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Fünftes Kapitel.

Marie eilte der Wohnung in der Rauchstraße zu, eine Beute peinlichster Empfindungen, unter welchen die Scham über die Rolle, die sie eben Hartmut gegenüber hatte spielen müssen, für den Augenblick obwog. Aber wie hätte sie ihm die Wahrheit sagen können: daß sie zugleich mit ihm in dem Hause der Curtis und zu welchem Zweck sie dort gewesen war? Der Zweck war nun verfehlt. Zusammen mit ihm in derselben Familie – er und sie in annähernd derselben abhängig-dienstlichen Stellung – das war einfach unmöglich, selbst in dem Falle, daß er sich, wie er ja auch angedeutet, weiter mit dem Namen seiner Mutter nannte und die Vaterschaft des Geheimrats verschwieg. Ihr gegenüber würde er zweifellos von der sonderbaren Familienverbindung, in der sie beide zu einander standen, in allerhand unzarten Anspielungen und frechen Vertraulichkeiten den ausgiebigsten Gebrauch gemacht haben. Hatte er doch jetzt eben wieder, wie schon manches Mal, versucht, sich selbst und sie als Leidensgenossen hinzustellen und einen kameradschaftlichen Ton anzuschlagen, vor welchem ihr schauderte. Aber auch ohne das war ihr jetzt das Haus der Curtis verschlossen. Sonderbar, daß sie nie an die Möglichkeit gedacht, ihre Familie könnte mit den Amerikanern in gesellschaftliche Beziehung kommen, vielmehr gemeint hatte, es noch ganz besonders klug anzufangen, wenn sie ihr Heil in einer ausländischen Familie versuchte, deren Verkehr mit der Berliner Gesellschaft voraussichtlich nur ein sehr beschränkter sein würde! Daß sie von der Begegnung gestern bei dem amerikanischen Gesandten nichts gewußt – wie sollte sie, die seit Jahren keine Gesellschaft mehr besuchte und von den gesellschaftlichen Erlebnissen der Ihrigen nur ganz zufällig etwas erfuhr; die neuen Bekanntschaften derselben erst kennen lernte, wenn diese dann nachträglich zu ihnen ins Haus kamen! Und wie viele kamen und gingen, von denen sie nicht einmal den Namen wußte! Und die ihrerseits nicht wissen mochten, daß sie ihre Tasse Thee aus der Hand einer Tochter des Hauses entgegennahmen! Es würde schon einen bösen Sturm geben, sobald man hörte, daß Hartmut Selk in einem befreundeten Hause Aufnahme gefunden. Das mochten sie unter sich ausmachen. Wohl ihr, daß sie der Gefahr, in der sie so ahnungslos geschwebt hatte, entgangen war! Sofort wollte sie an Frau Curtis schreiben: sie könne aus Gründen, deren Auseinandersetzung man ihr erlassen möge, auf die Stelle nicht weiter reflektieren, und die Dame inständig bitten des Umstandes ihres Besuches gegen niemand Erwähnung zu thun.

Oder sollte sie das lieber an Herrn Smith schreiben? Wenn sie es recht bedachte, that es ihr, konnte nun aus der Sache nichts werden, eigentlich nur um des lieben alten Herrn willen leid. Er war ihr so sympathisch erschienen, wie nie zuvor ein Mensch: mit seinen blauen, träumerischen, mildblickenden Augen, dem melancholischen Ausdruck der feinen Züge und seiner sanften Rede, die doch auch so eindringlich war, so überzeugend, herzgewinnend! Mein Gott, welch seltsamer Mann, der so wenig gemein zu haben schien mit den anderen Menschen, als sei er aus einer andern Welt, einer andern Zeit – einer Welt und Zeit, die noch in dem Menschen den Menschen suchten und zu schätzen wußten; für die es sich nicht immer nur um Aeußerlichkeiten, gesellschaftliche Beziehungen und Rücksichten, um Mein und Dein handelte! Nun sollte die Erscheinung des lieben, freundlichen Mannes nur wie ein flüchtiger Sonnenblick durch ihr dunkles Leben geglitten sein! Nie wieder würde sie die guten Augen mit dem treuherzigen Blick auf sich ruhen fühlen; nie wieder den Druck der schlanken weißen Hand empfinden! Schade! jammerschade! Und die ganze anmutende Perspektive, die sich ihr aufgethan hatte in ein neues, gewiß in vielen Beziehungen interessantes und, worauf es ihr freilich in erster Linie angekommen war: nutzenschaffendes, sie selbst befriedigendes Leben und Wirken zugeschlossen von einer sich plötzlich dazwischen schiebenden undurchdringlichen Wand, auf der die vieldeutige Gestalt Hartmut Selks stand und ihr eine höhnische Grimasse machte! Der über alles Witzelnde, über alles Schnödelnde und der treuherzige alte Herr – das waren denn freilich die Antipoden der moralischen Welt. Es verursachte ihr förmlich einen Schmerz, sich diese beiden nun, wie es doch der unausbleibliche Fall schien, in täglicher Berührung zu denken.

So hasteten und wirrten durch die aufgeregte Seele der eilig Dahinschreitenden Gedanken und Empfindungen in bunter Folge und beängstigender Menge, daß ihr die Zeit stillzustehen und der kurze Weg von dem Punkte im Tiergarten, wo Hartmut sie verlassen, bis zu dem Hause in der Rauchstraße kein Ende nehmen zu wollen schien.

Auf dem Flur kam ihr das Kammermädchen Pauline verdrießlich entgegen. Ob denn das gnädige Fräulein glaube, daß sich alles von selber mache, wenn die Herrschaften in der Stadt wären und Punkt fünf Uhr das Diner bereit sein solle? Die gnädige Frau sei außer sich gewesen; und hier sei der Zettel, den sie für das gnädige Fräulein zurückgelassen habe.

Damit übergab das schnippische Ding Marien ein Blatt, das mit flüchtigen Bleistiftzügen bedeckt war:

»Außer mir über Dein langes Ausbleiben; aber Rücksichtnahme und Du – Es soll nach dem Braten ein Pudding eingeschoben werden, da noch zwei Kouverts dazu gekommen sind; bitte dringend, Pudding selbst machen und Tischdecken beaufsichtigen (zweite Garnitur!) Wein: gewöhnliche Reihenfolge, nach Fisch Rüdesheimer-Berg, Dessert: deutscher Champagner! Kaffee im Gartensaal – gründliche Reinigung – selbst beaufsichtigen!«

Maries Blick streifte das Gesicht der Kammerzofe, die höhnisch lächelte. Selbstverständlich hatte sie das offene Blatt gelesen.

Es ist gut; sagte Marie.

Auf dem gnädigen Fräulein ihrem Nähtisch steckt noch was; sagte die Zofe, – von dem gnädigen Fräulein Ada. Es liegt auch ein Brief oben – von der gnädigen Frau aus Neusitz, glaube ich.

Es ist gut, wiederholte Marie, ohne sich den Schrecken merken zu lassen, mit der sie diese Flut ihr zugeteilter häuslicher Geschäfte erfüllte. Wie sollte sie das alles bis fünf Uhr schaffen und dabei Zeit erübrigen, den Brief an Herrn Smith zu schreiben, der doch sofort geschrieben werden mußte, wenn er die erhoffte Wirkung haben sollte? Und was mochte sie oben noch erwarten!

Eilig stieg sie die drei Treppen nach ihrem Giebelstübchen hinauf. Ihr erster Blick traf ein Gesellschaftskleid Ada's, welches auf ihrem Bett – für ein Sofa war in dem Stübchen kein Platz – weit ausgebreitet lag und für sie des Kommentars nicht bedurfte, den der an dem Nadelkissen steckende Zettel enthielt: »Wir sind heute abend nach unserm kleinen Diner abermals bei dem amerikanischen Gesandten zum Thee. Ich möchte wieder mein weißes Kleid anziehen. Es ist ein wenig schmuddelig und ramponiert. Pauline ist zu ungeschickt; Du wirst es schon wieder in Ordnung bringen. Mir liegt sehr viel daran.«

Marie ließ in halber Verzweiflung den Zettel sinken und griff unwillkürlich nach dem Brief Stephanies. So wurde doch der Becher mit dem üblichen Sorgentrank wenigstens auf einmal geleert. Was hatte die Schwester, deren Briefe sich sonst durch eine lakonische Kürze auszeichneten, in der jede Zeile eine Kommission war, heute so viel zu schreiben: zwei volle Seiten! Und »Liebste Marie«!? – woher die ungewohnte Zärtlichkeit?

»Liebste Marie! Du weißt, ich wende mich für meine großen und kleinen Sorgen immer zuerst an Dich. Heute komme ich mit einer großen. Egon sagt auch, ich solle zuerst an Dich schreiben, damit Du, wie er sich ausdrückt, das Terrain vorher ein wenig rekognoszierst. Eine recht fatale Geschichte. Aber was hilft das alles, und die Zeit drängt. Also: Egon braucht notwendig 10 000 Mark. Das ist ja für Papa schließlich eine Bagatelle; aber Egon meint, daß er in der letzten Zeit allerdings ein wenig oft gekommen sei, und der Papa schon das letzte Mal sich gar nicht nett benommen habe. Und da hat es sich nur um sechstausend gehandelt, noch dazu für Wirtschaftszwecke!! Diesmal ist es aber eine Ehrenschuld: so eine, weißt Du, die binnen 24 Stunden bezahlt sein muß und also Egon sehr drückt, obgleich Axel, an den er das Geld verloren hat, die Liebenswürdigkeit selbst ist, und mich auf ein halbes Wort, das ich fallen ließ, sofort versicherte, die Sache habe gar keine Eile, und Egon könne zahlen, wann er wolle. Egon war sehr empört, daß ich gewagt hatte, mich da einzumischen; aber dann hätte er es mir nicht sagen sollen! Wir waren nämlich zusammen drüben, und es war soweit ein famoser Abend. Die Herren zogen sich erst nach dem Souper zurück, und schon nach etwa einer halben Stunde! ... O, diese Herren! Also, um was ich Dich bitten wollte: Du mußt natürlich erst mit der Mama sprechen, damit sie es gelegentlich dem Papa bringt. Wenn ich an Mama direkt schriebe, so träfe sie der Brief vielleicht in einem ungeeigneten Augenblick; Du wirst den rechten schon zu finden wissen. In acht Tagen spätestens muß Egon das Geld haben; länger kann er von Axels Güte keinen Gebrauch machen, gerade deshalb, weil ich mich eingemischt habe. Ich will Dir das zu erklären suchen, wenn ich hereinkomme: zu Eurer großen Gesellschaft am zwanzigsten. Egon zieht es natürlich vor, an dem Tage stark verschnupft zu sein und zu Hause zu bleiben. Er meint: dergleichen wickele sich immer besser und glatter ab unter Damenhänden. Nun, der Papa wird ja wohl nicht aus dem Spiel bleiben können – leider! obgleich das Geld von der Mama kommt. Deshalb darf auch Herbert um Himmelswillen kein Wort von der Sache erfahren! Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, daß Egon das Geld nicht erhält. Also, gute, liebe Marie, thue Dein Möglichstes! und daß ich das Geld, wenn ich am Freitag wieder herausfahre, mitnehmen kann! Denn Sonnabend ist, wie gesagt, für Egon der letzte Termin. – In großer Eile! St.

P. S. Ich schicke den Brief durch unsre Milchfrau, die ihn Dir in der Küche zustecken soll. Du pflegst ja um diese Zeit in der Küche zu sein.

Möchtest Du mir nicht, wenn Du vorher in die Stadt kommst, ein paar Blumen für mein Lilaseidenkleid besorgen? Es müßte etwas recht Hübsches sein, etwa Heliotrop oder Veilchen? Du kannst bis zu 30 Mark gehen. Kaufe aber nicht bei Leuchtmann, wo ich schon eine ellenlange Rechnung habe, Du müßtest denn thun, als ob es für Dich wäre und das Geld so lange auslegen!«

Auch das noch! murmelte Marie. Starren Auges saß sie an ihrem Nähtischchen, den Brief in den herabgesunkenen Händen. Den unglückseligen Brief!

Zwar die Geldnot – das war ja nur das alte leidige Lied, das schon am ersten Tage nach der Hochzeit begonnen, als der junge Ehemann dem Schwiegervater die Wechselschulden der beiden Kameraden aufhalste, mit denen er einen Bund auf Ehrenwort geschlossen: wer zuerst von ihnen heirate, müsse die Schulden der anderen bezahlen. Es war eine furchtbare Summe gewesen und doch wie geringfügig im Vergleich zu der, welche der Leichtsinn und die Mißwirtschaft der kaum vierjährigen Ehe seitdem verschlungen! Dennoch – trotzdem der Geheimrat neulich geschworen: es solle dies das letzte Mal gewesen sein; trotzdem Herbert bei jener Veranlassung den Eltern eine schlimmste Scene gemacht und Drohungen ausgestoßen, die zu halten er durchaus der Mann war – Stephanie war der Mutter Lieblingskind und wußte es, und daß die Mutter ihr aus dieser Not schließlich helfen würde, wie noch aus jeder vorhergegangenen. Nein, das war es nicht, was sie so tief bekümmerte. Aber wie weit mußte es schon zwischen Stephanie und Graf Karlsburg gekommen sein, wenn sie schlechtweg von ihm als von »Axel« sprechen, sich an den Mann, den die Welt kaum noch verstohlen als ihren Liebhaber bezeichnete, in einer Angelegenheit wenden konnte, bei der es sich um die Ehre ihres Gatten handelte, die sie auf das Heilloseste kompromittierte, sobald man erfuhr – und was blieb in dieser Welt des Klatsches verborgen? – daß sie die Rolle der Vermittlerin übernommen! Und wie tief mußte Egon bereits gesunken sein, wenn er sich, trotz seiner »Empörung«, diese Einmischung gefallen ließ, vielleicht gar absichtlich provoziert hatte! In diesen traurig unsauberen Handel durfte sie sich nicht mischen! Mochte sie es dann auch mit Stephanie verderben, der einzigen in der Familie, die ihr noch mit einiger Freundlichkeit begegnete! Und kam es darüber zu der längst hereindrohenden Katastrophe; wurde Egon gezwungen, das Gut aufzugeben und in der Stadt eine bescheidene Existenz zu führen – nun, so war es dann doch wenigstens vorbei mit der ominösen Nachbarschaft, welche, einem Strudel gleich, Glück und Ehre des jungen Paares in immer rascher kreisenden Wirbeln zu verschlingen drohte!

Marie erhob sich und schloß den Brief in ihr Schreibtischchen. Wenn man nach demselben fragte, hatte er natürlich nichts enthalten als die Kommission wegen der Blumengarnitur für das Gesellschaftskleid.

Wie traurig doch, so für andere lügen zu müssen! In ihrer Angelegenheit würde die Wahrheit schnell genug an den Tag kommen. Ihre Familie war heute abend wieder bei dem amerikanischen Gesandten. Wie leicht konnten da auch die Curtis ebenfalls sein! Wie leicht da die Gesellschafterinfrage durchgesprochen werden! Dann war das Geheimnis heraus! Mochte es! Zu schämen brauchte sie sich des Schrittes nicht, und sie gewann in dem Ungewitter, das nun über sie hereinbrach, den Mut, ihrer Familie zu erklären, daß ihr Entschluß ein für allemal gefaßt sei; sie diesem ersten vergeblichen Versuch alsbald einen zweiten, hoffentlich von besserem Erfolge begleiteten folgen lassen werde. Da hatte es denn auch mit dem Briefe an Herrn Smith Zeit bis morgen.

Sie vertauschte ihren Visitenanzug mit einem häuslichen Kleide und begab sich nach unten in die Wirtschaftsräume, wo ihr Erscheinen, ihre freundliche Zusprache, ihr thätiges Eingreifen bald die krausen Mienen der verdrießlichen Leute glätteten und der eingerissenen Verwirrung steuerten. Schneller als sie gedacht, konnte sie wieder nach oben eilen, und sich an Ada's Kleid machen, dessen Zustand sie freilich so bedenklich fand, daß sie sich verwundert fragte, weshalb das kapriziöse Kind, dessen Garderobe doch wahrlich reich genug ausgestattet war, diese sonderbare Wahl getroffen habe? Pauline, deren Hilfe sie denn doch in Anspruch nehmen mußte, zeigte sich störrisch, und sagte, als ihr von Marie ihre Ungezogenheit freundlich vorgehalten wurde, höhnisch lächelnd:

Gnädiges Fräulein haben es ja gelesen: ich bin nun einmal zu ungeschickt. Na, ich will trotzdem hoffen, daß gnädiges Fräulein, Ada den Triumph hat, den sie sich von dem »weißen Kleide« verspricht.

Welchen Triumph? fragte Marie.

Na, sagte Pauline, Fräulein Ada muß ja wohl an jedem Abend eine neue Eroberung machen, warum denn nicht gestern abend auch? Diesmal war es ein junger amerikanischer Herr – wie hat er doch noch gleich geheißen? richtig. Herr Curtis! So sehr jung kann er nicht mehr, sein; ich hörte, daß die gnädige Frau ihn Professor nannte, worüber ich bei mir lachen mußte, denn sonst schwärmt Fräulein Ada doch nur für Leutnants.

Es ist gut, sagte Marie abwehrend.

Meinetwegen, entgegnete Pauline; ich erzähle das ja auch nur so, weil gnädiges Fräulein wissen wollten, warum Fräulein Ada heute abend partout wieder in diesem selben Kleide kommen muß. Weil der Herr Amerikaner gesagt hat: es stünde ihr so gut! Bitte, gnädiges Fräulein, ich habe es aus der gnädigen Frau eigenem Munde, und daß Fräulein Ada das Kleid heute wieder anziehen sollten. Gestern war es noch halbwegs frisch; heute wird der Staat, den sie damit macht, nicht ganz so groß sein.

Marie dachte, während sie an dem Kleide weiter nestelte, an die schöne Wärme, mit welcher Herr Smith von Ralph Curtis gesprochen hatte. Da konnte der Professor nicht anders als ein edler, liebenswürdiger Mensch sein. Und an dem übte nun Ada ihre koketten Künste! Heute abend bereits zum zweitenmal! Man schien die Angelegenheit mit besonderem Eifer zu betreiben. Hatte man endlich die »sehr reiche Partie« gefunden, die Ada »unbedingt machen müßte«? Da nahm denn die Unschicklichkeit ihres Schrittes von heute morgen wahrhaft erschreckende Dimensionen an: die älteste Tochter wendet sich als Gesellschafterin in eine Familie, in welche die jüngste hineinheiraten will! So wenig scherzhaft Marie zu Mute war: wenn sie sich das Erstaunen der kleinen rundlichen Frau Curtis, das majestätische Stirnrunzeln der Mama vorstellte, sobald die Unterredung der beiden Damen jene seltsame Thatsache an das Licht gebracht hatte, konnte sie sich des Lachens nicht erwehren. Gab es denn keinen Erretter aus dieser tragikomischen Not?

Pauline kam wieder herauf mit dem heißen Bolzen und einem Brief, den soeben ein Dienstmann für das gnädige Fräulein abgegeben hatte. Marie besah die Adresse, die in einer schönen, etwas altfränkischen Hand geschrieben war, legte den Brief beiseite – scheinbar ruhig, während ihr doch das Herz klopfte, – und vollendete die Arbeit an dem Kleide zum Aerger Paulinens, die gar zu gern gewußt hätte, wer in aller Welt dieser seltene Stadtkorrespondent des gnädigen Fräuleins war. Die Schmollende hatte sich aber kaum mit dem Kleide, das sie Fräulein Ada auf das Zimmer tragen sollte, entfernt, als Marie hastig den Brief erbrach:

»Liebes Fräulein!

Vorerst muß ich Sie um Entschuldigung bitten, daß ich Sie schließlich durch meinen Unwohlseinsanfall so erschreckt habe, und Ihnen für die Güte danken, mit der Sie mir beigestanden sind. Es ist mir lange nicht so weh und zugleich so wohl gewesen als in jenem Augenblicke. Ich glaube, nun erst das wunderliche Wort der Bibel verstanden zu haben, es müsse das Uebel in die Welt kommen. Müsse? Jawohl! weil sonst die Guten und Braven keine Gelegenheit hätten, zu beweisen, wie gut und brav sie sind. Nochmals tausend Dank der Guten, Braven, – Schönen! Das letztere Epitheton füge ich hinzu, weil es zur Vollständigkeit des Bildes, das Sie in meinem Herzen zurückgelassen haben, notwendig gehört. Verzeihen Sie dem alten Manne seine vermutlich etwas stark antiquierte Galanterie!

Glücklicherweise hatte ich mich von dem Anfall nach wenigen Minuten hinreichend erholt, um mich zu Mrs. Curtis begeben zu können, die von Ihrer Erscheinung und Ihrem Wesen so entzückt war, wie es eine so dürftige Natur nur irgend sein kann, um dann in große Betrübnis, ja hellen Zorn zu geraten, als ich ihr auseinandersetzte, daß – liebes Fräulein, es ist mir wahrlich recht bang ums Herz, indem ich diese Worte niederschreibe, – daß in anbetracht der Verhältnisse Ihre Stellung als Gesellschafterin in dem Curtisschen Hause unthunlich, ja, in gewissem Sinne – ich meine: im Sinne der Leute, welche sich die feine Welt nennen, – unmöglich sei. Zu dieser Einsicht war ich aber selbst erst gekommen, als ich nach Ihrer Entfernung mit geziemender Sorgfalt obbesagte Verhältnisse in Erwägung zog und mir klar machte. Ich erinnerte mich jetzt erst, daß die Curtissche Familie mit der Ihren eine Bekanntschaft gemacht hat, auf die man beiderseitig großes Gewicht legt, und aus welcher deshalb zweifellos ein eifrig gepflegter, reger Verkehr erwachsen wird. Darüber würden nun Sie, mein liebes, teures Fräulein, in eine schiefe Position geraten, auch wenn Sie mit dem Konsens der Ihrigen die Uebersiedelung in das Curtissche Haus vorgenommen hätten, oder vornehmen könnten. Nun aber, wie Sie – nach Ihrer eigenen Aussage – den Emanzipationsversuch ohne Wissen der Ihrigen gemacht haben, ist jener Konsens nachträglich unwahrscheinlich, vielmehr undenkbar. Wie ich die vornehme Welt kenne, würde man Sie, teures Fräulein, lieber tot sehen, als in dienstbarem Verhältnis zu einer Familie, mit der man gesellschaftlich auf gleicher Rangstufe steht. Das ist ja alles sehr verdreht; aber Sie, liebes Fräulein, und ich, wir können doch nicht für diese verdrehte Welt; und es kann auch keiner etwas dafür: sie ist nun einmal so, Gott mag wissen: warum?

Wenn Sie mich nun fragen, liebes Fräulein, weshalb ich an das alles nicht früher, will sagen: noch während Ihres lieben Besuches gedacht und es ausgesprochen habe, so wollen Sie sich gütigst erinnern, oder muß ich Ihnen jetzt sagen, daß ich Ihren Namen erst ganz zuletzt von der Karte, die ich ahnungslos in den Händen gehalten hatte, erfuhr, d. h. in dem Augenblicke, als mich das Unwohlsein überfiel und mir mein bißchen Geistesgegenwart und Kombinationsvermögen vollends störte. Ich hatte im Moment vergessen, von Ralph am Abend vorher gehört zu haben, daß in der Familie Ilicius noch eine Tochter aus einer früheren Ehe lebe, die den Namen ihres verstorbenen Vaters »von Alden« führe. Mit einem Worte: die rechte Einsicht in die verwickelte Lage kam mir erst, als Sie gegangen waren, – Sie, mit der ich dies alles so viel besser, gründlicher hätte besprechen können. Aber, nicht wahr, Sie lesen auch aus meinen in der Eile hingestrudelten Worten heraus, wie traurig ich bin, Ihnen dies schreiben zu müssen.

Ist es doch so viel wie ein Verzicht darauf, wieder einmal und so recht oft mich Ihrer erquicklichen Gegenwart, Ihrer holden Rede freuen zu dürfen! So möge es mir wenigstens vergönnt sein, von Ihnen zu hören durch meinen lieben Ralph, vorausgesetzt, daß Sie sich dem regen Verkehr, welcher sich zwischen dem Curtisschen und Ihrem Hause anbahnen zu wollen scheint (während ich dies schreibe, ist so ziemlich Ihre ganze Familie im Salon der Frau Curtis versammelt), nicht entziehen, wie ich es leider zu thun gezwungen bin. Trübe Erfahrungen und der Hang zur Einsamkeit, dem der Alleinstehende so leicht verfällt, haben mich vor der Zeit gesellschaftsscheu, ja gesellschaftsunfähig gemacht. Nach den wenigen Andeutungen, die Sie mir von Ihrem Lebensgang und Ihrer gegenwärtigen Situation gaben, muß ich schließen, daß auch Ihnen die Gesellschaft wenig Freude gewährt, und Sie sich von derselben thunlich fern halten. Vielleicht machen Sie in dem Curtis-Iliciusschen social intercourse eine Ausnahme. Sie würden mich dadurch beglücken und brauchten keinesfalls zu fürchten, daß Ihnen aus Ihrem heutigen Besuche nachträglich irgend welche Mißhelligkeiten erwüchsen. Der Besuch hat einfach nicht stattgefunden. Warum? Weil – Sie werden lachen, aber glücklicherweise verhält es sich so – weil Mrs. Curtis ebensowohl den Stein der Weisen finden würde, als sich bereits in diesem Momente Ihres Namens erinnern, oder, – nach Verlauf von vierundzwanzig Stunden – Ihrer Erscheinung. Ich würde das nicht zu behaupten wagen, wäre ich meiner Sache nicht absolut sicher. Außer Mrs. Curtis und mir hat Sie hier aber niemand gesehen und gesprochen, der irgend in Betracht käme. Der Diener, der Sie empfangen hat, wird uns bereits in wenigen Tagen wieder verlassen, da er sich in diesem Hause, wie Ovid unter den Scythen, unverstanden fühlt; die alte Kammerfrau Austin kommt nie aus den inneren Gemächern heraus. Noch einmal: Ihr Besuch hat nicht stattgefunden; Sie haben durchaus, was man die Politik der freien Hand nennt. Benutzen Sie dieselbe in dem von mir angedeuteten und erwünschten Sinne! Sie werden dadurch einen einsamen alten Sonderling glücklich machen, der sich nennt

Charles Smith.«

Marie atmete erleichtert auf, als sie diesen Brief zu Ende gelesen. Und dann, während noch in dem Frohgefühl der Befreiung von einer bösen Sorge ihre Lippen lächelten, traten ihr Thränen in die Augen um den »einsamen alten Sonderling«, dessen Takt und Einsicht sie diese Befreiung verdankte. Ja, sie wollte sich ihm dankbar bezeigen, wie er es wünschte; wollte die Gesellschaft nicht scheuen, durch deren Vermittelung er von ihr erfahren sollte, sie von ihm erfahren würde. Vielleicht ließ er sich auch bestimmen, in der verhaßten Gesellschaft zu erscheinen. Sie wollte ihn recht herzlich darum bitten lassen durch seinen Freund Ralph. Auf keinen Fall durfte es sein, daß sie diesen alten Mann, der es ihr durch sein liebevolles Wesen ordentlich angethan, heute zum ersten- und letztenmal gesehen hatte.

Ein Wagen kam rasch die einsame Straße herauf und hielt vor dem Hause: die Equipage mit der Familie. Man kam von der Visite bei den Curtis, und sie durfte ihnen mit ruhiger Miene entgegentreten. Noch vor zehn Minuten hätte sie das nicht zu hoffen gewagt. Da in dem Kästchen mit dem Briefe von Herrn Smith lag freilich auch Stephanies Brief und in demselben Zündstoff zu einem regelrechten Familiengewitter. Aber diesem für ihr Teil auszuweichen, war sie ja entschlossen.


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