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XXVIII.

Eines Nachmittags kam Ulrich mit der Nachricht nach Halewitz geritten, daß für die dritte Woche des November der Reichstag einberufen sei.

Leo erschrak, denn das bedeutete nichts weniger, als daß er binnen zehn Tagen mit Felicitas allein gelassen sein würde. Er fühlte in allen Gliedern den Stoß, der ihn eine Strecke weiter dem unbekannten Verhängnis entgegentrieb.

Ihm war, als müßte er Ulrichs Hände ergreifen und ihm in die Ohren schreien: »Wenn dir unser beider Leben lieb ist, so bleibe hier.«

Und diese Stimmung verließ ihn nicht mehr, bis etliche Tage später der Freund mit einem verwunderlichen Vorschlage an ihn herantrat.

»Felicitas hat mich gebeten,« sagte er mit seinem freundlich-stillen Schmunzeln, in welchem Herzensgüte die Ueberlegenheit zu Schanden machte, »bei dir der Fürsprecher zu sein für einen Wunsch, den sie schon lange auf dem Herzen trägt. Uebrigens teil ihn auch deine Schwester Johanna. – Beide wollen, daß unsre Familien sich zusammenthun, um am Tage vor meiner Abreise gemeinsam zum heiligen Abendmahl zu gehn.«

Leo empfand eine jähe Freude. Ihm war, als ob aus den Wolken sich eine Hand ausstreckte, um ihn in dem Wirbelsturme, der ihn herumriß, Halt und Anker zu sein.

Diese Feier war eine Schutzwehr gegen die bangen Stunden des Alleinseins mit ihr, sie war die höchste Weihe seines reineren Willens.

»Und wie denkst du darüber, Uli?« fragte er, mühsam seine Freude bemeisternd.

»Ich für mein Teil schätze und suche jede Stimmung,« erwiderte lächelnd der Freund, »die mich aus dem flachen Werkeltagsempfinden heraushebt. – Wär' meine Pumpmaschine in Ordnung, so würd' ich gern auf Höhen klettern, um weitere Ueberschau zu haben. Solch eine Ueberschau über Gewordenes und Werdendes gibt die Abendmahlsstimmung. Ich hab' in diesem Winter schwere Dinge vor – ich steh' allein in meiner Fraktion und muß den Plänen meiner Freunde Opposition machen – es thut mir gut, vorher nach Golgatha zu gehn, um mich zu prüfen, ob ich's darf.«

»Wie himmelhoch steht er über mir,« dachte Leo. »Er lebt in der Welt seiner Ideen und ahnt nicht, mit was für einem Schmutzpack von Gedanken man sich herumprügeln kann.«

Es blieb noch zu entscheiden, welche Kirche zu wählen sei.

Daß Felicitas lieber gestorben wäre, als mit ihm zusammen vor das finstere Rächerantlitz Brenckenbergs zu treten, war Leo zweifellos, und er selber würde diesen Schritt nicht übers Herz gebracht haben. Die Angst vor den drohenden Anspielungen des Mitwissers hätte seine ganze Andacht zu nichte gemacht. – Auch das nachbarliche Kirchspiel, in welchem Uhlenfelde eingepfarrt war, mußte vermieden werden, denn dadurch wäre Brenckenberg aufs heftigste erzürnt worden.

Darum einigte man sich, ein neutrales Gebiet zu wählen und nach Münsterberg zum Superintendenten Fürbringer hinüberzufahren, der wegen seiner milden, hilfbereiten Gesinnung im Kreise sehr beliebt war.

Alles übrige ordnete sich von selber.

Mama, die mit Freuden einwilligte, unternahm es, Johanna zu verständigen, und die Kücken wurden nicht erst gefragt.

Als Leo am nächsten Abende das Uhlenfelder Schloß betrat, fühlte er im dunklen Korridor seine Hand von zwei warmen, zitternden Frauenhänden ergriffen und hörte ein inbrünstiges Flüstern an seinem Ohr:

»Ich danke dir. – Ich danke dir.«

Bestürzt fuhr er zurück – ein Schatten glitt von dannen – eine Glasthür klirrte in der Ferne. – Verwirrt – betäubt – als wär' ihm eine Vision begegnet, tappte er weiter nach Ulrichs Arbeitszimmer zu.

Das heiße Dankgeflüster wich ihm nicht mehr aus dem Ohre.

Die Woche verging in banger Ungeduld.

Am Sonnabendmorgen sollte zur Beichte gefahren werden.

Johanna fand sich im Schlosse ein, um sich der Familie anzuschließen.

In ihrem Blicke, der forschend auf ihm ruhte, erkannte Leo mit Grauen den nie erloschenen Argwohn. – Diesen Polizeiblick während stundenlanger Fahrt mit Ruhe auszuhalten, war zu viel für seine Standhaftigkeit. – Er befahl, den kleinen Jagdwagen für ihn anzuspannen.

Hertha, die in Hut und Mantel am Fenster saß, schaute bei seinen Worten erstaunt in den strömenden Regen hinaus, und Johanna, die ihn zu verstehen schien, lächelte verbissen in sich hinein.

Die Familienkutsche fuhr mit den Damen von dannen, Leo folgte eine Viertelstunde später nach.

In seinen Gummirock gewickelt, die Krempenmütze in den Nacken gedrückt, an der erloschenen Zigarre kauend, fuhr er auf dem morastigen Wege dahin. – Den Kutscher hatte er daheim gelassen, denn er wollte mit sich allein sein.

Er fuhr der heiligen Handlung entgegen wie einem Abenteuer – einem Abenteuer, von dessen Ausgang das Heil oder Unheil seiner ganzen Zukunft abhing. Die Kraft, die er in sich selber nicht mehr fand, sollte nun in dem Mysterium der heiligen Fleischwerdung vom Himmel auf ihn niedersteigen.

Entweder gab die Gnade des Herrn ihm jetzt den Frieden wieder, oder er war ihm verloren für alle Zeit.

An dem Wengernschen Pfarrhause fuhr er mit abgewandtem Angesicht vorbei, als befänd' er sich auf Diebeswegen.

Und wahrlich, viel fehlte nicht daran. Hinterrücks und verstohlen wollte er sich in den Kreis der göttlichen Vergebung hineinschleichen, wollte als ein Wunder empfangen, was der Mensch sich durch reinen Sinn und kräftige That erkämpfen muß.

Rasselnd rollte der Wagen in den Fährkasten hinunter.

Der alte Jürgens meldete respektvoll, daß er soeben die Damen hinübergeschafft habe.

»Ach, wat dem jnäjen Herrn sin Freilen Brut is, dat is 'n Engel!« fügte er strahlend hinzu, während er das triefende Seil durch die hornigen Finger gleiten ließ.

»Welche Braut?« fragte Leo stirnrunzelnd.

»Aberscht, jnäger Herr – die junge jnäge Kumteß,« erwiderte Jürgens und blinzelte listig, wie man bei guten Partien zu thun pflegt.

»Ist Er toll, Kerl?« Das Erschrecken betäubte seinen Zorn. – Was sollte aus Hertha werden, wenn dieses Gerede bereits im Munde des Volkes war?

Seit jenem Begegnen gingen sie als Fremde aneinander vorüber, kaum daß ein Morgen- und Abendgruß gewechselt wurde. – Und jetzt handelte es sich nicht mehr um ein Geplänkel zweier Seelen, die sich suchten. Was dies Verstummen in sich barg, war ein Verlorengehn auf ewig.

Doch was bedeutete das alles gegen die eine täglich wachsende Not – sie, die alle Sorgen und Verluste, alle Mühen und Bedrängnisse verschlang, als wären sie nie dagewesen.

Friede – Friede – um jeden Preis!

Vor der Kirchenpforte zu Münsterberg standen die Karossen von Halewitz und Uhlenfelde einträchtiglich nebeneinander, etliche bäuerliche Gefährte reihten sich bescheiden daran.

Er trat in die leere, graue Kirche. Das erste, was ihm entgegenleuchtete, waren die Riesenworte: »Friede sei mit euch«, die als ein goldener Halbkranz den Bogen der Altarnische umrandeten. – Sie schienen der einzige Schmuck, den das nüchterne, mit gefirnißten Bänken vollgepfropfte Gotteshaus in sich barg.

Doch wessen bedurfte es noch?

Was sie verhießen und wie eine selbstverständliche Zugabe dem frommen Beter spendeten, war ja der Inbegriff dessen, wonach er rang.

So mächtig wirkten die Worte auf ihn ein, daß er die Thränen emporschießen fühlte. – Rasch verbarg er sich hinter einem Pfeiler und legte die hohle Hand über die Augen. Er verfluchte seine Wehleidigkeit und beschwor seine tollsten Erinnerungen heraus, nur um erst wieder zu sich zu kommen.

Endlich durfte er wagen, hervorzutreten und vor sich herzuschauen.

Auf den mittleren Bänken saßen etliche Gruppen von Handwerkern und Häuslern, die Frauen mit rotgeweinter Nasenspitze, die Männer in mäßiger Neugier nach dem Orgelchore starrend.

Die Seinen hatten den Kirchenraum noch nicht betreten. Offenbar verweilten sie in der Sakristei, die einem hohen Adel allzeit offen stand.

Dorthin begab er sich. Der Schall seiner Tritte hallte dumpf in den Wölbungen wider. – Die betenden Frauen hoben ein wenig die Nasen, die Männer starrten träge hinter ihm her.

Die erste, die ihm in der Sakristei entgegentrat, war Felicitas.

Von unwillkürlichem Schauder ergriffen, wich er zurück, doch er faßte sich sofort und bot ihr ernst die Hand, fühlend, wie Johanna jede Nuance dieses Begegnens beobachtete. Und als er aufsah, gewahrte er im dunklen Hintergrunde ein zweites Augenpaar, das angstvoll und fragend an ihnen beiden hing.

Dann kam Ulrich, ihm die Hand zu schütteln und ihn dem Superintendenten vorzustellen, einem hagern, ruhig blickenden Manne mit einer Brille und ergrauenden Backenbartzipfeln. Eine helle Rednerstimme bot ihm ein freundliches Willkommen.

Wie ein friedbringender Gesang drang diese Stimme auf ihn ein, dieweil er an den dröhnenden Donner Brenckenbergs gedachte.

Man begab sich zur Kirche zurück und nahm auf den ersten Bänken Platz.

Zu Leos Rechten saß Ulrich, zur Linken Elly. – So war alles aufs beste geordnet.

Der Gottesdienst begann … Ein Choral wurde gesungen. Die üblichen Bußgebete folgten.

Leo versuchte aufzumerken, aber es gelang ihm nicht. Unverwandt starrte er die goldenen Worte an, die von der Wand wie eine Zauberformel auf ihn niederleuchteten.

Er wollte das Auge von ihnen losreißen, aber er vermochte es nicht. Sie hypnotisierten ihn fast.

Friede, Friede um jeden Preis!

Und dann plötzlich drangen vom Altar her die Worte an sein Ohr: »Kraft meines Amtes verkündige ich dir, dir sind deine Sünden vergeben.«

Er fuhr erstaunt in die Höhe.

So rasch, so einfach ging das zu? – Das, wonach er gerungen hatte mit der Kraftanspannung eines Verzweifelnden, mit der Preisgabe seines ganzen Wesens, ward ihm hier nach etlichen Momenten unbehaglichen Hinbrütens von einem fremden, bebrillten Manne, mit einer auswendig gelernten Wendung wie ein Gelegenheitsgeschenk in den Schoß geworfen?

Wie konnte, wie durfte das geschehen?

Dicht neben ihm saß der, an dem er gesündigt hatte, – von jenem andern, der in der Erde moderte, ganz zu schweigen – einen Schritt weiter, ihn mit den Schauern ihrer Nähe überflutend, das Weib, welches seine Sünden teilte, – hinter ihm die Mitwisserin – alles war, wie es fünf Minuten früher gewesen … und trotzdem sollte die Schuld aus seinem Leben hinweggewischt sein, weil der ruhevolle Mann dort oben »kraft seines Amtes« es so wollte?

Daran glaube, wer kann!

Die Orgel erging sich in den Arabesken eines kunstreichen Nachspiels. Die Beichte war beendet.

Als Leo dem Superintendenten zum Abschied die Hand reichte, traf ihn hinter den Brillengläsern hervor ein freundlich wohlgefälliger Blick, der zu sagen schien: »Alles in allem mußt du ein braver Kerl sein.«

»Das war einmal,« dachte Leo, die stumme Rede stumm erwidernd, und faßte zugleich den Entschluß, sich bei dem Manne des Friedens Rat und Ruhe zu holen.

Geschäfte auf dem Steueramte vorschützend, ließ er die Seinen voranfahren, versprach Ulrich, abends bei ihm anzukehren, wich einem letzten, vieldeutigen Blicke Lizzies aus und verträumte zwei peinliche Stunden auf den nach Rauch duftenden Wachstuchpolstern der »Preußischen Krone«, mattlaunig in den Speisen herumstochernd, die der dienstfertige Wirt vor ihn hingestellt hatte.

Dann schlug er den Weg zum Hause des Superintendenten ein, während der Regen noch immer vom Himmel strömte.

Die Dielen des Hausflurs, den er betrat, leuchteten ihm mit gedämpftem Silberglanze so nagelneu entgegen, als wären sie soeben vom Tischler gekommen. Denselben Glanz strömten die Stufen der Holztreppe aus, welche zum oberen Stockwerk führte. Jede Rippe, jede Wolke des Gemasers war in den Brettern zu erkennen, wiewohl sie schon seit manchem Jahr an dieser Stelle liegen mochten. – An den schneeweiß gekalkten Wänden hingen Bilder aus der biblischen Geschichte, in hellbraunen Mahagonirahmen, von Immortellenkränzen umgeben.

Ein diskreter Duft von frischgemahlenem Kaffee erfüllte den Raum, ein Duft, der sich in Wohnungen festzusetzen pflegt, in welchen peinlichste Accuratesse sich mit bescheidener Daseinsfreude verbindet, und der als Herold bürgerlichen Hausfriedens zu gelten vermag.

Ein zwölfjähriges Mädchen mit einer steifgefältelten weißen Latzenschürze, die wie der Kragen eines Mandarinen über die Achseln hinaufragte, erschien auf der Schwelle einer geräuschlos geöffneten Thür, knickste artig und erwartete dann stumm, was er ihr sagen würde. – Ihr hellblondes Haar unterschied sich so wenig von der Farbe ihrer Haut und war so glatt über den Kopf zurückgestrichen, daß es des Zöpfchens bedurfte, welches im Nacken ein Nest bildete, um zu erkennen, daß sie nicht kahlköpfig war.

Als Leo sein Begehren ausgesprochen hatte, rieb sie sich ein wenig das Näschen und verschwand dann in einer andern Thür. – Kein Laut wurde nun noch hörbar.

»So sieht der Friede aus,« dachte Leo, um sich schauend. Ihm war zu Mute, als stünde er an der Schwelle des gelobten Landes.

»Papa läßt bitten,« sagte die Kleine mit einem abermaligen Knickse.

Er trat ein.

Der Superintendent in langem, schwarzem Hausrock, auf der rechten Wange in roten Linien das Muster seines Schlummerkissens tragend, stand an der Thür, wischte seine Brillengläser und blinzelte ihm mit den kurzsichtigen Augen verschlafen entgegen. –

»Verzeihung,« sagte er freundlich, »ich habe soeben meine Mittagsruhe gehalten, und dabei ist mir die Brille beschlagen. So kann ich eben nicht recht erkennen, mit wem ich –«

Als Leo seinen Namen nannte, wurde das hagere, milde Gesicht noch um einen Schimmer freundlicher, ohne jedoch seine Ruhe zu verlieren. –

»Das ist eine wirkliche Ehre für mich, Herr von Sellenthin,« sagte er und lud ihn ein, auf dem rotgeblümten, steiflehnigen Sofa Platz zu nehmen, das bei Leos Niedersitzen einen Laut von sich gab wie ein getretener Hund, und von dessen Sprungfedern jede einzelne sich dem Gefühle unangenehm bemerkbar machte.

»Es gibt der Wege mancherlei,« fuhr der Seelsorger fort, »welche den Menschen zum Menschen führen: lassen Sie mich hoffen, daß der, auf welchem Sie kommen, ein gesegneter sei.« –

Er streckte Leo seine beiden Hände entgegen, die dieser voll dankbarer Wärme ergriff. –

»Sie werden es überraschend finden, Herr Superintendent –« sagte er.

»Verzeihung, lieber Herr von Sellenthin. – Im Gegenteil. – Ich möchte fast behaupten, ich hätte Sie erwartet.« –

»Wie das?« fragte Leo betroffen.

»Gibt es eben etwas Natürlicheres, als daß der Beichtende, der sein Gewissen den Händen eines unbekannten Menschen anvertraut, diesem, der so Großes verkündet und verspricht, auch eben menschlich näher treten möchte? Auch wir Protestanten, wiewohl wir eben das Institut eines Beichtvaters nicht kennen, möchten unser Seelenheil nicht gern in Bausch und Bogen abgehandelt sehen. – Jeder von uns hat eben seine Besonderheit, seinen Vorbehalt, – wenn's schlimm kommt, seinen Zweifel – und eben diese Gegenstände sind es, wenn ich mich nicht irre, über die mit mir zu reden Sie mich würdigen.« –

»Sie haben recht, Herr Superintendent,« erwiderte Leo in wachsendem Zutrauen.

»Und vorerst noch eins, mein werter Freund. Ich dränge mich eben nicht in das Vertrauen meiner' Beichtbrüder und verlange darum nicht, daß Sie mir pragmatisch mitteilen sollen, was eben im Grunde Ihr Herz bedrückt. Denn dergleichen ist schwierig und raubt beiden Teilen die Ruhe.«

»Das war auch nicht meine Absicht,« sagte Leo.

»Vorzüglich! Um so besser werden wir eben zum Ziele kommen.« –

Und mit einer maßvollen Handbewegung lud er Leo ein, sein Anliegen zu erklären.

»Sie haben vielleicht davon gehört, Herr Superintendent, daß ich mich für längere Zeit meiner Heimat entfremdet hatte,« begann Leo, unwillkürlich die trotz aller Schlichtheit so gewählte Ausdrucksweise des Kanzelredners adoptierend.

»Ich habe allerdings dunkel davon gehört,« erwiderte dieser voll Reserve. –

»Vier Jahre lang bin ich in aller Herren Ländern herumgestreift und habe wenig an mein Seelenheil gedacht. Nehmen wir an, Herr Superintendent, ich wäre während dieser Zeit den Sitten und Gewohnheiten meiner halbwilden Umgebung gefolgt, ohne mir etwas Schlimmes dabei zu denken –«

»Nehmen wir dieses an,« sagte der Superintendent.

»Und sähe nun, da ich in geordnete Verhältnisse zurückkehre, mit Schrecken ein, daß ich schwere Sündenschuld – sagen wir Blutschuld – auf mich geladen habe.«

Der Superintendent machte eine kleine, steife Verbeugung und strich sich freundlich das rasierte Kinn. – »Auch dieses angenommen,« ermunterte er.

»Versetzen Sie sich also in meine Lage. Das, was mir früher als etwas durchaus Legitimes erschienen war, womit ich mich längst in Ehren abgefunden glaubte, fängt an, mein Gewissen zu beunruhigen, – quält mich die Nächte hindurch, treibt mich bei Tage ruhelos umher, – macht mich schlaff, – schädigt meine Intelligenz, ja verunstaltet auch meinen Charakter, so daß ich kaum mehr der Schatten dessen bin, was ich vor kurzem war.«

Der Seelsorger nickte befriedigt, wie ein Arzt wohl thut, dem ein Kranker die Erscheinungen des Leidens, dessen Diagnose er im voraus gestellt hat, am Schnürchen herzählt.

»Und von diesen Uebeln suchen Sie Heilung?« fragte er.

»Ja.«

»Mein teurer Freund – eben diese Uebel sind die Heilung.«

Leo fühlte die dumpfe Wut in sich erwachen, die ihn jetzt so oft überfiel. Das kam schließlich auf dasselbe hinaus, was Brenckenberg ihm längst gepredigt hatte.

»Runzeln Sie nicht die Stirne, mein teurer Freund. Und hadern Sie nicht mit Gott, sondern falten Sie die Hände und preisen Sie seine Gnade, denn dadurch, daß er eben diesen Zustand in Ihnen erweckte, hat er den rechten Sauerteig in Ihr Herz gelegt, der Sie eben vorbereitet für die Segnungen, die er über Sie ausschütten will.«

»Welche Segnungen?«

»Die Segnungen seines Erbarmens, mein teurer Freund. – Wie können Sie fragen, da Sie eben bereits an der Schwelle des Heiles angelangt sind? – Wie der Blinde, den Gottes Engel geleitet, sind Sie eben ahnungslos dahergewandelt, und da Sie in der Irre zu gehen vermeinten, stehen Sie plötzlich vor der Heimatsthür. – Eine dunkle Stimme hat Sie zum Tische des Herrn getrieben – diese Stimme war eben die Stimme der göttlichen Gnade.«

Trost und Argwohn kämpften in Leos Seele. Auch störte ihn das immer wiederkehrende Wörtchen »eben«, das der Superintendent in alle seine Reden mischte. – Nach dessen Anwendung pflegte er eine kleine Pause zu machen, während welcher er einmal mit den Lippen schmatzte. Dadurch erhielt seine Redeweise, so mild und trostbringend sie sein mochte, den Anschein der Dürftigkeit und Trockenheit. – Aber nicht einen Augenblick verlor er die ruhige, bescheidene Wärme, mit welcher er Leos Vertrauen an sich gezogen hatte.

»Und darum, mein teurer Freund, darf ich Ihnen verkünden, daß morgen eben ein göttliches Wunder an Ihnen geschehen wird. In dem Augenblicke, da der heilige Kelch Ihre Lippen berühren wird, wird eben die Not, an der Sie leiden, hinweggespült sein, samt der Sünde, die Sie so eifrig bereuen. – Wäre diese Reue nicht, von der Sie mir berichtet haben, dann, ja dann könnte ich eben nicht so zuversichtlich zu Ihnen sprechen, aber nun darf ich Sie willkommen heißen als einen würdigen Gast, dessen Seele in weißen Kleidern zum Tische Gottes kam.«

Leo verbarg ein höhnisches Lächeln. – Wie ahnungslos das alles klang!

Dieser brave Mann, der in seiner gutmütigen Nüchternheit friedlich auf den blitzblanken Dielen seines Hauses einherwandelte, die sanften Kaffeedüfte einsog und sich allnachmittäglich die Backen auf dem perlgestickten Schlummerkissen rotdrückte, hatte die Höllen niemals ausgemessen, in deren tiefsten einer er selbst mit seinen Qualen rang.

Und dennoch – wie verheißungsreich, wie evangelienhaft war das, was sein Mund verkündete! – Einem Wiegenlied ähnelte es, das man einem weinenden Kinde singt.

Ein Wunder sollte geschehen. – Wahrlich, ein Wunder mußte geschehen, sonst gab es keine Rettung mehr. – Auf ein Wunder hatte er gelauert – ein Wunder ward ihm prophezeit.

Was konnte er Besseres verlangen?

Derweilen war das kleine, blaßblonde Töchterchen durch die Thür des Nebenzimmers getreten, schmiegte sich an des Vaters Knie und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr.

Er sah nach der Wanduhr, schmatzte leise mit den trockenen Lippen – es war, als wollte er »eben« sagen – und schüttelte lächelnd den Kopf.

Dann schien er sich eines Besseren zu besinnen.

»Oder,« wandte er sich an Leo, »wollen Sie meinem Hause die Ehre erweisen, in aller Ruhe ein Täßchen Kaffee mit mir zu trinken? Wir werden um so friedlicher zum Ziele kommen.«

Es wäre eine Kränkung gewesen, die Einladung abzulehnen, und zwei Minuten später brachte das Töchterchen mit sorgsam zusammengekniffenen Lippen ein porzellanenes Theebrett hereingetragen, von welchem der Kaffeeduft, der bis dahin wie ein ganz leiser Geleitston in den Lüften gezittert hatte, in voller Stärke daherkam.

Eine Frauenhand mit einem blanken Eheringe war an der Klinke sichtbar geworden: nun sie ihr Werk gethan hatte, wollte sie sich wieder zurückziehen, aber der Superintendent sagte: »Tritt näher, liebe Frau, damit ich dich mit unserm werten Gaste bekannt mache.«

Da erschien eine in Schwarz gekleidete Frauengestalt auf der Schwelle. – Hager und dennoch würdevoll, ernst und dennoch freundlich, streng und dennoch gutherzig, schien sie recht eigentlich dazu angethan, Frauenvereinen ohne Geziere zu präsidieren und den Ehrenplatz neben der Frau Landrätin mit ruhigem Selbstbewußtsein einzunehmen. – Ein schwarzes Häubchen, kaum mehr als thalergroß, bedeckte ihren Scheitel. Zwei breite Bänder wallten an den Ohren vorüber auf die Schultern herab, den Eindruck bescheidener Feierlichkeit, den ihre Erscheinung ausströmte, noch verstärkend.

Der Superintendent stellte vor. Sie reichte ihm schweigend die Hand, die grau und knochig war wie die einer Arbeiterin, und sich von Nadelstichen rissig anfühlte. – Man erzählte, daß diese Hand Segen in Fülle verbreitete auf Meilen hinaus.

»Seien Sie willkommen, Herr von Sellenthin,« sagte sie, steif mit dem Kopfe nickend, und zu ihrem Gatten gewandt fügte sie leiser hinzu: »Soll ich die Honigbüchse hereinschicken?«

»Schicke sie immerhin herein,« erwiderte er nach etlichem Nachdenken mit derselben ruhevollen Freundlichkeit, mit welcher er vorhin Leos Seelenheil behandelt hatte.

Die Herren blieben allein. Der Pfarrer bot Leo Zigarren – blonde, sehr helle Zigarren, die ein wenig kohlten – und zündete sich selbst eine lange Pfeife an.

Man sprach mit ruhiger Sachlichkeit über die Verhältnisse der Gegend, die diesjährige Ernte, den zunehmenden Pauperismus und die Sachsengängerei, die sich auch hier zu einem sozialen Uebel zu gestalten drohte.

So kam man auch auf die Gemeinde Wengern zu reden.

Der Superintendent lächelte.

»Ihr seliger Herr Vater,« sagte er, »hat da einen tollen Kauz in die Pfarre hineingesetzt. – Heute wäre das nicht mehr möglich, denn man übt eben von oben her das Bestätigungsrecht mit größerer Strenge aus als früher. – Ich will Ihnen gestehen, daß ich eben schon manchen Sturm von seinem Haupte abgewandt habe, denn das Konsistorium möchte gern mit ihm aufräumen. Ihn rettet eben nur seine Rechtgläubigkeit und die strenge Zucht, die er hält. Freilich, wüßte man nur die Hälfte von seinem Treiben, es wäre schon längst aus mit ihm.«

»Und Sie als sein Vorgesetzter?« fragte Leo.

»Ja, lieber Herr von Sellenthin … Wie soll ich das ausdrücken? – Es muß wohl in der Schwachheit des Menschenherzens liegen, daß man eben nicht kann wie man sollte. – Der Mann hat, glaub' ich, acht Kinder … Ich habe deren nur fünf. – Der strenge Petrus ist ja der Fels, auf dem die Kirche steht, aber es hat eben auch einen Johannes gegeben. Warum soll man sich nicht an den Johannes halten, solange man eben nicht selbst im Konsistorium sitzt? – –«

Leo drückte dem einfachen Manne dankbar die Hand.

»Und dann, sehen Sie, noch eins, Herr von Sellenthin. – In der Konferenz ist der Pfarrer Brenckenberg der einzige, der das hat, was wir eben auf der Universität ›Ideen‹ nannten. – Mit diesen sogenannten Ideen ist das eine seltsame Sache. – Als man jung war, hatte man deren in Haufen, dann werden sie immer seltener, und zuletzt weiß man eben gar nicht mehr, wie sie aussehen. – Begegnet man ihnen bei einem andern, so ärgern sie einen zuerst, aber schließlich kommt man eben dahinter, daß sie einem gut gethan haben. – Darum hab' ich ihn gern in unsrer Mitte. – Und noch ein andres, Herr von Sellenthin! … Ein Wahlspruch, den ich oft bewährt gefunden habe, und der vielleicht auch auf Ihren Fall passen möchte. – Selbiger lautet: ›Es ist das meiste eben nicht so schlimm, wie es aussieht.‹ … Sie wollen mich fragen: Wo bleiben die Todsünden? – Mein Gott, es gibt deren. – Sieben, sagen die Schriften. – In Wahrheit werden es siebenmal siebzig sein … Aber bedenken Sie die Hauptsache! – Wozu ist denn eben der Heiland am Kreuze gestorben, wenn wir Sünder nun noch verzweifeln wollten? … Entweder jener Tod ist uns eine Thorheit, was Gott verhüten möge – oder wir glauben daran und glauben ebenso an die Wunder, die er jeden Tag aufs neue wirkt und morgen eben auch an Ihnen wirken wird, mein teurer Freund.«

Und erfüllt von der Harmonie seiner Weltanschauung schüttelte er mit behaglichem Schwunge seine Tasse, damit die ungelösten Zuckerreste sich in dem Milchkaffee verteilen möchten.

Leo erhob sich, Abschied zu nehmen.

Dieser Mann – man mußte ihn gern haben – aber der Priester, den er brauchte, war er nicht.

Und er eilte davon, ohne Trost, wie er gekommen. Ihm war, als müßte er den Staub jener Friedensstätte von seinen Füßen schütteln, aber Staub gab es dort nicht. – – –

Auf dem Wege nach Uhlenfelde fuhr er in die regnerische Dämmerung hinaus.

Es war Nacht geworden, eh sein Wägelchen vor dem geschlossenen Hofthor Halt machte.

Sein Pferd platschte in einer Lache: die entlaubten Birken, welche den Weg umsäumten, schüttelten Tropfenschauer über ihn aus.

Er wollte absteigen, um die Glocke zu ziehen, aber in der Stumpfheit, die ihn überfallen hatte, blieb er willenlos sitzen und starrte vor sich hin.

Wie zwei schwarze Hunde, die sich auf den Hinterbeinen aufgerichtet haben, standen die Thorpfosten da und glotzten einander an … Rechts und links kam ein Stück der Mauer aus der Nacht hervorgekrochen, das übrige verbarg das Dunkel.

Nur von dem Schlosse her, aus dem Erker, hinter welchem Ulrichs Schreibtisch stand, schimmerte ein helles Lampenlicht … In gelblichen Strahlenbündeln glitt es an den nassen Stämmen des Parkes entlang, von denen spiegelnde Flächen aus der Nacht hervortraten – es schien sich einen Weg zu dem Platze hin bahnen zu wollen, an welchem er zögernd verharrte … Aber der Schein wurde schwächer und schwächer, je weiter er vordrang, er vermochte nicht, die Nacht zu bezwingen, die Finsternis verschluckte ihn.

Leo schüttelte fröstelnd den durchnäßten Körper.

»Dort ist der Priester, den ich brauche,« dachte er, »der einzige auf Erden, der mich erretten kann.«

Aber was halfen die ohnmächtigen Wünsche? Mit zusammengebissenen Lippen wird er vor ihm stehen, heute wie immer, wird den Blick voll Scheu an den Wänden herumwandern lassen und, gemartert von Angst und Verlangen, nach der Thür hinhorchen, ob kein schlürfender, gleitender Schritt auf dem Korridor sich nähere, um ihm die Not zu versüßen und die Hoffnung zu verscheuchen.

Was sollte er hier am heutigen Tage der Einkehr, da er doch nicht büßen und bekennen durfte?

Seine Peitsche knallte … Das Pferd stampfte kehrend in dem aufspritzenden Wasser, das die Räder kreischend durchwühlten … Einen letzten Blick voll ohnmächtiger Wut und dumpfer Sehnsucht sandte er nach dem friedlichen Lichte, das, wie alles auf Erden, ihm nur als Vorwurf galt. Dann floh er auf demselben Wege wieder von dannen, auf dem er in zager Hoffnung dahergefahren war.

*

Der Morgen kam.

Der Regen hatte aufgehört … Ein fahler Sonnenschein zerriß ab und zu für etliche Momente die wandernden Wolkenballen und schlich dann wie übermüdet von dieser Kraftanstrengung auf den gelben Ebenen dahin, ließ die Lachen erglänzen und warf eine Art von Laternenlicht auf die sprenkligen Wände der Waldränder.

Wie am Tage vorher, so fuhr Leo auch heute in seinem Wägelchen allein zur Kirche – diesmal den Seinen voraus, da er sich durch Johannas Anblick nicht erst die Stimmung zu verderben wünschte.

In seiner Seele wogte es von frommen Plänen und freudigen Entschlüssen. Von dem alten Kinderglauben war ein frohlockender Schimmer wieder in ihm erwacht. Vor Gottes Throne wollte er die alte Sünde demütig niederlegen und in stiller Dankbarkeit die Entsühnung empfangen, die der Herr für ihn bereit hielt.

Die gierige Wildheit seiner gestrigen Stimmung that ihm weh. Er hatte sich das Heil mit scheuem Diebesgriff erraffen, den Segen des Himmels verbissenen Sinnes ertrotzen wollen – heute nahte das alles gleichsam ungebeten: der Novemberwind hauchte ihm wie ein göttlicher Odem gegen die heiße Stirn, und der fahle Sonnenschein schüttete goldene Reichtümer über ihn aus.

»So beginnt gewiß das Wunder zu wirken,« dachte er.

Aber zu unterst in seinem Herzen kauerte schweigend die alte Angst und wollte nicht weichen – die Angst, ihr zu begegnen.

Ja, hätte er allein den Weg zum heiligen Tische gehen dürfen! … Doch überall, wohin er sich wandte, war ja auch sie … Vor ihr gab es kein Entrinnen, Wie zwischen ihm und dem Freunde, so stand sie zwischen ihm und Gott.

Dicht vor seinem Wägelchen bog die Uhlenfelder Karosse auf den Kirchenplatz ein.

Die schwarzverhüllte, holdselige Kreatur, die sich dort mit zierlichem Schwunge vom Trittbrett zur Erde niederließ, das war sie … Zwischen diesen seinen Riesenhänden hätte er sie zermalmen können – wie man ein Wachskügelchen zermalmt. Er brauchte nur zuzudrücken – und er that es, mit den Nägeln tief in sein Fleisch eingreifend.

Ulrich, ein wenig gelber als sonst, mit glänzenderen Augen als sonst, näherte sich ihm auf seinen Storchenbeinen.

»Du hast mich gestern im Stich gelassen,« sagte er mit sanftem Vorwurf.

»Es war zu spät geworden,« entschuldigte Leo. »Ich fürchtete, mit dem Wagen nicht mehr über die Fähre zu kommen.«

»Schade!« erwiderte Ulrich, »du hast mir sehr gefehlt.«

»Gab es etwas Besonderes?«

»Ich brauchte einen Beichtvater,« sagte Ulrich lächelnd.

»Und ich erst!« dachte Leo, die Zähne zusammenbeißend, und schielte derweilen nach Felicitas hinüber, die hinter dem Wagen ihre Schleier und Flore zurechtzupfte und eines Spiegels sehr zu bedürfen schien.

»Heut will sie den Herrgott ködern,« dachte er weiter und fühlte in seinen wutbebenden Gliedern, wie er sie haßte.

Dann trat er auf sie zu, um ihr die Hand zu reichen.

Hinter dem Doppelschleier hervor blickte ihr Auge thränengetränkt in süßem Flehen ihn an. Ihre Hand preßte zweimal zuckend die seine. Das war das Freimaurerzeichen alter Sünde, das er mit Grauen empfand.

Nach wenigen Minuten kamen die Seinen dahergefahren. Alle in Schwarz. Mama zog vor lauter Frömmigkeit die Lippen spitz. Elly, die ihr heute auffallend ähnelte, that desgleichen.

»Wir fasten alle,« flüsterte sie voll Stolz zu Leo empor. – Hertha war sehr bleich und blickte sorgfältig an ihm vorbei. Johanna, die erschreckend alt aussah, trat plötzlich auf ihn zu und bat ihn um seinen Arm.

Verwundert willfahrte er ihr, denn das war seit seiner Rückkehr nicht mehr geschehen.

»Dieser Abendmahlsgang ist mein Werk, Leo,« sagte sie leise.

»Ich hab's mir gedacht,« erwiderte er.

»Und weißt du, was ich damit bezwecke?«

»Kann's mir denken.«

»Er soll vor allem uns beiden die Versöhnung bringen.«

»Und was noch?«

»Fühlst du nicht selber, was noch?«

Ihre Blicke trafen sich in bitterer Feindseligkeit.

»Leo!«

»Was wünschest du?«

»Ist es nicht gut so, wie es ist?«

»Vortrefflich ist es – bildschön ist es – hahaha!«

Die Voranschreitenden sahen sich um. Das grelle Auflachen paßte nicht in die Abendmahlsstimmung.

Vor der Sakristeithür ließ er den Arm der Schwester los und vermied es, ihr ferner zu begegnen.

Der Superintendent saß hinter dem Amtstische und studierte friedlich seine Predigt.

Leo trat grüßend an ihn heran. – Da ergriff er mit einem stillen Schmunzeln verstohlen seine beiden Hände, als wollte er sagen:

»Wir beide, wir wissen schon.«

»Ja, wenn du wüßtest,« dachte Leo in aufquellendem Hohne und sah sich scheu nach einem Ausweg um, denn inzwischen manövrierte das süße, bleiche, unselige Weib dort ohne Aufhören, um an seine Seite zu kommen. – Wie waren Sammlung und Andacht möglich, solange jener weiße, runde Hals mit dem Doppelfältchen sich in beklommener Sehnsucht nach ihm aufreckte?

In der Kirche saßen sie nun wieder beisammen wie am vorigen Tage. – In der ersten Reihe Leo neben Elly und der Mutter – dahinter Ulrich mit Felicitas, während Johanna und Hertha sich auf die dritte Bank zurückgezogen hatten.

Die Kirche war gefüllt bis auf den letzten Platz. Auf dem Altar, einem prunklosen, mit rotem Tuch umspannten Tische, brannten in den Leuchterhälsen die Wachskerzen wie allemal an Abendmahlstagen. – Das Schiff mit seinen grauen Chören und Emporen, seinen matt bemalten Holzpilastern und der leeren, weißgetünchten Decke umspannte in kahler Weiträumigkeit den schwarzen Haufen trauriger Menschen, die sich reihenweise aneinander drückten. – Nur die buntglasigen Fenster machten einen schüchternen Versuch, Farbe und Stimmung in dieses trüb-graue Einerlei zu bringen, und über dem Bogen der Altarnische leuchteten heller noch die vielverheißenden Worte: »Friede sei mit euch.«

Frieden, Frieden um jeden Preis!

Doch der war ferner denn je.

Hetzend und stechend drang das Gefühl ihrer Nähe ihm durch alle Poren.

Und während die Predigt verrann – ein wirrer Klang im wirren Ohr – saß er mit krummem Rücken über der Tischleiste zusammengekauert und haschte nach Beziehungen, die er nicht zu fassen vermochte, selbst wo sein schweifender Argwohn sie witterte.

Er schämte sich.

Stolze Erinnerungen zuckten ihm durch das Hirn. Er sah sich auf frisch gebändigtem Mustang durch die Prairien sausen, er hörte sein tolles Saufgelächter, wenn er mit geöffnetem Brustlatz inmitten trunkener Genossen am Lagerfeuer die Nacht durchwachte, er roch den gärenden Schlammdunst gewaltiger Ströme, die er auf dem Rücken seines Pferdes durchschwamm.

Ueber jenem Leben hatte ein andrer Wahlspruch geleuchtet: »Nichts bereuen!« schrieb damals ein lachender Sonnenstrahl ihm in das Herz. »Nichts bereuen!« jubelten die Stürme und kreischten die Dirnen – jedes in seiner Sprache.

Und jetzt?

An den bleiernen Einfassungen der Kirchenfenster kratzte bescheiden der Herbstwind. – Das gab eine kläglich winselnde Musik, fast wie ein Reuegewimmer. – Und wenn ein falber Sonnenschein sich in das Kirchenschiff verirrte, so zeigte er mit schulmeisterlichem Finger nach der Kirchhofsbelohnung, die da hieß: »Friede sei mit euch.«

Er reckte seine Fäuste und stemmte sie gegen die Rückwand, da hörte er hinter sich, keinen Fuß weit von seinem Ohre entfernt, ein leises, süßes, bittendes Weinen – so wie nur Kinder und verliebte Weiber weinen.

Er schauerte zusammen.

Ein sinnloses Mitleid, über das er sich ärgerte, während es ihn mit lauen Wellen übergoß, drängte ihn nach ihr hin. – Viel fehlte nicht, so hätte er sich umgewandt, um ihr ein Trostwort zuzuraunen.

Da hörte er Ulrichs mild ermahnende Stimme: »Nimm dich zusammen, liebes Kind!«

Und diese Stimme bändigte ihn und ließ ihn erstarren.

Aber das Weinen dauerte fort … Weich und schmeichelnd wie eine zärtlich tastende Frage umstrich es seine Seele.

»Laß mich in Ruh!« schrie es in ihm, »laß mich allein mit meinem Gott.«

Aber sie war da und blieb da und sog mit ihrem Schluchzen Sammlung und Kraft aus seinem Herzen. –

»Leo!« hörte er das mahnende Geflüster der Mutter neben sich.

»Was gibt's?«

»Steh auf! Das Bittgebet.«

Verstört fuhr er empor. Von der Kanzel her erklang die Stimme des Superintendenten in einem matten Singeton:

»Jesu, wahres Brot des Lebens,
Gib doch, daß wir nicht vergebens
Oder gar für uns zum Schaden
Sei'n zu deinem Tisch geladen.«

»Will's hoffen,« dachte Leo, und eine wilde Angst vor der eigenen Unwürdigkeit stieg jäh in ihm empor.

Der Gottesdienst war beendet. Den Ausgängen der Kirche zu ergoß sich der Strom der Gläubigen … Nur die Abendmahlsgänger waren auf ihren Plätzen geblieben.

Felicitas hatte das Haupt ganz auf ihr Gebetbuch herabgeneigt. Unter der schwarzen Crêpeschleife gleißte mit verstohlenen Lichtern das goldige Stirnhaar … Ulrich schien in tiefes Sinnen versunken … Als er Leos Blick auf sich gerichtet sah, verklärte sich sein Gesicht … Er blinzelte zweimal mit den kurzen, müden Lidern. Ein Lichtschwall voll von Liebe und Vertrauen brach darunter hervor.

Die Kirche hatte sich geleert. Der Superintendent, der von neuem vor dem Altar erschienen war, sprach sein Einladungsgebet, indem er ein großes, dünnes Buch zwischen den beiden Händen hin und her gleiten ließ.

Dann hob er die dreieckig gefältete Serviette von dem heiligen Tischzeug, das auf der rechten Ecke des Altars aufgestellt war.

Man stand auf, zum Tische des Herrn zu treten.

Den Altar umgab eine mit verschossenem rotem Tuch bekleidete Balustrade, an deren Fuße eine Betbank sich entlang zog.

Leo – ohne aufzuschauen – hatte der Mutter den Arm geboten und schritt mit ihr, die Elly auf der andern Seite führte, die Stufen zum Altarchore hinan.

Dicht hinter ihm folgten Ulrich und seine Gattin.

Johanna und ihr Stiefkind blieben etliche Schritte zurück. – Hertha biß in ihren Schleier – ihre Hand umklammerte den Arm der Mutter. – Auf der untersten Stufe strauchelte sie und wäre beinahe gefallen.

Man kniete auf der Betbank nieder. Zu Leos Linken blieben zwei Plätze leer. Ulrich wollte die Stelle an seiner Seite einnehmen, da schob sich im letzten Augenblicke Felicitas, den Arm ihres Mannes loslassend, zwischen sie beide.

Leo fühlte ein heißes Erschrecken … Ihm war, als müßte er aufspringen und von dannen eilen, allein das ging nicht an.

Nicht einmal zur Seite rücken durfte er und mußte es ruhig geschehen lassen, daß der Wurf ihrer Röcke ihn überrieselte, daß ihr Oberarm sich warm an den seinen schmiegte.

Sie hatte erreicht, was sie wollte. Sie kniete an seiner Seite, um Vergebung bettelnd, vor Gottes Thron.

Der Geistliche begann mit dem Hostiengefäß die Runde zu machen.

»Nehmet hin – und esset – das ist mein Leib.«

Zwei magere, endlos scheinende Finger mit einem blitzenden Ehering schoben sich vor Leos Mund … Er empfing das heilige Brot und dachte: »Das wenigstens teil' ich nicht mit ihr.«

Der Geistliche setzte seinen Rundgang fort, beim Ueberreichen jeder Oblate das Stück eines Satzes vor sich hinsprechend: »Der für euch – gegeben wird. – Solches thut zu meinem Gedächtnis.«

Und da zu gleicher Zeit wohl fünfzehn Menschen rings um den Altar knieten, begann er von neuem die Formel: »Nehmet hin – und esset – das ist mein Leib« –

Leo starrte das silbergestickte Kreuz an, das die Mitte der Altardecke füllte. Er hätte die Fäden zählen mögen, so nahe erschien es ihm. An seinen, unteren Ende lag etwas wie ein Fettfleck, den Glanz der Stickerei verdunkelnd.

»Vielleicht ist es auch Blut,« dachte Leo.

Der Arm, der sich an den seinen preßte, erzitterte. Es war, als verlangte er nach einem Gegengruß.

Da griff der Geistliche nach dem Kelche und hob ihn hoch empor.

Ein Sonnenstrahl, der durch die bunten Fenster brach, spiegelte sich in seinem goldenen Leibe. – Eine bläuliche Flamme schien von ihm auszugehen.

»Nehmet hin und trinket« –

Der Kelch neigte sich zu Ulrichs Munde.

»Das ist mein Blut« –

Nun war es Felicitas, die da trank.

»Sie trinkt auch mein Blut« – dachte er.

Mit leichtem Schwunge wurde der Kelch zurückgezogen und näherte sich seinem Munde.

Eine dunkle Höhlung verdeckte seinen Blick. Der scharfe Rand, der gegen seine Zähne stieß war noch warm von den Lippen, die soeben auf ihm geruht hatten.

Der laue Wein goß sich in seinen Mund.

Er schauderte und verschluckte sich.

Wie ein Blitzstrahl fuhr es auf ihn nieder … Verworfen war er von Gott dem Herrn – ausgestoßen aus der Gemeinschaft aller Reinen, – gerichtet und verdammt: er hatte im heiligen Blute nur ihre Küsse getrunken.


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