Julius Stinde
Emma das geheimnißvolle Hausmädchen
Julius Stinde

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Vierunddreißigstes Kapitel.

Von Abgrund zu Abgrund.

Die mitfühlende Leserin und auch der gegen leidende Unschuld nicht hartherzige Leser wird gewiß schon oft gefragt haben:

Wo ist Elliorina?

Liegt sie noch immer mit Strohseilen gebunden, den Mund voll Stroh gestopft, in dem Gemsenstall, in den hinein der verrätherische Flecklbauer und sein boshaftes Weib die Unglückliche warfen, als sie dem Räuber Kneißl Kunde von dem Anschlag geben wollte, der sein Leben bedrohte?

O nein. – Um die Wißbegierde unserer zahllosen Abonnenten nicht auf die Folter zu spannen, theilen wir ohne Umschweife mit:

Elliorina ist draußen.

Wer aber löste ihre Fesseln?

Keines Menschen Hand, sondern die Fügung höheren Waltens.

Nicht immer ist die Unschuld verloren, so dunkel auch der Schatten des Mißgeschicks sie umgiebt, wenn sie sich nur lange genug hält.

Elliorina hörte das Krachen der Schießgewehre, das Stöhnen der Gefallenen, das laute Kriegsgeschrei der Belagernden. Sie hörte alles Schreckliche, allein sie konnte nicht sehen, was vorging. Furchtbare Angst erfaßte sie.

Wenn der Stall in Brand geschossen würde, mußte sie elend mit verbrennen, denn vollkommen hilflos lag sie in der Ecke, wohin der Bauer und sein Weib sie geschleudert hatten.

Und dunkel war es in dem Stall.

Aber ihre Gedanken wanderten von dem Gemsenbockmist, auf dem sie schmachtete, vertrauensvoll zum Ueberbrettl, dem sie als modernste Künstlerin mit ganzer Seele angehörte. Ja, sie fühlte, sie war zu Großem berufen: zur Umwandlung der veralteten klassischen Kunst in zeitgemäßen Detailkitzel in derartiger Verallgemeinerung, daß nicht nur Jünglinge, sondern auch Greise willig erhöhte Preise bezahlen.

Dieser unerschütterliche Glaube hielt ihre Besinnung aufrecht und erregte das Mitleid allwaltender Naturkräfte wie z. B. Instinkte.

Denn sie fühlte, wie Jemand ihr das Stroh aus dem Munde zog.

Es war eine Gemse, deren Appetit nach dem Stroh rege geworden war.

Elliorina konnte wieder frei athmen.

Sie schöpfte frischen Muth.

»O, ihr lieben Thiere,« sprach sie, »habt Dank. Ihr seid besser als die Menschen, und hoch und heilig gelobe ich Euch, wenn ich wieder frei bin, werde ich Mitglied des Thierschutzvereines gegen jegliche Vivisektion. Es ist auch richtiger, das Volk wird von Nardenkötter behandelt, der die Medizin in der Badewanne seiner lieben Frau ansetzt, als daß man Diphtherie-Serum von lebenden Pferden gewinnt, wie es die Zunftgelehrten machen.

»Die Wissenschaft muß umkehren, weil sie sich untersteht, sogar Schoßhunden etwas zu thun. Lieber hundert Kinder todt an Diphtherie, als daß ein Meerschwein oder Kaninchen als Prüfthier für die Wirkung des Serums ein frühzeitiges Ende findet. Wer Menschlichkeit im Busen trägt, kämpft auf der Meerschwein-Seite gegen die Verrohung des Volkes durch wissenschaftliche Medizin.«

Diese Anrede erschütterte die Gemsen, daß ihnen die Thränen aus den Augen liefen.Auch Rehe und Hirsche weinen, wenn sie zu Tode getroffen zusammenbrechen. Man kann ihren Braten aber nicht entbehren. Sie nagten mit ihren scharfen Zähnen die aus Stroh geflochtenen Seile durch, die Elliorina gefesselt hielten.

Endlich vermochte sie sich ganz zu befreien. Als sie sah, daß Niemand sie hinderte, öffnete sie die Thür und floh mit den Gemsen in das Gebirge. Nur hinweg von der Blutstätte des Greuels. Das war ihr Bestreben.

Sie war hungrig. Beeren des Waldes und Wurzeln bildeten ihre karge Nahrung. Ein Trunk aus dem klaren Gebirgsbach löschte ihren Durst.

Unter den Zweigen einer schattigen Buche fand sie auf weichem Moos eine Lagerstatt. Finken und Meisen zwitscherten ihr ein Schlummerlied und bald umfing sie milder Schlaf.

Keine sanftere Wiege giebt es als in den Mutterarmen der Natur.

Plötzlich schreckte sie aus dem Schlafe auf.

Vor ihr stand ein junger Mann in der Tracht der Gebirgsleute, jedoch war sein Anzug aus feinerem Stoffe als üblich und auch seiner ganzen Erscheinung war anzusehen, daß er nicht für immer in den Bergen lebte.

»Guat geschlaf'n, Madel?« rief er und lachte herzerfrischend, wie stets im bayrischen Dialekt gelacht wird.

Elliorina hatte sich erhoben. Mit einer höflichen Verbeugung sprach sie: »Bitte, mein Herr, verlassen Sie mich.«

»Ei, welche Ueberraschung,« lächelte weltmännisch der Jäger, »eine Tochter des Gebirges glaubte ich gefunden zu haben und ich sehe, daß eine Dame der Gesellschaft uns die Ehre in den Bergen giebt. Gestatten Sie?« stellte er sich vor: »Br – wr – prm!«

Elliorina verstand, wie immer beim Vorstellen, den Namen nicht und antwortete mit einer anmuthigen Verbeugung gleicherweise: »Ra . . . Ri . . . ra.«

»Darf ich fragen, wohin Gnädige sich zu wenden gedenken?«

Ja . . . wohin? Daran hatte sie noch selber nicht gedacht. Mit einem Male ward sie sich ihrer Verlassenheit bewußt.

»Ich habe mich verirrt!« sprach sie. »Ich möchte . . . ich wollte . . .«

Elliorina konnte nicht weiter sprechen; ein heftiger Thränenerguß erstickte ihre Stimme.

»Ich stehe der Gnädigen völlig zur Verfügung,« sagte der Jäger artig.

»Ich bin augenblicklich ohne alle Mittel,« nahm Elliorina das Wort. »Sobald ich aber eine größere Stadt erreicht habe, kann es mir nicht fehlen, denn ich bin eine der ersten Ueberbrettl-Künstlerinnen

Verwundert sah sie der Jäger an.

»Erlauben Sie,« fragte er, »wie lange sind Sie hier in der Einöde?«

»Seit vorigen Herbst.«

»Da wissen Sie wohl noch nicht, daß das Ueberbrettl längst wieder aus der Mode ist? Kaum ein Jahr erfreute sich diese Kunst der öffentlichen Gunst.«

Mit einem Weheruf sank Elliorina auf das weiche Moos, jedoch ohne sich zu beschädigen.

Alle ihre Hoffnungen waren vernichtet. Sie hatte nichts als Ueberbrettl gelernt . . . . was sollte sie in Zukunft beginnen? Aber der Jäger hatte wahr gesprochen: das Publikum schimpfte schon, wenn es blos den Namen hörte.

Nichts ist trauriger für einen Künstler, als wenn er nur solche Kunst kann, von der das Publikum durchaus keinen Gebrauch macht.

»Führen Sie mich zu einem Gletscher, daß ich mich hinunterstürze!« bat Elliorina in ihrer Verzweiflung.

»Warum so verzagt, wenn man so jung und so schönEr hatte Emma noch nicht gesehen!! ist?« fragte der Jäger galant.

»Mein Herr,« entgegnete Elliorina, »höher als beides steht die Unschuld. Was ich ihretwillen schon erlitten habe, das geht nicht auf die Haut eines ausgewachenen Elephanten.«

»Und halten sie immer noch hoch?«

»Ja, mein Herr. Nur Höhenkunst allein ist im Stand, die Menschheit wieder zur Blüthe zu führen. Hochsinn und Thierschutz. Sagen Sie selber, kann eine Frau dem Vaterlande hochwerthige Söhne schenken, die duldet, daß den Hunden und Kanarienvögeln Leides geschieht?«

»Ich verstehe den Zusammenhang nicht ganz . . .«

»O, Ihr Männer seid fühllos!« rief Elliorina.

»Meinen Sie?« fragte der Jäger mit verstecktem Spott. »Es käme auf einen Versuch an.«

»Mein Herr, Sie werden anzüglich,« wehrte Elliorina ab.

»Und wenn ich das Höhere für eine Redensart hielte?«

Elliorina erhob sich in ihrer ganzen Lieblichkeit. »Ich habe einem Kneißl widerstanden,« rief sie ungeziert wie eine Walküre, wozu die rothen Schnürstiefel ausgezeichnet paßten, »ich werde auch Anderen widerstehen.«

»Ich sprach nur im Scherz,« entschuldigte sich der Jäger.

»Die Unerfahrenheit ist zu ernst, als daß man selbst im Scherz mit ihr spielen dürfte,« entgegnete Elliorina beziehungsvoll.

»Ich pflichte Ihnen vollkommen bei,« sprach der Jäger. »Und nun sagen Sie, meine Gnädigste, wohin darf ich Sie geleiten? Ich nehme an, daß Sie sich unter meinen Schutz als Kavalier stellen.«

Elliorina wollte soeben den ihr dargebotenen Arm des Jägers nehmen, als ein Warnungspfiff aus der Höhe erscholl.

Was war das? – Wer hatte gepfiffen? – Und warum?

Man war doch nicht im Theater?!

Elliorina blickte suchend empor.

Da gewahrte sie auf einem Felsenvorsprung hoch oben den Gemsbock, der nun zum zweiten Male seinen Pfiff ertönen ließ.

Elliorina, zu angegriffen von dem Untergang der Ueberbrettl, verstand das warnende Thier nicht.

Weil der Mensch sich zu sehr der Kunst ergiebt, wird ihm die Stimme der Natur immer unentzifferbarer.

Der Gemsbock hatte den Fremdling wohl erkannt und durchschaut. – Es war ein Mädchenjäger.

»Wohin ich auch gehe,« sprach Elliorina, » . . . . ich finde kein Engagement und um Collecte zu machen bin ich nicht alt und häßlich genug. Ach, wie mich die Verzweiflung quält; mir ist, als wenn ich von Sinnen käme.«

Bei diesen Worten nahmen ihre Augen einen beängstigenden Ausdruck an, wie er bei Idioten beobachtet wird.

»O Fritz,« rief sie, »Geduld, Du Trauter, ich bin Dein; bald werden wir vermählet sein.«

Sie zog einen scharfgeschliffenen Dolch aus ihrem Gürtel, den sie erhob und irrsinnig lächelnd anblickte und sprach: »Lieber durch dies Eisen sterben, als durch Liebesgram verderben.Gehirnleidende sprechen mitunter in Versen. Siehe: Griesinger, »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten«, Seite 109. Ha! Des Jammers Maß ist voll. Elliorina stirbt durch Dich, dieses Eisen tödtet mich.«

»Halten Sie gefälligst ein,« rief der Jäger und entwandte ihr den Dolch. »Was kann da sein? Statt der Kunst widmen Sie sich der Welt. Die Welt ist das Leben. Holdrio!«

»Dieser Gedanke hat etwas erlösendes und befreiendes,« entgegnete Elliorina sich erholend, »beinah als wenn ich die ›Werdenden‹ oder die ›Kommenden‹ hörte. O gewiß, Sie sind ein guter Mensch mit solchen Zukunftserlösungsbefreiungs-Ansichten. Die ›Werdenden‹ sind alle gut, ach so gut! Nur auf die ›Kommenden‹ sind sie nicht gut

»Concurrenz!« sagte der Jäger. »Was mich anbelangt, so ist mein Onkel noch viel besser. Zu diesem werde ich Sie bringen. Er heißt Iskar Schippka und wohnt in Garbasovo. Mit den Hauptstädten der alten und neuen Welt in Geschäftsverbindung stehend, wird er Ihnen die vortheilhaftesten Stellungen verschaffen. Außerdem bereiten sich auf der Balkanhalbinsel Ereignisse vor.«

Elliorina schlug vertrauensvoll in die dargebotene Rechte des Jägers.

Wann wäre die Einfalt nicht leichtgläubig, sobald das Verderben sich ihr gleißnerisch naht?

Der Jäger reichte ihr seinen Arm. Teuflisches Lächeln blitzte aus seinen Augen, als Elliorina sich hingebend an ihn hing.

Er hatte gute Beute gemacht.

Iskar Schippka zu Garbasovo war der abgefeimteste Mädchenhändler der gesammten Balkanstaaten. In seinem Auftrage war der Jäger unterwegs.

* * *

Wir haben für Elliorina zu zittern.

* * *

Aber nicht verzagt!

* * *

Schon geht die Morgenröthe der Hoffnung aus der Nacht der Verderbtheit auf.

Wie ein Trompetenton der Unschuld erklingt die Nachricht von dem neu begründeten

»Verein deutscher Fürstinnen zur Hebung der Sittlichkeit«.

Von oben muß die Tugend gehoben werden, nicht von unten, wo das Laster Schule macht und die Zügellosigkeit sich nicht genirt. – Leuchtende Beispiele aus höheren Kreisen werden das Volk und namentlich den naschhaften Mittelstand auf die Wege der Enthaltsamkeit, Zucht und wenn es sein muß, der platonischen Liebe führen. Jedoch nicht weiter.

Darum hoffen wir auch für Elliorina, die, obgleich nicht verheirathet, sich klüglich dennoch in allen zweifelhaften Lagen so benahm, als wäre sie es.

Allerdings triumphirt das Laster häufig und dieses unumstößliche Naturgesetz macht uns wieder beben.

Doch wir bauen auf Elliorinens Bildung.

Und ihre Liebe zum Leutnant Fritz.

Kein Schutzengel vermag so viel gegen einen Dritten, als wenn Eine den Anderen mit sittlicher Inbrunst liebt.


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