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Siebentes Kapitel.

Marie wußte selbst nicht, weshalb sie angenommen, der heutige Gesellschaftsabend werde für sie nicht beginnen, wie seit Jahren jeder andere vorhergegangene, und warum ihr heute die halbe Stunde, während welcher sie ihre Haushaltungspflichten in der Küche hielten, besonders lang erschien, indessen der kleine Hof unter den Küchenfenstern, auf dem die von der Straße durch das Portal einfahrenden Equipagen zu wenden hatten, fortwährend von dem Hufgetrappel der Pferde erdröhnte. Endlich hatte sie vorderhand das Nötige angeordnet und durfte sich in die vorderen Räume begeben, von denen sich die beiden ersten Salons mit der älteren Gesellschaft gefüllt hatten: hohen Offizieren und Beamten nebst ihren Damen – die Herren in großer Uniform, oder doch mit ihren sämtlichen Dekorationen, die Damen in ihren glänzendsten Toiletten. In den daranstoßenden Räumen war die junge Welt versammelt: Leutnants, Fähnriche, Assessoren, Referendare, ein halbes Dutzend Attachés fremdländischer Gesandtschaften – alle beflissen, ihre konversationellen Gaben und sonstigen gesellschaftlichen Vorzüge den sehr zahlreich anwesenden jungen Damen gegenüber in ein möglichst günstiges Licht zu stellen, die ihrerseits nicht müde wurden, durch helle Blicke, fröhliches Lachen und muntere Gegenreden den höflichen Rittern ihre Dienste zu belohnen und zu erleichtern. Das verursachte denn, alles in allem, ein ungeheures Geräusch, in welchem auch ein aufmerksames Ohr nur ein besonders lautes Schnarren, übermütiges Lachen, gelegentliches Säbelgeklirr und Tassengeklapper unterschied, während das Auge Mühe hatte, in dem kaleidoskopisch durcheinander wirrenden Gewoge eine einzelne Gestalt, eine bestimmte Gruppe festzuhalten.

Marie war sonst nicht eben gewohnt, sich diese Mühe zu geben. Heute durchspähten ihre Blicke mit größter Aufmerksamkeit das Gedränge – vorderhand vergeblich: wie sie in dem Salon der älteren Herrschaften weder Frau Curtis noch jemand, den sie für Herrn Curtis hätte nehmen können, zu entdecken vermocht, so war sie sicher, daß in dem Saale keine der wenigen jungen Damen, die sie nicht kannte, Miß Anne sei. Da war es denn freilich selbstverständlich, wenn unter den paar ihr unbekannten jungen Herren sich kein Mister Ralph Curtis fand. Hatte die Familie in letzter Stunde abgesagt? war es amerikanische Sitte, so spät in der Gesellschaft zu erscheinen?

Wo bleiben nur Eure Amerikaner? sagte Stephanie, die plötzlich neben ihr stand. Ich vergehe vor Ungeduld. Ist die Miß Dingsda – richtig: Miß Curtis wirklich so schön? Bitte, sag' ja! bloß, damit Ada doch eine ordentliche Konkurrentin kriegt; ich kann das Gethue von unserm »Blumengesicht« wirklich nicht mehr mit ansehen.

Stephanie war, ohne eine Antwort abzuwarten, weitergerauscht; Marie erblickte jetzt zum erstenmal heute abend ihre jüngste Schwester, die eben einer größeren Gruppe Herren, von der sie umgeben gewesen war, entschlüpfte mit einer koketten Geste, welche andeuten zu sollen schien, daß man ihr nicht folgen möge. Auch kam sie unmittelbar auf Marie zu mit dem für die Gesellschaftsabende eingeübten Schmachtblick der weichen blauen Augen und dem Kinderlächeln um den kleinen, rosigen Mund:

Liebe Marie, Du mußt mir einen Gefallen thun! Mister Ralph Curtis hat mich gebeten, ihm heute abend etwas vorzusingen: nur ein paar Kleinigkeiten, weißt Du: »Die Lotosblume ängstigt« – »O danke nicht für diese Lieder« – oder so was. Nicht wahr, Du bist so freundlich und hältst Dich hernach etwas in meiner Nähe, daß Du gleich zur Hand bist, wenn Du mich begleiten sollst?

Auch hier brauchte Marie sich nicht um eine Antwort zu bemühen: im nächsten Moment sah sie nur noch das kunstvoll zusammengedrehte Nest der dicken blonden Zöpfe und den schmalen Rücken der schönen Schwester, welche nun zwei Leutnants, die auf sie zugestürzt waren, mit dem sanften Augenaufschlag und dem Kinderlächeln entzückte.

Du bist heute abend völlig albern, sprach Marie bei sich, und meinte damit den Stich, den es ihr ins Herz gegeben, daß Ada dem Mister Ralph etwas vorsingen wollte. Warum dem Amerikaner nicht so gut wie der andern Gesellschaft, wenn – Ada überhaupt nur hätte singen können, ohne den Charakter jedes Liedes durch einen gezierten oder übertriebenen Vortrag völlig zu entstellen und dabei für ein feineres Ohr auf das empfindlichste zu detonieren? Wahrlich, man brauchte Ada nicht zu hassen, wie es Stephanie von Grund des Herzens that, um ihr in Gestalt einer übermächtigen Rivalin ein gesunde Demütigung zu wünschen!

Meiringen hat Dir einen Gruß zu bestellen; sagte Reginald, der mit einem jungen Offizier an sie herantrat. Von seinem Bruder, mit dem Du Tanzstunde gehabt hast.

Und der sich Ihnen gehorsamst empfehlen läßt; sagte der Kamerad, ein kaum sichtbares Bärtchen streichend.

Wo steht Ihr Herr Bruder jetzt? fragte Marie.

In Metz, gnädiges Fräulein. Schneidige Garnison; aber kolossaler Dienst!

Ihr Herr Bruder ist jetzt Hauptmann?

Schon seit zwei Jahren; nur noch zwölf Vordermänner; kolossales Avancement!

Sie wollten ja Fräulein von Stülpnagel engagieren, Meiringen, sagte Reginald; da steht sie.

Wah'haftig! – gnädiges Fräulein verzeihen – werde mir später die Ehre geben; schnarrte der junge Offizier, sich verbeugend und schnell entfernend.

Reginald schien nur darauf gewartet zu haben.

Du, Marie, sagte er; willst Du mir einen Gefallen thun?

Gern. Was ist es?

Ich weiß freilich nicht, ob sie es thun wird. Halb und halb hat sie mir es versprochen. Wer?

Miß Anne Curtis. Ich war gestern abend dort – allein. Sie hat uns ein paar Niggerlieder gesungen – ich sage Dir: großartig! Ich habe sie gebeten, die Sachen heute hier zu singen und, wie gesagt, ich glaube, sie wird es thun, wenn sie jemand begleitet. Ich habe der Vorsicht halber die Noten gleich gestern abend mitgenommen; Du findest sie auf dem Flügel. Willst Du?

Warum nicht? Ada hat mich auch schon engagiert.

Um Himmelswillen! kann uns denn das Blumengesicht mit ihrer Katzenmusik nicht verschonen! Nun fehlt bloß noch, daß uns Herbert ein paar von seinen Korpsburschenliedern zum besten gibt!

Marie erwiderte darauf nichts; was hätte sie auch sagen sollen? Dafür bemerkte sie wohl den gehässigen Blick, mit welchem Reginald den Bruder streifte, welcher sich nicht weit von ihnen mit Julie Kinitz unterhielt. Das Verhältnis der beiden Brüder war ohnedies schon ein so unerfreuliches; ihr Wunsch vorher, daß Miß Anne recht blendend schön sein möchte, kam ihr plötzlich unschwesterlich, ja frevelhaft vor.

Ich höre jetzt immer nur von Euren Amerikanern, sagte sie. Seid Ihr denn auch gewiß, daß sie kommen?

Da sind sie! murmelte Reginald mit gepreßter Stimme.

Marie hatte der Thür nach den vorderen Salons den Rücken zugekehrt gehabt; jetzt wandte sie sich und erblickte in der Thür die eben Eintretenden: einen schlanken bleichen jüngeren Mann mit kurzgeschorenem rötlichen Haupthaar und ebensolchem Vollbart, an seinem Arm ein junges Mädchen, das denn allerdings vollauf Anspruch hatte, ausnehmend schön genannt zu werden: die anmutigste, sylphenhafteste Gestalt, die man nur sehen konnte, in ein weißes Gewand von großer Kostbarkeit und zugleich klassischer Einfachheit gehüllt, mit einem Kopf, von schönsten und zugleich zartesten Linien umrissen, zu dessen blauschwarzem, die gerade niedrige Stirn in kurzen natürlichen Locken umgebenden Haar die großen dunklen, wie von verhaltenem Feuer matt glänzenden Augen wunderbar stimmten.

Das Erscheinen der jungen, schönen, fast allen Anwesenden unbekannten Dame erregte in dem Saale ein Aufsehen, welches die überlaut geführte allgemeine Unterhaltung in raschen Absätzen tiefer und tiefer stimmte, ja, für einige Augenblicke fast verstummen machte. Die prüfenden Blicke der jungen Damen, die bewundernden der jungen Herren hatten alle nur das eine Ziel, bis die Herren im Bewußtsein der begangenen Unschicklichkeit die jäh abgebrochene Konversation wieder aufzunehmen versuchten, was aber nur in wenigen Fällen gelingen wollte. Aller hatte sich die Neugier, zu wissen, wer denn dieser »Stern« sei, der so plötzlich und unerwartet, am Schluß der Saison bereits, aufgetaucht war, in gleichem Grade bemächtigt. Wer ist sie? – Ich kenne sie nicht. – So erkundigen Sie sich doch! – Sofort, meine Gnädigste! – hätte man an zwanzig Stellen zugleich vernehmen können.

Indessen war es den Herren nicht so leicht, dem erhaltenen Auftrag nachzukommen. Kaum daß die junge Schöne ihren Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, waren ihr von zwei Seiten zugleich die Söhne des Hauses entgegengestürzt; auch Ada und Stephanie zu ihr getreten. Ein kleiner Kreis hatte sich um sie gebildet, der, rasch anschwellend, in wenigen Minuten zu einer für die später Kommenden undurchdringlichen Mauer wurde. Es war ein Erfolg, wie er in der Erinnerung selbst der gewiegtesten Habitués des Zirkels beispiellos war. Selbst die Damen räumten es ein, – die klügeren mit guter Miene, die weniger gescheiten widerwillig und mit der Bemerkung, daß ausländische Schönheiten immer einen Vorsprung vor den einheimischen hätten, und fraglos Ada Ilicius in einem New-Yorker Salon genau die Sensation erregen würde, wie Miß Anne Curtis – der Name war jetzt in aller Munde – hier in dem Berliner.

Davon wollte Ada, der Benno Meiringen sich beeiferte, diesen Trost in die rosigen Ohren zu raunen, nichts wissen. Wie er so thöricht sein könne, sie in einem Atem mit einer solchen beauté allerersten Ranges zu nennen? Ob er keine Augen habe? oder glaube, daß sie selbst blind sei? Sie sei nicht blind. Sie sei entzückt, berauscht; sie erkläre jeden, der es nicht zu sein behaupte, für einen Heuchler. Aber auch die Heuchler würden beschämt verstummen, wenn sie Miß Anne hätten singen hören. Reginald, der sie gehört, versichere, Etelka Gerster und die Patti und wie sie alle heißen, kämen dagegen nicht auf.

Da der so Gescholtene so wenig taub war, wie Ada zweifelsohne nicht blind, konnte die Hinweisung auf die Gesangeskunst der Amerikanerin für ihn nur eine Mahnung sein, flehentlich in die erstere zu dringen, die Gesellschaft mit einigen jener Lieder zu erfreuen, die sie so wundervoll vorzutragen wisse. Er mußte lange bitten, bis Ada sich erweichen ließ, eine Zusage zu geben, und auch diese nur unter der Bedingung, daß er sich zuvor der Zusage Miß Annes, ebenfalls singen zu wollen, versichere.

Zu dem letzteren Zweck wandte Benno Meiringen sich selbstverständlich an die Brüder Ilicius, von denen Herbert seine Vermittelung rundweg verweigerte. Es erscheine ihm nicht schicklich, an eine Dame, die zum erstenmal im Hause sei, eine derartige Zumutung zu stellen, auf die ein Refus die voraussichtliche, nebenbei durchaus korrekte Antwort sein werde. Herbert hatte das bei aller Höflichkeit in einem fast gereizten Ton gesagt, für den der um Ada's willen sehr beflissene Unterhändler zur Zeit kein Verständnis besaß. So kam er denn zu Reginald, der nur darauf gewartet zu haben schien, in der That nur darauf gewartet hatte. An Miß Anne herantretend, die eben mit den beiden jungen Attachés der spanischen Gesandtschaft eine lebhafte Unterhaltung in der Landessprache derselben führte, benutzte er die erste eintretende Pause, ihr »den dringenden Wunsch der Gesellschaft, der, wie sie wisse, in so hohem Maße der seinige sei«, vorzutragen. Er erlaube sich, dabei an ihre gestrige freundliche Zusage zu erinnern.

So werden Sie sich auch der Bedingung erinnern, unter der ich meine Zusage erteilt habe; erwiderte Miß Anne, ihn mit einem Blick ihrer glänzenden Augen streifend und dann sofort ihre Konversation mit den spanischen Herren wieder aufnehmend.

Reginald trat mit einer Verbeugung zurück, die Unterlippe zwischen die Zähne klemmend. Das war fatal. »Wenn Ihre Schwester zuvor gesungen hat«, – er wußte es wohl, aber hatte gehofft, es werde auch ohne das gehen. Nun sollte er Ada womöglich noch gute Worte geben, damit das Blumengesicht sich am Ende weigerte, um der Rivalin nicht einen unausbleiblichen neuen Triumph zu bereiten. Aber hier blieb ihm keine Wahl.

In demselben Augenblicke sah er Ada auf Miß Anne zueilen, ihr ein paar Worte zuflüstern und von dieser sich direkt zum Flügel begeben, der bereits von einem halben Dutzend Herren zugleich geöffnet wurde, während ein paar andre Marie herbeiführten, die ihnen mit freundlicher, in das Unvermeidliche ergebener Miene folgte.

Und das Unvermeidliche geschah. Rechts neben Marie tretend, die am Flügel Platz genommen hatte, und zu deren Linken ihr musikalischer Anbeter, der junge von Meiringen, stand, des Augenblicks harrend, wo er das Notenblatt umzuwenden haben würde, sang Ada zuerst »die Lotosblume«, die sich vor der Sonne Pracht nicht mehr geängstigt haben konnte, als die Sängerin vor der Gesellschaft zu thun sich den Anschein gab, und keinesfalls dem Monde ein holderes »Blumengesicht« entschleiert hatte, als sie jetzt darbot, indem sie das Köpfchen ein wenig hintenüber neigte und mit den blauen Augen schmachtend zur Saaldecke aufblickte; – dann »O danke nicht für diese Lieder!« in lebhafterem, allzu lebhaftem Tempo, wobei die blauen Augen unruhig im Saal nach dem »lieben Angesicht« zu suchen schienen, von dem sie alles »treulich abgelesen« haben wollten.

Ada war in die Gesellschaft zurückgetreten, den enthusiastischen Dank derselben hold verschämt entgegennehmend; Marie saß noch am Flügel, ein paar verlorene Accorde mit weichem Finger anschlagend, als sie plötzlich neben sich das Knistern eines seidenen Kleides hörte und, aufblickend, in die schwarzen Augen sah, die sie bis jetzt nur aus der Ferne bewundert hatte. Reginald ließ den Arm der Schönen aus dem seinen gleiten und stellte sie der Schwester vor, hinzufügend, daß Miß Anne sich auf die Begleitung derselben so sicher verlassen dürfe als auf die des Mister Smith.

Als Reginald den Namen ihres alten Freundes nannte, war für Marie die Befangenheit, die sie vorhin verhindert hatte, sich dem schönen Mädchen zu nähern, und die ihr jetzt in unmittelbarer Nähe derselben stärker als zuvor das Herz beklemmte, mit einem Male verschwunden. Mit einem Lächeln, das ihr von Herzen kam, nahm sie die ihr entgegengestreckte kleine Hand, welche den leisen Druck der ihren mit einem herzhaften Schütteln erwiderte.

Sie wollen so gut sein, mich zu begleiten, sagte das schöne Mädchen auf deutsch mit kaum hörbarem englischem Accent. Ich bin ein wenig enrhümiert heute; aber ich habe diesem Herrn mein Wort gegeben, und er könnte meinen, es wäre Ziererei, wenn ich es nicht hielte.

Reginald, der in einem Notenhefte blätterte, lächelte.

Sie wären die letzte, Miß Anne, sagte er, der ich Ziererei zutraute. Die Niggerlieder? nicht?

Ich möchte erst eine spanische Romanze singen, um meine Stimme zu probieren, erwiderte Anne.

Ah, vortrefflich!

Seite zwölf!

Hier ist es schon.

Reginald war stehen geblieben, die Noten umzuwenden.

Das geniert mich, sagte Anne mit einer abweisenden Handbewegung. Ihre Schwester und ich werden uns schon allein helfen.

Wie Sie befehlen!

Er trat zurück; Marie hatte einen Blick in die Noten geworfen.

Kennen Sie die Piece?

Nein.

Never mind!

Die Musik war nicht leicht; dazu störte Marien der ihr unverständliche Text, so daß sie ihre ganze Kunst zusammennehmen mußte, sich mit Ehren aus der Sache zu ziehen. Und die denn doch nicht sonderlich geraten zu wollen schien. Die zweifellos wohlgeschulte und wohllautende Stimme – ein tiefliegender Mezzosopran – litt hörbar unter einer Indisposition, welche die Sängerin sich zu schonen zwang, mehr als der leidenschaftliche Charakter der Romanze irgend zuließ. Marie that das leid; sie wußte, daß dies kein »Erfolg« sein werde, wie sie ihn doch dem schönen Mädchen von Herzen gegönnt hätte. Um so heftiger erschrak sie, als Anne, während das Lied kaum bis zur Mitte gediehen war, plötzlich schwieg und ruhig, als seien sie beide allein im Saale, sagte:

Es geht nicht; es war dumm von mir, das zu singen.

In dem um den Flügel her dicht gescharten Gesellschaftskreise hatten sich einige Hände zaghaft geregt – nur Reginald hatte ein lautes Bravo gerufen. Unter diesen Umständen klang es fast wie Ironie. Der junge Mann mochte das selber fühlen; ein brennendes Rot flammte auf seinen Wangen auf, und er warf einen wütenden Blick zu Herbert hinüber, der gegen einige Herren in seiner Nähe eine leise Bemerkung machte, worauf diese verstohlen lächelten.

Das schöne Mädchen selbst, dem der Unfall begegnet war, schien von dem allen nicht das mindeste zu merken. Mit völliger Unbefangenheit, als habe sie es schlechterdings nur mit Marie zu thun, und die ganze Gesellschaft da vor ihr sei eitel Luft, blätterte sie in dem Notenheft, welches sie vom Pult herabgenommen, und meinte, die Niggerlieder würden besser gehen. Abgesehen von ihrer heutigen Indisposition sei die forcierte Leidenschaftlichkeit der Romanze gar nicht ihre Sache, ja, ihr eigentlich zuwider; im Grunde genommen: komisch. Welcher vernünftige und anständige Mensch schreie wohl, was sein Herz bewege, und er sich selbst kaum eingestehe, so in die Welt hinaus? Da – in den Niggerliedern – sei ein anderer Schrei, den sie gelten lasse: der Not-, Angst- und Wutschrei, das Leid und der Groll, die Liebe und der Haß eines armen geknechteten Volkes. Das will ich Ihnen einmal singen; das wird Sie interessieren, wenn ich auch schlecht singe. Ich verspreche Ihnen, nicht wieder in der Mitte aufzuhören, weil ich wohl gesehen habe, daß es Ihnen unangenehm gewesen ist.

Nur um Ihretwillen, flüsterte Marie.

Um meinetwillen? erwiderte Anne verwundert. Warum? Ich mache mir nicht mehr daraus, als wenn ich einen Graben zu kurz genommen hätte. Kommen Sie!

Es war, sobald sie ihre Stimme erhob, wieder still geworden; aber konnte man dies wirklich für dieselbe Stimme halten? Man blickte einander verwundert an, als ob man seinen Ohren nicht traue. Oder war es nur, daß diese Lieder gerade diese Stimme forderten, die manchmal fast ein wenig heiser klang, wie die von Menschen, welche während einer schweren Arbeit singen, oder am Abend, nachdem sie des Tages Last getragen haben und sich doch der herabsinkenden Nacht nicht freuen können, aus der sie nur zu einem neuen Tage voll Mühsal erwachen werden? Es wußten nur wenige, daß es »Negerlieder« seien, was da gesungen wurde; aber es bedurfte dieser Erklärung für niemand, dem die Musik eine Sprache war. Für ihn, oft bis zum Erschrecken vernehmbar, bis zum Grausen verständlich, dann wieder mit der rührenden Harmlosigkeit und Naivität des Kindes lallte, schluchzte, weinte, klagte es aus diesen, wie die Natur einfachen, ergreifenden, auch wo sie lustig sein wollten, melancholischen Liedern.

Es mochten ihrer wohl ein halbes Dutzend gewesen sein; aber wie die Sängerin selbst eins nach dem andern mit immer gleicher, ja, wie es schien, stets wachsender Innigkeit vortrug, so war die Gesellschaft nicht müde geworden zu hören; und, als sie doch geendet, so wenig darauf vorbereitet, daß ein paar Sekunden tiefster Stille vergingen, während derer man hoffen mochte, dies solle eine kurze Pause sein. Nun, als man seines Irrtums inne wurde, brach der lang gehemmte Beifall in einem Sturm los, wie er sonst nur in Konzertsälen entfesselt zu werden pflegt. Des Händeklatschens, des Brava, Bravissima! da capo! da capo! wollte kein Ende nehmen; Anne aber, nachdem sie diese Huldigungen mit einer stolzen, kaum merklichen Neigung des schönen Kopfes erwidert, wandte sich zu Marie, die sich von ihrem Sessel erhoben hatte, und, plötzlich die Arme ausbreitend, zog sie dieselbe an ihren Busen, ihr zugleich einen herzlichen Kuß auf die Lippen drückend.

Marie, die schon während des Gesanges wiederholt peinlich mit ihren Thränen zu kämpfen gehabt hatte, fand in Worten keine Erwiderung auf diese scheinbar so extravagante und dennoch, wie sie durchaus fühlte, völlig treuherzig gemeinte Freundschaftsbezeigung. Auch war Anne bereits vom Flügel zurückgetreten und ließ sich von Reginald, den sie herangewinkt, quer durch den Saal nach den vorderen Salons führen, aus denen während des Gesanges die älteren Herrschaften mit lauschenden Ohren auf leisen Sohlen in den Musiksaal gedrängt hatten.


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