Julius Stinde
Emma das geheimnißvolle Hausmädchen
Julius Stinde

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Fünfunddreißigstes Kapitel.

Die Einbrecher.

Die Wittwe Wimmelmayr in der Kalkscheunenstraße wartete seit vierundzwanzig Stunden auf ihren Chambregarnisten Herrn Iwan Schulz.

Ihm mußte etwas passirt sein.

Jedoch was?

In den gelesensten Morgenzeitungen stand noch nichts über ihn.

Mit um so fieberhafterer Spannung sah sie der Ausgabe der Abendblätter entgegen.

Sie las: Venezuela, großer Sieg der Deutschen über amerikanische Vorurtheile. – Nichts von ihrem Einlogirer. – Weiter las sie: Die Bibel, neu verbessert nach Babel, solle von jetzt an mit schwarz-weiß-rothen Litzen eingebunden werden und Baibel heißen. – Kein Wort von Herrn Iwan Schulz. – Weiter las sie: Großer Einbruch in dem Hause des weil. Bäckermeisters C. F. A. Schwudicke.

Obgleich das Haus leer stand, seitdem die derzeitige Besitzerin Fräulein Amelie Schwudicke verschwunden war, mußten die Einbrecher überrascht worden sein, denn sie hatten es in Unordnung verlassen, ohne die zusammengeraffte Beute mitzunehmen.

Der Polizei war hier eins der größten Räthsel vorgelegt, die sie je ungelöst lassen mußte.

Denn wer konnte Einbrecher aus einem unbewohnten Hause vertrieben?

Auch die Wittwe Wimmelmayr war, obgleich sie alle Einbrüche der Tageslitteratur gewissenhaft durchstudirte, außer Stande eine Erklärung zu finden.

Da . . . endlich kam Herr Iwan Schulz.

Sein sonst tadelloser Cylinder zeigte Krampfadern, sein Anzug war bestaubt, sein Antlitz bleich. Vor das linke Auge hielt er ein Taschentuch.

»Allmächtige Güte!« rief die Wittwe Wimmelmayr. »Wo kommen Sie her?«

Iwan Schulz schwieg.

»Wie sehen Sie aus!?«

»Ich denke wie immer,« sagte Herr Schulz mit einem Lächeln, daß es der Wittwe eisig über den Rücken lief. Dann warf er ihr ein Zwanzigmarkstück zu: »Holen Sie dafür kalten Aufschnitt und eine Flasche Gilka.«

Als die Wimmelmayr in fliegender Angst gegangen war, betrachtete Herr es sich im Spiegel. Sein linkes Auge war blau geschwollen.

»Nein,« rief er, »es war keine Einbildung. Es giebt Dinge zwischen Himmel und Erden, die unmöglich sind.«

Und grausenerregend standen die Ereignisse der letzten Nacht vor seiner Erinnerung.

In der Gemeinschaft mit Pagels und Hink-Ede war er in das Haus der Klosterstraße eingebrochen, während Schiel-August, der wegen natürlicher Mißbildung um die Ecke zu sehen vermochte, Schmiere stand.

Sie fanden nach dem Polizeibericht vielerlei Werthsachen in dem verlassenen Hause. Seidene nie getragene Kleider, fünf Dutzend weißbaumwollener Strümpfe, Fräulein Amelie Schwudicke's eigenhändig gestrickter Stolz, eine silberne Erb-Zuckerzange, ein dito Salzfaß, ein Hörrohr, so gut wie neu, einst im Gebrauch von C. F. A. Schwudicke, dem einmal ein Kakerlak ins Ohr gekrochen war, ein nur schwach vermotteter Nerz-Muff und dito Boa, eine silberne, inwendig vergoldete Bonbonni ère, gefüllt mit Asche's Bronchialpastillen, bekanntlich das beste Mittel gegen Heiserkeit, einen Operngucker von Treuer, erste Marke und vier Bände Zola, worin Leutnant Fritz immer heimlich gelesen hatte.

Dies wußte jedoch das Publikum nicht und so gerieth das hochfromme Fräulein Amelie Schwudicke in den gemeinen Verdacht, trotz äußerlicher Respektabilität sich in nächtlicher Stille an Schlüpfrigkeiten ergötzt zu haben.

Man lasse daher keine Bücher umherliegen, die zweideutiges Licht auf Unbetheiligte werfen.

Das Publikum ging sogar so weit, Fräulein Amelie Schwudicke zu bezichtigen, sie sei mit einem Galan durchgebrannt.Das Publikum urtheilt immer nach seinen eigenen Gelüsten. Wäre das Publikum so, wie es sein sollte, könnte die Welt bedeutend vollkommener sein, die Ausnahmen natürlich nicht mitgerechnet.

Wir aber kennen die Wahrheit und wissen, in welchen geheimnißvoll mächtigen Händen sie sich befindet. Ach, die züchtige alte Dame erröthete schon, wenn in reinsten geistlichen Schriften von der Sünder der Verführung gewarnt wurde.

Iwan Schulz ging in seinem Zimmer auf und ab.

Wie war es doch gewesen?

Sie hatten die Beute zusammengepackt. Pagels war schon auf der Straße, um die Bündel in Empfang zu nehmen, die Hink-Ede ihm, wie verabredet, hinabzuwerfen hatte.

Da bedachte Numero Eins (der Leser weiß, daß dies kein anderer ist als eben Iwan Schulz unter seinem Verbrechernamen), ob es sich nicht lohne, die alte Gehäuse-Uhr mitzunehmen, die großen antiquarischen Werth zu haben schien.

Als er die Uhr betrachtete, gewahrte er, daß sie ging.

Wer konnte die Uhr in dem verlassenen Hause aufgezogen haben?

Sie sich doch nicht selber?

Oder war es Täuschung?

Stand der Minutenzeiger oder bewegte er sich?

Numero Eins blickte scharf hin, um sich zu vergewissern.

Aber da . . . . was war das?

Er sah . . . . aber er vermochte sich nicht vom Platze zu rühren, so schlotterten seine Kniee . . . er sah, wie aus dem Zifferblatte eine Hand hervorkam, eine menschliche Hand.

Die Hand erhob sich. Es war ein Arm daran.

Ein menschlicher Arm!

Er wollte aufschreien, so grauenhaft war dieser bloße Arm mit der Hand daran.

Da ballte sich die Hand zur Faust und schlug Iwan Schulz mit furchtbarer Gewalt auf das linke Auge.

Er stürzte nieder.

Es gab einen dumpfen Krach, der gespenstisch in den Gängen und Corridoren des verödeten Hauses wiederhallte. Das Räderwerk der Uhr schnarrte laut und klirrend.

Hink-Ede entfloh durch das Fenster.

Iwan Schulz erhob sich. Die Uhr stand da wie eine gewöhnliche alte Dielen-Uhr. Der Zeiger wies auf Mitternacht.

Das Werk löste aus.

Als die Uhr ausgeschlagen hatte, spielte sie den Choral »Ueb' immer Treu und Redlichkeit«, Amelie Schwudicke's Lieblingsabendlied.

Tief bis ins Innerste bewegt, gedachte Iwan Schulz seiner fleckenlosen Kindheit.

»Ach,« seufzte er, »könnte ich zurück von der Bahn des Frevels und der Verbrechen.« – Aber er konnte nicht.

Wer die oberste Treppenstufe verfehlt, der kommt auch über die anderen herunter.

Da rief Hink-Ede: »Die Kalitten!!«

Er mußte fliehen, um nicht von Schutzleuten ergriffen zu werden.

Von der Klosterstraße ging er in das Nachtasyl, zur Zeit die beliebteste Sehenswürdigkeit der Residenz, mit stets ausverkauften Häusern, zehn Mark den Sammtsesselsitz in der Vorderreihe.

 

Im Nachtasyl.
Stimmen aus der Bodenluke.
In vier Akten.

Personen:

Eine Schnapsleiche
Ein Kümmelblättler
Der Säufer
Die Wirthin
    Herr Iffland
Herr Ekhoff
Herr Talma
Jenny Lind
        Der Klugschmuser
Der Radaumacher
Ein Natursäufer
Die Dame von Maxime
    Herr Garrick
Herr Fleck
Herr Devrient
Corona Schröter
Volk, Volle, Halbvolle, Ganzvolle.

 

Solche Naturwahrheit hatte er noch nie genossen.

Alles war echt, nur der Armeleute-Geruch – der so leicht mit lang gebrauchten Schweißsocken und Zwiebelresten zu bewerkstelligen ist – den hatten sie noch nicht recht heraus. Sonst blieb nichts zu wünschen übrig.

Einer spielte Zieh-Harmonika. – Ein Anderer spielte den Evangelimann. – Einer wurden die Beine mit heißem Wasser verbrüht – Einer starb am Husten. – Einer wurde todtgeschlagen. – Einer hing sich auf.

Aber Schnaps soffen sie Alle.

Als ethischen Gewinn nahm er die Ueberzeugung mit, daß der russische Alkohol wirksamer ist als der deutsche.

Dadurch in seinem nationalen Empfinden schmerzlich gekränkt, schlich er nach Hause.

Die Wittwe Wimmelmayr, die nicht gewagt hatte auch nur fünfzig Pfennig Schmuh zu machen, brachte für zwanzig Mark Aufschnitt und Gilka, die sie ihm durch die kaum geöffnete Thür reichen mußte. Iwan Schulz durfte sich nicht sehen lassen, ohne sich zu verrathen und war gezwungen, bis zur Abheilung der Kittauges im Verborgenen zu leben.

Die schreckliche Uhr aber störte ihm Schlaf und Traum.

Er konnte sie nicht begreifen.

Er glaubte an Unerklärliches.

Der Leser glaubt aber nicht daran, der weiß, wer in dem Hause der Klosterstraße nach dem Vermögen der Familie Schwudicke suchte und ihm ist das Geheimniß der Uhr daher nicht mehr unerforschlich.

Er ist aufgeklärt und wissenschaftlich denkend genug, auch ohne das einjährige Freiwilligen-Examen abgelegt zu haben, die Ueberzeugung zu gewinnen, daß Niemand anders dahinter steckte als die Jesuiten.


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