend mit mühsam unterdrücktem Aerger in die Spitzen seiner verwaschenen Glacéhandschuhe hineinbiß.

Als er so seiner Bruderpflicht genügt hatte, kam ein Bewußtsein von Ueberflüssigkeit, von Leer- und Fremdgewordensein erdrückend über ihn. – Er fühlte sich beschämt und lahmgeschlagen. – In seinem Herzen wühlte eine dumpfe Wut, die in jedem Augenblick das Aussehen wechselte. Bald schrie sie nach Dreinschlagen, nach Morden, bald sank sie zu einem ohnmächtig nagenden, weichlichen Wehgefühl zusammen.

Und dann wurde ihm plötzlich klar: Das Gift, das an ihm fraß, hieß Eifersucht.

Ein grelles Lachen entfuhr ihm, das zufällig in eine Stille hineinplatzte.

Erschrocken schaute er um sich, aber es war zu spät; eine Galerie erstaunter Gesichter guckte ihn an.

Jetzt erst kam ihm zu Sinnen, wo er sich befand. Er saß am Biertisch in der Halle mitten unter guten Freunden, getreuen Nachbarn und desgleichen, denen er seit seiner Rückkehr kaum zwei- oder dreimal begegnet war.

Nun fielen sie alle über ihn her.

Das ginge nicht länger so, er bilde sich zum Sonderling, zum Einsiedler aus, er habe sich von drüben einen Vogel mitgebracht und werde binnen kurzem gänzlich überschnappen.

Während sie auf ihn einredeten, ließ er in fragendem Staunen den Blick von einem zum andern gleiten. – So viele Menschen gab es, die sich um sein Wohl und Wehe bekümmerten, die das Recht hatten, ihm gutgemeinte Derbheiten ins Gesicht zu sagen. – Und wie fremd geworden waren sie ihm alle! – Daß sie mit ihm auf einer Schulbank gesessen hatten, daß sie die Gefährten, die Vasallen seiner Jugendstreiche gewesen waren, wie wenig kam das heut noch in Betracht! … Das Schicksal hatte einen Abgrund zwischen ihn und sie gelegt? – wie aus den Nebeln eines fernen jenseitigen Ufers glotzten diese Larven ihn an.

»Was wollt ihr also von mir?« fragte er, als sie ihren Freundeseifer ausgetobt hatten.

Er solle sich nicht länger verkriechen, solle seine Mucken zum Teufel schicken und an der Geselligkeit der Gegend teilnehmen – wenn möglich, sich nach einer Frau umsehen.

»Laßt mich mit Weibern in Ruh!«

Hans von Sembritzky, der alte, dicke Hans, der ihm von seinen Jugendkumpanen der liebste geblieben war, machte einen Vorschlag zur Güte.

In der »Preußischen Krone« gäbe es ein paarmal jede Woche fidele Gesellschaft. da kämen die jüngeren und lebenslustigeren Besitzer der Gegend mit den Offizieren und Richtern zusammen, um einen gediegenen Humpen zu schwingen, zu klatschen, Zoten zu erzählen und wenn man besonders fromm gestimmt wäre, auch ein Tempelchen auszulegen. – Hiezu könnte er sich doch wenigstens in die Höhe rappeln.

Er versprach, sich die Einladung zu merken, und weil es nötig war, den Eindruck jenes irren Gelächters zu verlöschen, gab er sich einen Ruck, riß die Unterhaltung an sich und erzählte Episoden aus seinem Jägerleben drüben, das wie ein neubelebter wüster Traum an seinem erregten Hirn vorüberzog.

Eine große Korona bildete sich rings um ihn, auch Damen fanden sich hinzu – gebannt hing jedermann an seinen Lippen.

Der Erfolg berauschte ihn. Mehr und mehr entzündete sich seine Phantasie, Scherze und Pointen sprudelten aus seinem Munde. Und während der Klang seiner Stimme ihm in den Ohren hallte, stieg die Verwunderung in ihm auf über das, was er hier that.

Die Gesichter ringsherum glichen weißlichen Flecken, in welchen zwei leuchtende Kugeln rollten; – er sah ein Stück gelbblumiger Tapete – eine kupfrige Hängelampe – blanke Rotweinflaschen, und von Zeit zu Zeit schrie es in ihm auf: »Umsonst – alles umsonst.«

Sie vergaß ihn, sie betrog ihn, sie spielte mit ihm, mit ihm, der Ehre, Freundschaft, Lebensfreude, Hoffnung – alles, alles für sie hingegeben hatte.

Der Mensch, der hier saß und Indianergeschichten erzählte, halb wahre und halb erlogene, war ein Automat und weiter nichts. Die Erinnerung ließ herunterschnurren, was an Bildern in ihm saß, während seine Seele sich in Qualen wand.

Da gewahrte er in der hintersten Reihe der Gesichter, die durch die vorderen fast gänzlich verdeckt wurden, ein dunkles Augenpaar, das halb hingerissen und halb trotzig, bald in strahlendem Stolze, bald voll greller Angst an seinem Gesichte hing. Hier war ein junges Menschenherz, das bis in die letzten Fibern hinein sein eigen war, das seine Freuden freudiger widerspiegelte, das seine Leiden blutig in sich hinein grub und das er zum Dank dafür zwischen seinen rohen, breiten Fingern zerquetschte.

Da übermannte ihn der Jammer seiner Existenz.

Seine Erinnerung wurde unsicher, seine Worte verwirrten sich.

»Ich weiß nicht weiter,« sagte er aufstehend, »ein andermal mehr.«

Enttäuscht, mit dem Verdachte, genarrt zu sein, ging der Kreis auseinander. – Er versank aufs neue in sein Brüten.

Gegen Mitternacht wurde Abendbrot gegessen. Die Tische der Spiel- und Trinkbuden hatten sich in Büffette verwandelt, von denen jeder Herr für sich und seine Dame den nötigen Proviant zu holen hatte.

Leo wählte sich die kleine Meta Sembritzky, deren schmales, bekümmertes Gesichtchen ihm aufgefallen war, und die gewisser Umstände halber in einem sehr weiten grauen Seidenkleide wie in einem Sacke steckte.

Das Gespräch schleppte sich lahm von Thema zu Thema. Ein jeder von beiden fühlte sich dem andern befreundet und durfte ihm dennoch das, was sein Herz bedrückte, nicht preisgeben.

Nur daß Hans spät nach Hause kam und daß die Schwiegermama sehr strenge war, blieb Leo nicht vorenthalten.

Währenddessen erscholl von einem der ferneren Tische quer über den Saal hin brausendes Gelächter, das salvenweise das Gespräch der andern übertönte und allgemeines Aufsehen machte.

Dort saß Felicitas mit ihrem Gefolge, welches notgedrungen ein paar blutjunge Mädel engagiert hatte, sich im übrigen aber nur mit seiner schönen Herrin zu schaffen machte. Die armen Dinger, ganz erdrückt durch die Nichtbeachtung ihrer Kavaliere und das mißbilligende Geflüster ringsherum, saßen schweigsam da und wechselten hilfeflehende Blicke.

Felicitas hatte sich, der Sitte zum Trotz, welche sie einem der verheirateten Herren zuwies, vom jungen Zeßlingen zu Tische führen lassen. Die beiden Kürassiere waren von der erzürnten Mutter beizeiten nach andern Tischen hin abkommandiert worden.

Gegen Schluß der Tafel kam Mama in einem schönen bordeauxfarbenen Atlaskleide mit der ihr eigenen liebevollen Würde quer durch den Saal gewatschelt und winkte Leo in eine Ecke hinein.

»Erbarm dich bloß,« zischelte sie ängstlich. »Was fehlt Lizzie heute, daß sie sich einen Schwanz von dummen Jungen anhängt und mit denen Skandal macht? Alle Welt spricht darüber.«

»Warum fragst du mich, Mutter?« erwiderte er.

»Ich denke, du könntest – –«

»Gar nichts kann ich. – Felicitas ist Herrin ihrer Handlungen. Will sie sich lächerlich machen, so ist das ihre Sache.«

Damit führte er sie an ihren Platz zurück.

Nach Tische kam Felicitas mit strahlenden Augen, die Wangen von Wein und Lachen gerötet, am Arme ihres glückseligen Ritters, von zwei andern gefolgt, geradeswegs auf ihn los. »Gesegnete Mahlzeit, du Brummbär!« rief sie, und legte ihre kleine, lockere Patschhand mit drolliger Herzhaftigkeit in die seine. Kein Zucken ihrer Wimpern, kein Zittern ihrer Lippen verriet, daß ein Geheimnis zwischen ihnen stand. Alles, was einst und jüngst gewesen war, schien aus ihrer Erinnerung ausgebrannt bis auf die letzte Spur.

Er murmelte einen steifen Gesegnete-Mahlzeit-Wunsch.

»Apropos, Leo,« fuhr sie fort, »hast du Lust zu dummen Streichen?«

»Kann schon sein! Aber erst möcht' ich wissen –«

»Ach geh, du bist ein alter Pedant … Also hör zu … aber Mund halten! … wir wollen eine nächtliche Schlittenfahrt unternehmen.«

»Wer – wir?«

»Nun, diese Jünglinge und noch ein paar andre von demselben Kaliber … – So eine Schlittenfahrt à la König von Bayern, weißt du … mit Fackeln und Spitzenreitern im Rokokokostüm … Leider haben wir keine Berge hier und laufen nicht einmal Gefahr, den Hals zu brechen. Die Geschichte scheint aber trotzdem furchtbar unpassend zu sein, wenigstens für mich als einzige Dame … Darum möchte ich gern jemanden haben – einen gesetzten Mann, weißt du … womöglich einen Verwandten, der so eine Art von Duenna spielen könnte … Und da dacht' ich, ob du vielleicht –«

»Dein Vertrauen ehrt mich, liebe Lizzie,« erwiderte er, sich straff aufrichtend, »aber ich stehe dir leider verwandtschaftlich nicht nahe genug, um diese Rolle, unbeschadet deinem Rufe, auf mich nehmen zu dürfen. Nahe genug hingegen stehe ich Ulrich, um einen jeden, der dich durch Teilnahme an solchen Unternehmungen in eine falsche Lage bringt, gebührend zur Rechenschaft ziehen zu können.«

Drei lang gewordene Gesichter starrten ihn an. – Auch Felicitas war merklich erblaßt. Die Augen, die ihn eben noch in höhnischem Uebermute angeblitzt hatten, verschleierten sich zu einem süßgeheimen Flehen.

Er fühlte ein heißes Rieseln und wandte sich rasch von der Gruppe ab, um in die Halle zurückzukehren.

Dort brachte er noch zwei Stunden zu, in jedem Augenblick willens, nach Hause zu fahren, und doch nicht im stande, dem Bannkreis ihrer Nähe zu entweichen. Hinter dem breiten Rücken eines Whistspielers saß er schweigend da, scheinbar von wärmstem Interesse gefesselt, innerlich froh, daß man ihn hier in Ruhe ließ.

Gegen drei Uhr hörte er den jüngeren Kürassier einem Diener zurufen: »Der Uhlenfelder Schlitten soll vorfahren.«

In raschem Entschluß erhob er sich, verabschiedete sich ohne Aufsehen und ging nach den Ställen, um das Anspannen des eigenen Gefährtes zu beschleunigen.

Eine klare, kalte Mondnacht lag schleierlos über der weißen Erde … Die Schneekrystallchen flimmerten ringsum, als wäre eine Lichtersaat auf den Gefilden jung emporgesprossen … Die Baumschatten breiteten tiefschwarze Flecke dazwischen … Nirgends auf den Höfen schimmerte mehr ein Licht … Weißleuchtende Dächer über dunkelnden Mauerstreifen hoben die menschlichen Wohnungen von dem matteren Silberlicht der Fernen ab …

Der Braune, der es im Gaststalle gut gehabt hatte, wollte mächtig ausgreifen. Leo mußte ihm Gewalt anthun, um seine Begierde zu dämpfen … Die langsamer schlagenden Schlittenglocken hallten müde über die schlafenden Ebenen … Ein wohliges Ruhebewußtsein schien sich über die Erde gebreitet zu haben … Der große Todesfrieden, vor dem allem lebendigen graut, ließ seine Reize spielen.

»Was willst du thun?« schrie es in ihm. »Warum gibst du dem Gaul nicht die Peitsche, anstatt ihn zurückzuhalten? – Mach, daß du heimkommst. Sieh dich nicht um. Horche nicht zurück.«

Aber derweilen lauschte sein Ohr, ob hinter ihm kein fernes Geläute die nächtige Stille durchbrechen wollte, ja von Zeit zu Zeit machte er Halt, um zu prüfen, ob die eigenen Glocken den leisen Hall nicht verschlängen.

Doch nichts ließ sich hören.

Er wollte Rechenschaft fordern und Richter sein, allein er fühlte wohl, was sich gern als Zorn aufspielen mochte, war nichts als ohnmächtige, jämmerliche Sehnsucht.

Als er am Wengernschen Pfarrhause vorüberfuhr, stieg ein dumpfer Groll in ihm aus. »Der Alte schläft ruhig den Schlaf aller Propheten,« dachte er, »dieweil sein armer König David in Nöten durch die Nacht streicht.«

Er lenkte zur Stromfähre hinunter. Dort durfte er Felicitas erwarten, ohne Aufsehen zu erregen. Denn da die Fähre unter seinem Patronat stand, war nichts natürlicher, als daß er selbst nach dem Rechten sah.

In silberstreifigem Schwarz lag die weite Wasserfläche vor ihm … Mit Knirschen und Scharren brachen sich die Wellen an den vereisten Uferrändern.

Beim Klange der Schlittenglocken kam der alte Jürgens, verschlafen die Laterne schwenkend, aus seiner Bretterbude gekrochen.

»Worom fahrt Ji nich rop?« schrie er unwirsch, denn das kutscherlose Gefährte imponierte ihm wenig.

»Nich schimpfen, Jürgens!« erwiderte Leo, dem das alte Gewächse leid that.

»Jeses, der 'näge Herr!« – Er küßte ihm den Aermel, bat stammelnd um Vergebung und wollte eilends das Pferd zur Fähre hinunterleiten.

Leo beruhigte ihn. Er hätte nur angehalten, um nach dem Grundeis zu sehen.

Ein leises Geläute – dreitönig – erhob sich in der Ferne.

Leos Herz machte einen Sprung. Sie kam. Sie kam allein.

Er riß sich die Pelzdecke vom Leibe, stieg ab und band das Pferd an den Wolmen, der das Fährhäuschen umgab.

Jürgens schwatzte in zahnloser Unterwürfigkeit drauf los, wie altgewordene Dienerseelen pflegen: das Grundeis sei heute noch unbedeutend, aber morgen würd's wohl los gehen, und am Weihnachtstage könnten Kanonen rüberfahren. Und heute wäre die beste Nacht im ganzen Jahr. Einmal sei er sogar auf sieben Mark gekommen, so spendabel hätte dem Herrn von Stolt seine Freundschaft sich erwiesen.

Nun fuhr sie durchs Dorf, denn der Schall dämpfte sich zwischen den Mauern … Und plötzlich schwoll er aufs neue … Ein Schatten wurde an der Kirchhofsmauer sichtbar … Der Schlitten bog zum Strom herab.

Die vermummte Gestalt, die müde in einer Ecke lehnte, das war sie.

Er trat dicht an sie heran, während der Kutscher verwundert die Pferde halten ließ.

Sie rührte sich nicht. Sie hatte geschlafen. Erst der Ruck des stoppenden Schlittens erweckte sie.

»Guten Morgen, Felicitas.«

Ein leiser Aufschrei, halb noch aus dem Traume, scholl ihm entgegen.

Halb in Angst, halb in Jubel streckte sie die Hände nach ihm aus. Sie war wie ein Kind, das nicht weiß, ob es geschlagen oder gestreichelt werden soll.

»Erschrick nicht!« sagte er und sah mit einem rasch warnenden Blicke nach dem Kutscher hin. »Ich bin hier abgestiegen, um mich von der Sicherheit der Fähre zu überzeugen. Der Strom ist voll Schollen, und ich trage für das Heil der Stoltschen Gäste die Verantwortung.«

Sie lächelte ihm Dank zu. Sie hatte ihn wohl verstanden.

»Ich begleite dich hinüber,« fuhr er fort. »Wir plaudern besser, wenn du absteigst.«

Gehorsam ließ sie sich aus dem Schlitten heben. Die holde Last hing für einen Augenblick an seinem Halse. Ihm war, als drückte sie ihn klaftertief in den Boden hinein.

Der Schlitten polterte in die Fähre hinab. – Schweigend folgte das Paar.

»Leo!« flüsterte sie flehend.

»Schweig und komm mit,« erwiderte er, sich zur Rauheit zwingend, und erhob den vorderen Schlagbaum ein wenig. – Sie traten auf die schwankende Fallbrücke, die schmal ins Wasser hinaufragte. Nur eines Fußes Breite trennte sie von der schwarzen Tiefe.

Wie unheimliches Riesengetier tauchten die Schollen des treibenden Grundeises hie und da aus dem Wasser empor, scheuerten den weißlichen Rücken an den Kanten des Fährbootes und glitten vorüber. Das eisbezogene Tau schillerte metallen und zerbrach knirschend seine Kruste an den Rädern der Winde.

»Leo!« flüsterte sie wieder und preßte ihren Kopf sachte gegen den Aermel seines Pelzes.

»Du – du – jetzt steh mir Rede – du –« Ein böses Wort saß ihm auf der Zunge. Mühsam schluckte er es hinunter.

»Leo, ich verzweifle ohne dich,« klagte sie leise zu ihm empor. »Warum hast du mich verlassen, Leo?«

»Was redst du von Verlassen?« stieß er hervor, »ich darf nicht kommen, solange Ulrich fort ist – das ist alles.«

»Warum nicht?«

»Das fragst du?«

»Ja, das frag' ich … Wir haben bereut und gebeichtet … Wir haben uns entsühnt vor Gott und Menschen … Wir wissen doch nun unsern Weg!«

»So? Das Gefühl hast du?«

»Nun, du etwa nicht?« fragte sie zurück, in ruhiger Reinheit zu ihm emporschauend.

Er stutzte, er stammelte. – War er denn allein verdammt? Hatte Gott das Opfer ihres Herzens angenommen und das seinige verworfen?

»Wir sind doch zum heiligen Abendmahl gegangen,« fuhr sie fort, »wir haben dem Himmel unser Seelenheil anheimgestellt. Nun sollten wir uns doch geborgen fühlen.«

»Wir sollten – freilich – wir sollten!«

»Leo, sei doch nicht so mißtrauisch … Was kann uns wohl Böses begegnen, wenn wir treu zusammenhalten? … Aber – wenn du mich allein läßt, dann steh' ich für nichts … Sieh, ich habe auf dich gewartet Tag für Tag. Wenn ich in der Frühe aufstand, fragte ich mich: ›Ob er wohl kommen wird?‹ … Und dann hoffte ich auf morgen – und immer wieder auf morgen … Ach, was ist die Zeit mir lang geworden! … So grau und so einsam jeder Tag! … Und schließlich hat mich die Verzweiflung gepackt … ›Gibt er dich auf, dann gibst du dich selber aus,‹ sagte ich zu mir. Und da habe ich mein altes Treiben wieder angefangen mit den dummen Jungen. Habe ihnen den Kopf verdreht und mich von ihnen anschmachten lassen. Und heute hatte mich der Teufel ganz gepackt, so daß ich mir sagte: ›Du willst ihm schon zeigen, daß du ihn nicht brauchst.‹ … Aber das Herz hat mir dabei geblutet, das kannst du mir glauben – und meine Seele hat dir entgegengeweint. Aber du warst hart und kalt, so daß ich mich von neuem in Trotz verstockte.«

Ein weiches Wohlgefühl rieselte ihm durch den Leib. Ihm war, als fielen Gewichte von ihm ab, die bislang seine Glieder schmerzhaft gezerrt hatten. Ein ruhiges Ermatten kam über ihn. Er hätte sich auf der Stelle lang ausstrecken und einschlafen mögen.

»Und du wirst die Jungen nun laufen lassen?« fragte er.

»Aber Leo!«

»Ja oder nein?«

»Mit tausend Freuden … Nur kommen mußt du.«

»Und wenn ich nicht komme?«

In neuer Mutlosigkeit warf sie sich über den Schlagbaum. – »Dann weiß ich nichts …« stammelte sie.

»Wann erwartest du Ulrich?« fragte er, um einzulenken.

»Ja, Ulrich!« rief sie hastig: »in jedem Briefe hat er sich nach dir erkundigt und dich grüßen lassen. Manches hat er sogar an uns zusammen adressiert. Drum hab' ich ihm auch nicht zu schreiben gewagt, daß ich dich gar nicht gesehen habe. – Denn was sollte er wohl über dein Fernbleiben denken?«

»Da hast du freilich recht,« murmelte er. Selbst der reinste, vertrauensseligste Geist mußte aus der Befangenheit seines Gebarens schließlich Verdacht schöpfen.

Dann wiederholte er seine Frage nach Ulrichs Heimkehr.

»Der Reichstag wird wohl morgen oder übermorgen

Ferien machen,« erwiderte sie. »Aber ob er vor dem heiligen Abend kommt, ist sehr ungewiß. Er schreibt, man habe ihn zum Präses eines Komitees – landwirtschaftliche Ausstellung oder so was – gewählt. Drum müsse er die Tage der Parlamentsferien zu den Vorarbeiten benützen … Auch läßt er dich fragen, ob er dir einen Platz im Komitee reservieren solle. Du möchtest nur annehmen. Es könnte deinem Renommee von Nutzen sein.«

Von Beschämung gequält, schwieg er stille. Allüberall von fern und nah umgab ihn die sorgende Liebe des Freundes. – Es war Wahnsinn, daß er sich und seiner Kraft mißtraute. Einer Schurkerei, wie die, vor der ihm bangte, war Leo Sellenthin nicht fähig.

»Nicht wahr, du kommst?« flehte sie.

»Ja, ich komme,« gab er rasch und fest zur Antwort

»Bald?«

»Ja, bald!«

»Morgen?«

Er stutzte. – Das war zu früh, das sah der Sehnsucht allzu ähnlich.

»Ich habe mich für morgen und übermorgen zur Revision in Knutzendorf angemeldet,« gab er zur Antwort.

»Sag ab!«

»Nein.«

»Leo!« klang es in zärtlichem Vorwurf zu ihm empor.

»Willst du mich meinen Verpflichtungen abwendig machen?«

»Um Gottes willen nicht! Aber denk daran: bis du deinen Fuß über meine Schwelle gesetzt hast, wird keine Minute vergehen, in der ich dich nicht erwarte.«

Die Fallbrücke stieß gegen den Uferdamm. – Der Schlagbaum hob sich knisternd und knarrend in seinen vereisten Angeln.

»Leb wohl!«

»Leb wohl!«

Ihre Hände umklammerten sich, als müßten sie mit Gewalt auseinander gerissen werden, aber schon im nächsten Augenblick lösten sie sich gleichsam erschrocken.

Dann führte er sie zu ihrem Sitze und hüllte sie in die Decken.

Das Pferd zog an, die Glocken erklangen … Als ein silbergrauer Schatten verfloß der Schlitten in der Ferne.

Die Fähre rauschte ins Wasser zurück … Der Alte arbeitete keuchend … Sein Zugriemen schwirrte wie eine hochgeschwungene Geißel durch die Luft.

Leo umfaßte den Schlagbaum und lauschte den verhallenden Glocken.

Der Mond fing an sich zu senken … Knirschend brachen sich die Schollen an dem breitbrüstigen Kiel …


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