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Zehntes Kapitel.

Auf dem Perron des Centralbahnhofes in der Friedrichstraße wandelten, den Cölner Nachtzug erwartend, Smiths Marie und Doktor Brunn langsam auf und nieder. Es waren augenblicklich sonst nur wenige Personen da. Man hatte sich etwas früher zusammengefunden, um die Freude zu haben, noch eine Viertelstunde miteinander verplaudern zu können. Von dem Traurigen, das Vater und Tochter und der teilnehmende ärztliche Freund durchlebt und durchlitten hatten, sollte nicht gesprochen werden. Es war das keine besondere Verabredung; es verstand sich für diese drei von selbst.

Es ist mir lieb, sagte Smith, daß ich meine Korrespondenzen auch während dieser Zeit fortgesetzt habe. Sie wissen, man hält drüben sehr auf Pünktlichkeit, und der eine, der geht, ist so schnell von dem anderen, der kommt, ersetzt.

Doch nicht so schnell an den wissenschaftlichen Journalen, erwiderte Doktor Brunn; und gar für die Themata, die Ihre Spezialität sind, werden sich immer wenige Befähigte finden.

So machen es die Journale, wie die Zeit, die auch ausgefüllt sein will, und, wenn sie die Fähigen nicht findet, mit den Unbefähigten vorlieb nimmt. Denken Sie an Achtundvierzig!

Wir haben uns nicht allewege mit Ruhm bedeckt, erwiderte Doktor Brunn heiter. Aber ohne achtundvierzig trotz seiner Tollheiten, der blutigen und unblutigen, trotz seines verfehlten Kaiserkrönungsversuches und Rumpfparlaments – wo wäre das zum Kriege vereinigte Deutschland, Versailles und der Reichstag?

Ich denke, das alles haben der große Kanzler und die heutige Generation, die er sich zu dem Zweck erzogen, höchst eigenhändig ans dem Nichts gemacht?

Er ist unverbesserlich, Ihr lieber Vater, sagte Doktor Brunn zu Marie, die er an seinem Arm führte.

Das ist er, erwiderte Marie; nur für mich in einem anderen Sinne, als in welchem Sie es jetzt meinen.

In jedem Sinne, sagte Smith lächelnd, also auch in dem Ihren, lieber Freund. Und das eben ist ja der Grund, weshalb der gealterte Joseph – Sie kennen meinen Lieblingsvergleich – wieder entweicht aus dem Aegypten des neuen Pharao, der nichts von ihm weiß, wissen will und – wissen darf. Das alte Geschlecht hat abgewirtschaftet. Das neue, das seit achtundvierzig entstanden ist, will sein eigenes Leben leben, nicht behelligt von den unbequemen Traditionen einer Vergangenheit, die ihm nur seine Zirkel stören. Dies Autochthonentum ist nun freilich eine Fiktion – es gibt ebensowenig moralische und politische, wie physische Autochthonen; – aber die Menschheit, scheint es, braucht solche Fiktionen und imaginiert von Zeit zu Zeit eine Sintflut, die nach ihrer Meinung mit Wissenschaften, Künsten, staatlichen Einrichtungen, gesellschaftlichen Institutionen, Sitten, Gebräuchen und Moden tabula rasa macht, damit das alles – nach ihrer Meinung – auf dem so gewonnenen Neuland funkelnagelneu und selbstverständlich unvergleichlich viel besser als je zuvor aufgerichtet werden kann. Bismarck wäre nicht der kluge Mann, der er ist, wenn er diese Fiktion nicht aus allen Kräften und auf jede Weise fördern sollte, trotzdem er so gut weiß, wie nur irgend einer, daß die Steine, die er säete, nichts weiter sind als die Gebeine der uralten Mutter Erde, die das Orakel forderte. Und warum der neue Deukalion seine Steine rückwärts warf, wie der alte, wird er auch wohl wissen. Die uralte Mutter Erde aber lächelt dazu und denkt sich ihr Teil.

Unter anderm?

Unter anderm, daß die rückwärts geworfenen Menschensteine und Steinmenschen, dem ewigen Gesetze folgend, doch wieder vorwärts müssen. Wie jetzt auch wir. Da ist unser Zug!

Der Zug kam von der richtigen Seite, aber es war nur ein letzter Stadtbahnzug, der wenige Passagiere aussetzte, die alsbald wieder vom Perron verschwunden waren, wie einzelne Sommerregentropfen von einem erhitzten Trottoir.

Wir haben noch eine volle Viertelstunde, sagte der Arzt, seine Uhr mit der Bahnhofsuhr vergleichend; Sie können sie nicht besser anwenden, als wenn Sie mir Ihre volle Ansicht, Ihr letztes Wort über unsre Zustände sagen, das Sie mir, glaube ich, doch trotz aller unsrer freundschaftlichen Diskurse vorenthalten haben. Daß Sie gegen mich völlig offen, völlig rückhaltlos sprechen dürfen, wissen Sie.

Ich weiß es, sagte Smith; dann aber lassen wir die orphischen Urworte und sprechen in der Sprache unsrer Tage. Also ganz offen und rückhaltlos: Ich bin allerdings überzeugt, daß die alte ideale Republik von achtundvierzig, wie wir sie geträumt haben, eben wirklich nur ein Traum und eine Unmöglichkeit war, und insofern das neue Geschlecht mit ihm an der Spitze, der ja selbst noch aus dem alten Geschlecht und trotzdem sein berufener Führer ist, uns gegenüber vollkommen in ihrem Rechte sind. Der Irrtum des neuen Geschlechts liegt meiner Ansicht nach darin, daß es die Kontinuität und Unzerstörbarkeit der republikanischen Idee leugnet, weil die Form, in der sie das letzte Mal sich zu verwirklichen versuchte, eine unmögliche, bereits durch den Geist der Zeit überholte, veraltete und folglich reaktionäre war. Aber diese Verwirklichung wird immer wieder versucht werden, einfach deshalb, weil eine mündige Menschheit, nur innerhalb derselben ihre weitgesteckten Ziele zu erreichen hoffen darf. Mit Halbheiten ist es freilich nicht gethan. Heutzutage eine Republik gründen und den alten Kirchenglauben, das alte Besitz- und Erbrecht, das alte ökonomische System, – mit einem Worte: die Grundsäulen des jetzigen Gesellschaftszustandes unangetastet lassen, heißt: einen neuen Wein in alte Schläuche füllen wollen. Und so wußte das Bürgertum sehr gut, was es that, als es in Frankreich die Junischlacht auf Tod und Leben annahm und sich bei uns unter die auch nicht unblutigen Flügel der feudalen Reaktion flüchtete. Daraus hatte sich denn in Frankreich folgerichtig das neue Kaiserreich entwickelt, das die Versprechungen der Republik einlösen zu wollen vorgab, selbstverständlich nicht einlösen konnte und deshalb im Jahre siebzig einer Republik Platz machen mußte, gegründet auf dieselben Widersprüche, auf denen wir die unsre achtundvierzig zu gründen gedachten, und die eben deshalb nicht leben und nur vorläufig noch nicht sterben kann. Wir halten vorerst beim Kaisertum. Es hat in dem germanischen Gefolgschaftsgeist eine weitaus solidere Basis als drüben das Cäsarentum in der gallischen Neuerungssucht, und bemüht sich, respektive wird sich jetzt, nachdem es in seinem ehrwürdigen Haupte so grauenhaft angetastet ist, noch viel gründlicher, eifriger bemühen, den radikalen Forderungen, welche unter der konservativen Oberfläche gähren, gerecht zu werden. Es mag ja Mangel meiner Einsicht sein, wenn ich des Glaubens war und bin, daß es das auf die Dauer, die ich vorläufig unbeschränkt sein lasse, seiner Natur nach nicht kann. Ich muß freilich hinzufügen: die Beobachtungen, die ich während dieser Monate hier in Deutschland machte, haben mich in meinem Glauben, meiner Ueberzeugung nur bestärkt. Ich sehe überall unter der täuschenden Oberfläche des Konservativismus den Radikalismus an seiner Arbeit und überall Boden gewinnen, nicht nur in den unteren Schichten des Volkes, wo seine zum größten Teil unverstandenen Sätze mit elementarischer Kraft wirken, für welche die letzten Grauenthaten symptomatisch sind. Aber kann es anders sein? Man arbeitet ja einander in die Hände. Oder denkt die experimentative Wissenschaft, wenn sie sich stolz mir ihrem »Ignorabimus« gegen die hohle Systemmacherei einer früheren Zeit verwahrt, daß das Volk ihre Methode sich nicht zu eigen machen, nicht ebenfalls versuchen wird, wie weit es seinerseits, ohne philosophisches System und religiöse Doktrin, auf dem Wege des Experiments zu seinen sehr realen Zielen gelangt? Wähnt der naturalistische Roman, wenn er, in tiefster Verachtung der phantastischen Welt, welche die Poeten früher aufzubauen liebten, mit heißem Bemühen ringt, darzustellen, »Was ist«, das Volk werde nicht herausfinden, daß dieses »Was« ganz elendiglich schlecht ist? so schlecht, daß es schlechter gar nicht werden kann? und folglich der Versuch, an Stelle dieses alten, gänzlich verrotteten »Was« ein neues zu setzen, welches doch wenigstens die Chance des besseren für sich hat, von jedem thatkräftigen Menschen angestellt werden muß? Und die jeunesse dorée mit ihren après nous le déluge; die studierte Jugend mit ihrer Verhöhnung aller Ideologie und ihrer Anbetung des praktischen Erfolges, gehen sie nicht mit einem Beispiele voran, dem nachzueifern der junge Handwerker, der Arbeiter, der Proletar nur zu gewillt sind? Mit dem: Ja, Bauer, das ist ganz was anders! speist man die Leute heut' zu Tage nicht mehr ab. Der Skepticismus, der bei den gebildeten Leuten von heute de rigeur ist; der Pessimismus, mit dem die Blasierten koquettieren, und der in ernsten Gemütern sich zu lebensverachtender Verzweiflung vertieft – sollten sie sich nicht zu schlimmen Thaten umsetzen bei denen, welche sich durch Zustände, die in ihren Augen rein willkürliche sind, des Glückes hübsche sieben Sachen vorenthalten; sich, wenn die Dinge so bleiben, zu ewiger Armut und Elendigkeit verurteilt sehen? Denken Sie an die scheußlichen Attentate!

Ich denke daran, versetzte der Arzt lebhaft; aber eben deshalb ist mein Ceterum censeo: Sie gehören nicht nach Amerika. Dort spreizt sich der Materialismus noch viel frecher als bei uns und kann es vorläufig ungestraft: er hat noch so viel Ellbogenraum. Sie gehören schlechterdings zu uns nach Deutschland, das für Sie kein Neuland, sondern der alte Boden ist, auf dem nach weltgeschichtlichen Agrikulturgesetzen heute nur eine andere Saat wächst, als vor dreißig Jahren, – eine Saat, die wir alten Achtundvierziger trotz alledem und alledem gesäet haben; die ihre idealische Abkunft nicht verleugnen, des idealischen Vollwertes schließlich nicht entbehren wird, und die in die Scheuer zu bringen –

Ich in mir nicht mehr die Kraft verspüre, unterbrach Smith den Eifrigen. Wohl Ihnen, daß Sie sie haben, – wenn Sie sie haben! Lieber Freund, ich weiß, Sie zürnen mir nicht, wenn ich sage: ich zweifle daran. Sie sind ein pflichttreuer, heldenhafter Mensch, dem es unmöglich ist, in seinem Zelte zu schmollen, während die Troer vor dem Lager toben. Aber Ihre Waffen sind nicht mehr die Waffen von heute. Ueberdies, der große Agamemnon traut Ihnen nicht, so freundlich er sich geben mag; hält Sie und Ihresgleichen mit Recht für Kryptorepublikaner; wird euch nicht auf die Stelle stellen, die euch gebührt. So werdet ihr schließlich doch vergeblich gekämpft und gerungen haben. Ich stelle den Versuch für mich nicht an, weil ich weiß, es würde vergeblich sein. Ich traue mir nicht mehr die Kraft zu, an der Schaffung der Republik, die wir jetzt wollen müssen, in der Weise mitzuwirken, die mich befriedigte. Nicht mehr die Kraft, den tollen oder falschen Propheten, die sich für die Meister der Zukunft ausgeben, das unsaubre Handwerk zu legen; die Partei von den verkommenen Subjekten zu säubern; ihr aus den Sphären der Intelligenz, aus der Masse der Bourgeoisie die konservativen Elemente zuzuführen, ohne die sie rettungslos eine Beute des Anarchismus wird. Aber ich weiß, der Moses – worunter ich keinen einzelnen Menschen verstehe, sondern den Genius der Menschheit – er wird seine Wiedergeburt feiern. Und wird seine auf Vernunft und Wissenschaft gegründeten Gesetze in das Herz seines Volkes schreiben, das dann den Weg finden wird aus der Wüste der heutigen Erfolganbeterei und des Materialismus in das gelobte Land der Zukunft. Und der Pharao, der in dem gelobten Lande regieren wird, wird wieder von Joseph wissen – dem Joseph der Humanität und des Idealismus – mehr, viel mehr, als der neue Pharao, der heute regiert, sich irgend träumen läßt. – Doch da ist unser Zug!

Von der Ostseite her rollte er langsam in den Bahnhof. Auf dem Perron, der sich inzwischen mit den harrenden Passagieren und ihren Begleitern gefüllt hatte, wogte und wühlte es geschäftig durcheinander. Die Reisenden hatten mit Hilfe eines höflichen Schaffners bald ihren Wagen gefunden; Smith war jugendlich schnell hineingestiegen, das wenige Gepäck auf den Plätzen zu ordnen. Doktor Brunn hatte Maries beide, jetzt freie Hände gefaßt:

Leben Sie wohl! sagte er innig. Ich hoffe, Sie werden sich in Amerika leicht den Ihnen geziemenden Wirkungskreis verschaffen. Sollte es anders kommen, sollten Sie gar einmal allein stehen drüben in der fremden Welt, und ich lebe noch, so wissen Sie, daß Ihnen ein zweiter Vater lebt, dem es ein höchstes Glück sein würde, Ihnen den Unersetzlichen zu ersetzen, soweit in seinen Kräften steht.

Ich weiß es, entgegnete Marie. Und inzwischen gedenken Sie des Unglückseligen in der Charité«!

Ich werde mich seiner annehmen, wie ich kann; sagte Doktor Brunn. Nur hoffen Sie auf keinen Erfolg! Auch er ist ein Produkt unsrer Zeit, aber die ekle Hefe nur, die sich aus der Gährung niederschlägt: ein Zerrbild unsrer Bestrebungen, in seiner scheinbaren Aehnlichkeit mit dem freien Menschen der Zukunft doppelt grauenhaft. Dennoch – Sie sollen nicht umsonst für ihn gebeten haben. Weshalb denn gäbe es Engel – auch auf Erden?

Er küßte sie auf die Stirn, die sie ihm bot und hob sie in den Wagen.

Smith war wieder aus dem Wagen gesprungen und stand vor dem Doktor, der dem Scheidenden voll Rührung in die großen blauen Kinderaugen blickte. Die Männer hatten sich an den Händen gefaßt.

Sie sollten wirklich mitkommen, Doktor! sagte Smith.

Ich will es noch eine Zeitlang hier versuchen; erwiderte Doktor Brunn mit einem melancholischen Lächeln.

Und wir bleiben in Verbindung?

Wie Achtundvierzig mit heute – trotz des neuen Pharao!

Einsteigen! einsteigen! rief der Schaffner.

Leben Sie denn wohl!

Leben Sie wohl!

Der Zug, gen Westen strebend, hatte die Halle verlassen. Es war wieder still geworden. Ein paar Bahnbeamte gingen ab und zu. Doktor Brunn stand noch immer auf dem Platze, von wo er die beiden lieben Gesichter zuletzt am Wagenfenster gesehen hatte.

Dennoch hat er nicht recht; murmelte er. Es ist das alte Aegypten nicht mehr – gewiß. Und wir müssen es doch versuchen und doch weiter kämpfen – trotz des neuen Pharao.

Er richtete sich straff empor und reckte die starken Arme, wie ein Ringer, der seinen Gegner packen will. Dann schritt er langsam den verödeten Perron entlang der Ausgangstreppe zu.

 

Ende.


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