Julius Stinde
Emma das geheimnißvolle Hausmädchen
Julius Stinde

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Einundvierzigstes Kapitel.

Der Wittwe Bekenntnisse.

Der intelligente Leser wird sich noch des unheimlichen Erlebnisses um Mitternacht in dem unbewohnten Hause der Klosterstraße erinnern und, vom humanen Standpunkt aus, sich nach Herr Iwan Schulz's Kittauge erkundigen wollen, ob es geheilt ist oder noch der Pflege bedarf?

Die Besserung ging nur langsam vorwärts, denn während der unfreiwilligen Zimmergefangenschaft führte Herr Iwan Schulz seinen langgehegten Lieblingswunsch aus, auch seinerseits an dem Fortschritt der Menschheit zu arbeiten, und schrieb ein längstgefühltes Bedürfniß in den Belehrungslitteratur befriedigendes Buch unter dem Titel:

»Was muß man vom Einbrecher wissen?«

und da er bis spät in die Nacht bei der Lampe saß, wurde das von der Uhr mißhandelte Auge immer wieder aufs Neue gereizt.

Die Wittwe Wimmelmayr rieth ihm, weißen Gallitzenstein in Franzbranntwein aufzulegen. Allein, da das Auge hierdurch schlimmer ward, drohte er, sie wegen körperlicher Sachbeschädigung gerichtlich anzuzeigen.

Die Wimmelmayr, welche in Bezug auf Alles, was Gericht hieß, von ängstlichen Vorurtheilen befangen war, bat ihn vom Himmel zur Erde, sie nicht unglücklich zu machen.

Hieraus schloß Numero Eins, daß das Gewissen der Wimmelmayr unterkietig sei. Aber wodurch?

Durch Verbrechen oder durch Dummheit? Unwissenheit ist die Mutter der Dummheiten. Und die Wimmelmayr war recht unwissend; sie konnte die neue Rechtschreibung immer noch nicht begreifen.

»Gestehen Sie, was haben Sie ausgefressen?« fragte Numero Eins cynisch. »Aber ein bischen eilig oder ich melde Sie sofort dem Kriminal-Leutnant.«

Da berichtete sie denn unter vielem Weinen, daß auch sie einmal jung gewesen, daß ihre Wiege weit hinten in Ungarn gestanden, wo der Csikos seine Heerden treibt, der Zigeuner betäubende Csardas aufspielt, der Tokayer durch die Schläfen jagt und es bei einem Begräbniß koselustiger hergeht als in dem strengen Deutschland bei einer Hochzeit.

»Ich begreife,« sagte Numero Eins. »Und was ward aus dem Kinde?«

»Es waren zwei,« schluchzte die unglückliche Frau, die damals von ihrem Verführer verlassen, mitten auf der Pußta in Noth und Verzweiflung sitzend, nicht wußte wo ein und wo aus.

»Sie brachten die unschuldvollen Wesen um?«

»O, wie hätte ich das gekonnt? Aber ich dachte mit Nietzsche's göttlichem Wort, das damals grade aufkam, ich hätte die Kinder von einem anderen Manne haben mögen. Auch sagt er: Nicht sollst Du Dich fortpflanzen, sondern höher hinauf. Ein Baron oder ein Graf wäre mir grade hoch genug gewesen.«

»Wimmelmayr'n, Sie waren unverschämt!«

»Ich war hübsch! Und die feschen Magyaren . . .«

»Renommiren Sie nicht, Sie olle ungarische Ruine, sondern sagen Sie, was ward aus den Kleinen?«

»Den Einen nahm mir eine polnische Wartefrau ab, wahrscheinlich zum Unterschieben; den Anderen übergab ich einer kinderlosen internationalen Gesellschaft von D-Zug-Dieben.«

»Es waren also Knaben?«

»Zwillinge.«

»Und Sie Rabenmutter stießen die zarten Wesen ohne Erkennungszeichen von sich?«

»O nein; jedem brannte ich mit einer glühenden Haarnadel ein deutliches W auf die linke Wade, denn der Eine hieß Willi und der Andere Walter

Als der Herr Iwan Schulz dies hörte, erbleichte er.

»Ha!« rief er mit erschrecklicher Stimme und entfernte hastig Stiefel und Strumpf. »Ist dies das Brandmal meiner Herkunft?«

»Es ist es!« rief die Wimmelmayr überwältigt aus. »Mein Sohn, mein Sohn! Mein Jahre lang vermißtes und nun endlich wiedergefundenes Kind.« Sie stürzte nieder und bedeckte das Muttermal mit Küssen.«

Er litt es nicht, sondern zog sie empor.

Sie umarmte ihn und überhäufte ihn mit mütterlicher Zärtlichkeit.

»O Mutter,« sprach Iwan Schulz, »sage mir, bin ich das untergeschobene Kind oder das andere?«

»Wie kann ich das wissen?« jammerte die Mutter.

»Ich glaube, ich bin nicht der Richtige,« sprach er dumpf. »Ja, ja, mein ganzes Leben wird mir nun erklärlich. Nicht durch Vererbung gerieth ich auf den Pfad des Einbrechens, sondern durch das Milieu. So habe ich noch Aussicht, mich zu bessern, was bei Erbfehlern unmöglich ist. Oder,« fragte er weich, »hast Du, liebe Mutter, Verbrechen begangen, die mich zu den erblich Unheilbaren stempeln?«

»Nur einmal versuchte ich eine Brandstiftung,« bekannte die Mutter, »weißt Du, Kindchen, nach Zigeunerart, indem man eine brennende Kerze in einem Kistchen mit Speck und Zunder am Boden in einer Scheune auf das Heu stellt. Sobald das Licht herabgebrannt ist, zündet es den Speck und das Heu und das Gebäude geht in Flammen auf, wenn man schon wieder weit sich davon gemacht hat und nicht mehr entdeckt werden kann.«

»Genial!« rief IwanWie müssen ihn wie bisher Iwan nennen, da wir ja nicht wissen, ob er Willi oder Walter ist. bewundernd.

»Diesmal brach jedoch das Feuer nicht aus, weil wohl eine Katze dem Speck nachgegangen war und, wie so Katzen spielen, das Licht gelöscht hatte.«

»Ich werde dies Verfahren in einem Anhange meines Buches schildern. Aber, o Mutter, wovon wollen wir leben, wenn ich mich bessere?«

»Dachstuhl- und Kellerbrände bringen nichts ein!« klagte die Mutter.

»Armuth schändet nicht, aber kein Geld haben ist eine Schande,« sagte Iwan bitter.

»Du hast doch Geld?« fragte die Mutter beklommen.

»Ha! Ha! Ha!« hohnlachte Iwan Schulz wild. »Ja, ich habe Geld, aber immer nur das Anderer, und ich muß es mir jedesmal erst unter Gefahren holen.« Er wies dabei auf sein geschwollenes Auge.

»O, was beginnen wir?« seufzte die Mutter. »Wie kann ich mich von Chambregarnisten nähren, wenn mein einziger Einlogirer mein eigener Sohn ist, der nichts hat? Könnten wir nicht bankerott machen? Das soll ja sehr einträglich sein?«

Iwan Schulz verschwieg die in ihm aufsteigenden hämischen Zurechtweisungen, die er der Wimmelmayr'n nicht vorenthalten hätte, bevor sie seine Mutter war. Wie ein gefangener Panther knirschte er mit den Zähnen. Ein verzweifelter Qualenkampf ging in ihm vor.

Das nie sich irrende Mutterauge sah es.

»Engel und himmlische Heerschaaren,« flehte sie, »nehmt euch meines Kindes an.«

Numero Eins ballte die Hände, daß ihm die Nägel in das Fleisch drangen und das Blut herausspritzte.

Dann athmete er tief auf.

Das mark- und beinergreifende Nachterlebniß in dem verlassenen Hause der Klosterstraße mit der darauf folgenden Eingeweideaufwühlung durch das Nachtasyl und nun die Nachtbekenntnisse der Mutter wirkten gemeinschaftlich so überzeugend auf Iwan Schulz ein, daß er die alte Jacke des Milieus abwarf und nicht nur einen neuen, sondern sogar den neuesten Menschen anzog. Deshalb schloß er den bisherigen finsteren Abschnitt seines Lebens mit dem jetzt in allen Romanschlüssen so ungemein beliebten Ruf:

»Arbeit! Arbeit! Nur in der Arbeit ist Heil. Nur sie erlöst die Menschheit zum Guten . . . Laboremus!«

Und mit arbeitsvoller Arbeit arbeitete er an seiner Arbeit:

»Was muß man vom Einbrecher wissen?«

mit lobenswerther Hingebung weiter.


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