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XXVII.

Im Pfarrhause fand der hereinbrechende Winter alles beim alten.

Dem Kandidaten war es trotz mannigfacher Eroberungszüge nicht gelungen, das Geld für die Fortsetzung seiner Studien aufzutreiben. Darum bereitete er sich in Ruhe darauf vor, das kommende Wintersemester im Elternhause zu verleben.

Er beschloß, die reichlichen Mußestunden, welche die nächste Zeit versprach, zu einer endgültigen Beschlußfassung über den künftigen Lebensweg zu verwenden und sodann ein epochemachendes Werk zu schreiben, das ihn auf den Gipfel der Berühmtheit zu heben im stande war. – Dasselbe sollte, wenn möglich, einen wissenschaftlichen Charakter tragen und den wirr umherwogenden Ideen der modernen Zeit Gestalt und Richtung geben.

Auch die staatsmännische Carriere lag offen da. Man setzte sich auf die Hosen und schrieb einige reformatorische Broschüren über die Prostitution oder die Duellfrage oder das Judentum auf der Universität – kurz, über Materien, die man beherrschte, ließ sich daraufhin in den Reichstag wählen: – und zeigte das Ministerium sich noch immer nicht willig, mit einer Anstellung herauszurücken, so begann man ihm Opposition zu machen, – nicht jene hämische Kastratenopposition des untergehenden Liberalismus, nein, jenen flammenden Lassalleschen Widerstand, welcher den Stempel des Genius auf der Stirne trägt und daneben zu Liebesabenteuern Zeit läßt.

Alles in allem: Oswald Stein hatte es leichter gehabt. – Damals wußte man als Stürmer und Dränger, was man mit sich beginnen sollte. Man ging auf die Barrikaden, bahnte der Freiheit eine Gasse und ließ sich dabei von den Schergen der Tyrannen niedermetzeln … Aber seit siebzig gab es keine Tyrannen. Auch machte man keine Revolutionen mehr. Das war nicht gentlemanlike und durchaus unmodern.

Den einzigen Trost in diesem Chaos schwankender Gefühle bot die Liebe dar.

Denn Kurt liebte und wurde geliebt.

Dies beseligende Bewußtsein war ihm geworden durch ein goldberändertes Briefchen, mit einer Rosenknospe zugeklebt, wie sie in den Papeterien sehr junger Damen zu Hause ist. – Es war eines Tages gegen Ende September durch den Gänsejungen des Vorwerks abgegeben worden und hatte folgendermaßen gelautet:

Lieber Herr Kandidat!

Das Lied von den lächelnden Sternen, welches Sie mir gewidmet haben, ist ganz reizend. Aber leider hat mein Bruder es mir fortgenommen, noch ehe es in meine Hände gekommen ist. Vor meinem Bruder möchte ich Sie überhaupt warnen, denn er ist sehr böse auf Sie. Und ich fürchte sogar, er wird Sie fordern. – Das wäre zu entsetzlich, davon würde ich den Tod haben. Ich bitte Sie darum, mir keine Gedichte mehr zu schicken, wenn sie auch noch so schön sind, oder wenn Sie mir doch welche schicken wollen, bitte ich Sie, dieselben nicht nach Halewitz zu senden. – Aber auf dem Wege zwischen Halewitz und Wengern sind mehrere Steine, welche mit Ziffern bezeichnet sind und zur Vermessung dienen. Derjenige Stein, welchen ich meine, trägt die Ziffer 2,4. Hinter diesem Stein bitte ich Sie das Gedicht in die Erde zu graben und zum Zeichen, daß Sie es vergraben haben, zwei kleine Aestchen in Form eines Kreuzes vor dem Stein in die Erde zu stecken. Dann weiß ich es schon, wenn ich vorüberkomme. Und ich bitte Sie, dieses Geheimnis mit in das Grab zu nehmen, denn ich bin auf das strengste bewacht. Selbst Hertha paßt immer auf, was ich thue. Ach, es ist zu furchtbar! Es grüßt Sie hochachtungsvoll ergebenst

Ihre

E. v. S.

P. S. Ach, bitte, recht bald.

Von diesem Tage an hatte sich zwischen Elly und dem Kandidaten ein lebhafter Briefwechsel entwickelt, der teils in Versen, teils in Prosa geführt wurde und an Inbrunst und Feuer alsbald nichts zu wünschen übrig ließ.

Kurts Selbstbewußtsein fühlte sich dadurch aufs mächtigste gehoben.

Oswald Stein hatte nun nichts mehr vor ihm voraus. Falls Melitta – oder vielmehr Felicitas – in ihrem Schmollen verharrte, so blieb ihm wenigstens die kleine, blonde Kröte – wie hieß sie doch gleich? – die so toll hinter Oswald her war und die im vorliegenden Falle auf den Namen »Elly« hörte. –

Deren verliebtes Geschreibsel bot Zeitvertreib genug. Es wechselte zwischen poetischen Ergüssen, wie man sie in Gedichtbüchern findet, und drolligen Ausbrüchen der Herzensangst. »Myrtenhaine,« »Nachtigallenlieder« und »lichtere Sphären« waren nicht weniger darin zu finden, wie Gewissensqual, Selbstmord und Verzweiflung. Zweimal schon hatte sie ihn angefleht, dem Briefwechsel ein Ende zu machen, sie frei zu geben und dergleichen, – aber schließlich hatte sich immer wieder eine neue Botschaft hinter dem Steine vorgefunden.

Kurt hatte reichlich zu thun, um zu trösten, zu beruhigen und auf die sonnigen Zeiten dereinstiger Vereinigung hinzuweisen.

Im Ernste freilich glaubte er nicht daran. Daß der rohe Krautjunker ihm das kaum erblühte Schwesterlein nicht gutwillig in den Arm legen würde, war selbstverständlich, sich aber mit einer hoffnungslosen Brautschaft zu behängen, ziemte sich nicht für einen Mann von seinem Talent und seiner Zukunft. Es gab der Schwierigkeiten schon ohnehin genug. –

Der Vater, dem wohl von irgend jemandem ein Floh ins Ohr gesetzt sein mochte, begann das beschauliche Dasein seines Sohnes mit scheelen Augen anzusehen, – und die zarten Andeutungen, betreffend die »Lilien auf dem Felde« und den »unerschöpflichen Suppenlöffel«, mehrten sich in unbehaglicher Weise.

Eines Tages, um die Mitte des Monats Oktober, platzte die Bombe. –

Kurt, der bis elf Uhr geruht hatte und kurz vor dem Mittagessen einen kleinen Imbiß zu sich nahm – bestehend aus Schinken, Spickaal, kaltem Kalbsbraten, kalten Bratkartoffeln, kaltem Rührei und allerhand sonstigen kalten Sachen, die man im Speiseschrank bei flüchtiger Durchsicht wohl findet – sah sich in seinem Geschäfte plötzlich von dem Alten gestört, der ihm die Hand auf die Gabel legte und ihn fragte, ob er es zeitlebens als seinen Beruf betrachten wolle, alle noch irgend genießbaren Reste des Hauses wegzuessen. –

Kurt nahm die Miene eines beleidigten Fürsten an. »Der Mensch muß leben,« erwiderte er mit seiner ganzen Vornehmheit, »oder willst du mir damit etwa andeuten – –?«

»Komm mal mit ins Studierzimmer,« unterbrach ihn der Alte.

»Bitte,« sagte Kurt, sich den Mund wischend, »du bist mein Vater. Du hast zu befehlen.« – Und er winkte ihm mit der Hand, zum Zeichen, daß er ihm gerne den Vortritt lasse.

»Wir wollen mal deutsch miteinander reden, mein Jungchen,« begann der Alte, sich in seinem zerrissenen Polsterstuhle niederlassend, »du bist der verfluchteste Bengel, der mir mein Lebtag vorgekommen ist … Du säufst wie ein Loch, schwadronierst wie ein Mistfink und renommierst wie 'ne Flaggenstange … Das ist alles sehr schön und gut und du gefällst mir ausnehmend … Aber meinst du, daß du so in infinitum weiterbummeln kannst?«

Kurt bezwang mühsam seine Entrüstung. »Ich verstehe nicht, Vater,« sagte er, »wie du so etwas bummeln nennen kannst? Solche Zeiten scheinbar thatenlosen Wachsens und Gedeihens sind uns Menschen ebenso vonnöten wie der Saat der Winterschlaf. Während ich scheinbar faulenze, arbeite ich unaufhörlich an meiner Individualität. Ich bilde mein Menschentum heraus. Ich lasse meine Persönlichkeit ausreifen. – Das gilt mehr, als alle Buchgelehrsamkeit.«

»So ist's recht, mein Sohn,« erwiderte der Alte, »laß dich nicht verblüffen. Nur hübsch frech: das übrige findet sich. Aber ich will dir mal was sagen: die Welt ist groß. Reife gefälligst deine Persönlichkeit wo anders aus, suche dir einen andern Trockenplatz für deine feuchten Ohren.«

»Aber mit Vergnügen, Papa!« erwiderte Kurt, »sobald ich nur das nötige Kleingeld habe.« –

»Hättest du das Honorar, das dir der Baron von Kletzingk vor zwei Monaten gab, nicht sofort verjucht, du Schlingel, so würdest du jetzt für das halbe Semester zu leben haben. Du weißt, von mir hast du keinen Groschen zu erwarten. Sieh zu, wo du das Geld herkriegst, aber in acht Tagen wirst du das Feld geräumt haben.« –

»Es ist gut,« erwiderte Kurt mit Würde, indem er sich erhob, »mein Urteil ist gesprochen, ich werde also auf der Landstraße zu Grunde gehen. – Wie schade nur, daß gerade jetzt, wo meine Natur einen neuen großen Aufschwung nimmt, wo ich ungeahnte Quellen von Energie in meinem Innern fühle … gut … reden wir nicht mehr davon. Das Vaterhaus verschließt seine Pforten vor mir – und mit Recht. Deine Langmut ist grenzenlos gewesen, Vater … Ich danke dir … Ich werde sofort versuchen, mir einiges Geld zu besorgen. Lebe wohl.« –

Und er ging.

Mit einem Kopfschütteln sah der Alte hinter ihm drein. »Was für ein Schlingel!« sagte er voll Bewunderung. »Ich bin genau so gewesen.« –

Von Bitterkeit erfüllt, schritt Kurt zum Giebelzimmer empor und legte sich zuerst ein wenig übers Bett, um daselbst über seine Lage nachzudenken und gleichzeitig das Mittagessen abzuwarten. –

Es gab gebackenen Schinken mit Klößen, ein Gericht, das man in keiner Universitätsstadt so vorzüglich zuzubereiten verstand, wie im Elternhause. – Schade nur, daß der Schinken bald ein Ende nahm, und daß der Vater erklärte, man werde demnächst einen Esser weniger bei Tische haben!

Nachdem Kurt ein wenig geruht hatte, begab er sich auf den Weg nach den umliegenden Gütern, um daselbst wegen der nötigen Gelder Nachfrage zu halten. –

»Wie brutal,« dachte er, »ist doch das menschliche Leben, daß man sich durch elende Geldsorgen aus seinen Träumen aufscheuchen lassen muß.« –

Und während er auf der regendurchweichten Landstraße dahinschritt, wurde er sich immer mehr darüber klar, daß der Pessimismus als die einzig menschenwürdige Lebensanschauung zu betrachten sei.

Er beschloß, seine Ansichten in einem großen Werke niederzulegen, welches entweder in der Form des »Childe Harold« oder der »Philosophie des Unbewußten« gehalten sein sollte. –

Am Himmel rasten die grauen Wolken dahin, die Winde pfiffen über den Sturzacker – Raben flatterten unheilkrächzend über Düngerhügeln. Alles war groß und düster wie die Stimmung seiner Seele.

Der Erfolg des heutigen Kriegszuges bestand in einem Zehnmarkstück – entliehen von einem aus Ellernthal neuangestellten Inspektor – einem gleichfalls entliehenen Zolaschen Romane und einem Katzenjammer.

Der zweite Tag brachte nicht mehr, und am dritten wurde er sich klar, daß sein Kredit auf zehn Meilen in der Runde bis zur Neige erschöpft war.

Da übermannte ihn die Trostlosigkeit so ganz, daß er beschloß, sich demnächst das Leben zu nehmen.

An demselben Tage erhielt er ein goldgerändertes Briefchen, welches mit Ellys Botschaften eine gewisse Familienähnlichkeit aufwies, nur daß die Rosenknospe fehlte.

Die Unterschrift lautete: Hertha von Prachwitz.

»Sollte auch sie –?« dachte er, und ein unnennbares Glücksgefühl durchströmte seine Adern.

Hertha begehrte in einer dringenden Angelegenheit ihn zehn Minuten lang zu sprechen, und bestimmte als Ort des Rendezvous den herrschaftlichen Kirchhof zu Wengern, als Zeit die sechste Abendstunde.

»Diese dringenden Angelegenheiten kennt man,« dachte er und drehte lächelnd seinen Schnurrbart. – Wie dem auch sein mochte, wer von Komtessen zum Stelldichein geladen wird, mit dem kann es gar so schlimm noch nicht bestellt sein. –

Um etwaige Späherblicke über seine Spur zu täuschen, trat er gegen Abend einen längeren Spaziergang an, von dem er unbemerkt zurückzukehren suchte, denn der Kirchhof lag nur wenige Schritte vom Pfarrhause entfernt.

Als er mit dem sechsten Glockenschlage um den Kirchengiebel bog, sah er in der späten Dämmerung Herthas Gestalt dunkel auf einem Grabstein hocken.

Sein Herz schlug ungestüm in wonniger Verheißung: den Hut in der Hand, trat er an sie heran. – Welch ein faszinierender Reiz muß meiner Persönlichkeit innewohnen, dachte er, wenn sie selbst diesen hochmütigen Racker unterzukriegen vermag.

Hertha schoß in die Höhe. Sie trug ihren alten, grauen Regenmantel und hatte dessen Kapuze über den Kopf gestreift und unter dem Kinn zusammengebunden.

Sie war in arger Aufregung. Ihre Hände umklammerten das Grabgitter. Ihre Augen blitzten durch das Dunkel.

»Sie werden diesen Schritt befremdlich finden, Herr Kandidat,« sagte sie, und ihre Stimme zitterte.

»O, nicht im mindesten!« versicherte er mit einer galanten Verbeugung.

»Für gewöhnlich,« fuhr sie fort, »geben sich junge Mädchen, wie ich, keine Rendezvous mit Leuten –«

Sie stockte. Es lag etwas in ihrem Tone, was ihn stutzig machte. Fast schien es, als hätte sie sagen wollen: »Mit Leuten Ihres Schlages.«

»Na warte,« dachte er, »dich werd' ich schon klein kriegen.«

»Aber die Dummheiten, zu denen Sie meine Cousine verleitet haben,« fuhr sie fort, »zwingen mich, mal ein sehr ernstes Wort mit Ihnen zu reden.«

Kurt hatte die Empfindung eines kalten Wassersturzes. – Darauf also lief's hinaus: Elly hatte geschwätzt, und Hertha, ob eifersüchtig oder nicht, versuchte ihm Schwierigkeiten in den Weg zu legen.

»Verzeihung, Komteß!« sagte er, indem er mit Würde und Nachsicht die Hand gegen sie erhob. »Dies sind Dinge durchaus intimer Natur. Ich weiß nicht, wie weit und durch welche Mittel Sie die Vertraute Ihres Fräulein Cousine geworden sind, ich selbst schmeichle mir leider nicht, Ihr Vertrauen zu besitzen, und daher gestatten Sie –«

Er lüftete den Hut, als wollte er der Unterredung ein Ende machen.

»Hören Sie mal, Herr Kandidat,« sagte Hertha, und der Zorn sprühte ihr aus den Augen, »wenn Sie mir so kommen, geht's Ihnen schlecht.«

»Sie belieben in Rätseln zu sprechen,« erwiderte er mit einem Lächeln.

»Ich werd' mich so deutlich ausdrücken, daß Sie Ihr Vergnügen daran haben sollen,« sagte Hertha, »Ich bin hierhergelaufen – heimlich und unter großen Gefahren – und Sie wollen mich stehen lassen, wie einen dummen Jungen? – Das probieren Sie gefälligst nicht wieder.«

Er bat als Kavalier um Vergebung und wartete der Dinge, die da kommen sollten.

»Also, was wollen Sie eigentlich von meiner Cousine?« fragte Hertha, indem sie ihn vom Wirbel bis zur Zehe maß.

»Ich liebe Fräulein Elly!« entgegnete er, »und werde jeden zerschmettern, der sich dieser Liebe in den Weg stellt …«

»Herr Kandidat, bitte, seien Sie doch nicht so frech,« erwiderte Hertha: »es glaubt Ihnen ja doch keiner.«

»O, man wird schon lernen, mir zu glauben,« sagte er. »Wenn zwei junge Herzen sich lieben, wer will es dann wagen, sie zu trennen?«

Hertha zuckte die Achseln. »Elly liebt Sie ja gar nicht, Herr Kandidat,« sagte sie.

»Nun, da hätte ich wohl Beweise vom Gegenteil,« erwiderte er mit einer höflichen Verneigung.

»Ach, Sie meinen wegen der dummen Briefe?« fragte Hertha. »Hätte sie nur nicht hinter meinem Rücken damit angefangen, ich würde Ihnen schon längst Bescheid gesagt haben. Aber gestern ist sie gekommen und hat mich angefleht: ›Errette mich, errette mich!‹ Und ich werde sie erretten, Herr Kandidat, und wenn es mein Leben kostet.«

»Ja, wovor denn, wenn ich fragen darf, Komteß?«

»Vor Ihnen, Herr Kandidat! Denn sie hat Sie gebeten, mehr als einmal: ›Lassen Sie mich in Ruh – ich hab' Angst vor Ihnen‹ … Aber Sie haben nicht nachgelassen, sie mit Ihren verrückten Briefen zu bombardieren. Und Versen und allerhand Redensarten. Und die Verse haben Sie gar nicht mal selbst gemacht, und die Redensarten sind gelogen. So, da haben Sie meine Meinung, Herr Kandidat.«

Kurt biß sich auf den Schnurrbart. Eine zwiefache Niederlage erschien drohend am Horizont. Aber so leicht gab er die Schlacht nicht verloren.

»Meine gute Lebensart verbietet mir,« entgegnete er, »einer Dame in ähnlichem Tone zu antworten, wie Sie ihn mir gegenüber anzuwenden beliebten. Aber gestatten Sie mir die Frage: Wenn Ihr Fräulein Cousine mich so verabscheuenswert und meine Briefe so verrückt gefunden hat, warum hat sie sich herabgelassen, mich zu einem Briefwechsel einzuladen, und warum hat sie bis zum heutigen Tage nicht verschmäht, mir zu antworten?«

Hertha biß sich auf die Lippen. Ellys Dummheiten zu verteidigen, war keine leichte Ausgabe.

Ein Schweigen entstand. – Der Herbstwind wühlte in den Lärchenkronen. Feine, zarte Regenschauer kamen prickelnd mit jedem Stoße dahergezogen.

Hertha kam sich unsäglich dumm und albern vor. – Am liebsten hätte sie dem jungen Herrn, der in geziertlässiger Haltung sich vor ihr blähte und krampfhaft bemüht war, den vollendeten Kavalier zu spielen, ihre Reitgerte um die Ohren geschlagen, aber die war nicht zur Hand und hätte wohl auch kaum die geeigneten Dienste gethan.

»Sie antworten mir nicht?« fragte triumphierend Kurt Brenckenberg. »Ich werde mir erlauben, daraus meine Folgerungen zu ziehen.«

»Ach Gott, Herr Kandidat,« sagte Hertha und zog verächtlich die Schultern hoch, »wenn Sie glauben, ich werde mich mit Ihnen in einen Disput einlassen! … Elly hat nicht die Erfahrungen vom Leben, die ich habe. Elly ist noch ein dummes Ding, und ganz schlecht war es darum von Ihnen, ihre Dummheit auszunutzen. Sie hat geglaubt, sie muß Ihnen antworten. Das ist die ganze Geschichte. Und nun will ich Ihnen was sagen: Wenn Sie sich noch einmal erlauben, ihr zu nahe zu kommen – oder Briefe an sie zu schreiben – oder im Park Lieder zu singen – oder dergleichen, dann erzähl' ich alles ihrem Bruder … Und der wird Ihnen dann schon klar machen, was Sie zu thun und zu lassen haben. – Guten Abend, Herr Kandidat.«

Sie raffte ihre Röcke zusammen und schritt an ihm vorbei, während die falben Blätter hinter ihr her stoben.

Lange starrte Kurt Brenckenberg ihr nach. Die dunkle, schlanke Mädchengestalt zeichnete sich für einen Augenblick in malerischen Linien am schwefelgelben Abendhimmel ab und verschwand dann jenseits des Kirchhofswalles.

»Es ist doch ein Hundeleben!« murmelte er. »Endlich denkt man, man hat was fürs Herz – und nun ist es wieder nichts.«

Er setzte sich auf den Rand eines Grabes und brütete vor sich hin. Der Wind heulte um ihn herum: wie Herbstgespenster wirbelten die dürren Blätter vor ihm nieder.

Er dachte an Ruhm, Heldentod, Liebesraserei und die Vergänglichkeit alles Irdischen.

»Hat der Mensch kein Geld, ist der Mensch schon halb gestorben,« citierte er traurig und stand auf – denn die Abendbrotszeit nahte.


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