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Zwölftes Kapitel.

Eine Woche später an einem unfreundlichen Maitage um die Mittagszeit traten Doktor Brunn und Smith zusammen aus Ralphs Gemach. Nach ein paar Schritten in dem Korridor blieb der Doktor stehen und sagte:

Sie haben mich etwas zu fragen, Herr Smith?

Vorausgesetzt, daß Sie noch ein paar Minuten für mich hätten; erwiderte Smith.

Gewiß; sagte der Doktor; Sie kommen sogar meinem Wunsche entgegen. Ich hätte Sie, vielleicht nicht heute schon, aber doch an einem der nächsten Tage um eine Unterredung gebeten.

Smith nickte höflich mit dem weißen Haupte und führte den Arzt weiter bis zu einer Thür, durch welche sie in sein Zimmer gelangten: einen großen, nach dem Garten gelegenen, mit klösterlicher Einfachheit ausgestatteten Raum, dessen einziger bescheidener Schmuck ein paar offene, mit Büchern bestellte Regale waren. Auch ein in die Nähe des Fensters gerückter teppichloser Tisch war mit Büchern, Broschüren und Zeitungen bedeckt. Der Arzt blickte sich in dem Gemache um.

Ich sehe, sagte er lächelnd, Sie haben drüben die Gewohnheit des Indianers angenommen, der sein Wigwam auch nicht mit unnötigen Dingen vollstopft. Nur daran möchte es in einem Wigwam fehlen!

Und der Doktor legte die Hand auf den Berg von Zeitungen.

Man muß sich doch au courant zu halten suchen; murmelte Smith, dem Arzte einen Korbstuhl zurechtrückend, in welchem er selbst bei der Arbeit zu sitzen pflegte, und für sich einen der beiden übrigen Stühle von der Wand herbeitragend. Doktor Brunn hatte Platz genommen und sagte, in seiner Weise das flüchtige Wort des andren eifrig aufnehmend:

Eine schwere Aufgabe gerade jetzt, wo der Strom seinen Kurs jeden Augenblick wechselt, oder doch zu wechseln scheint. Ich glaube bestimmt: nur das letztere. Bismarcks Sinn ist auf seine Endziele so genau und fest gerichtet, wie die Nadel nach dem Pol: Herbeischaffung des Geldes für die Wehrbarmachung der Nation nach außen, ruhige Entwickelung im Innern – Tabaksmonopol und Sozialistengesetz. Die Herren Nationalliberalen können noch immer von ihren Velleitäten nicht lassen; endlich werden sie es doch müssen.

Warum auch nicht; sagte Smith; es ginge eben so in einem hin.

Doktor Brunns dunkle Augen hoben sich schnell. Verzeihung, sagte er; ich vergaß wieder einmal, daß wir politische Gegner sind. Ich habe sonst eine ziemlich scharfe Witterung für meine Widersacher; Sie bin ich fortwährend geneigt, für einen Gesinnungsgenossen zu halten. Es scheint mir ganz unmöglich, daß es anders sei, seitdem ich weiß, daß Sie achtundvierzig mit durchgemacht haben und noch dazu aktiv; ich muß sogar nach einigen Andeutungen unsres Freundes Ralph vermuten: in nicht großer Entfernung von dem Herd der Revolution, vielleicht – wenn ich meinem Ohre trauen darf, das Sie trotz Ihres selten reinen Deutsch zu einem Rheinanwohner macht – in dem Herde selbst. Ich habe immer gemeint, wer das, als Mann – wir werden ungefähr in einem Alter sein – miterlebte, all die Geisteskämpfe und Herzenskrämpfe durchgelitten und in Amerika so lange Zeit gehabt hat, über dies Kapitel seines Strebens und Irrens nachzudenken, der könne gar nicht anders, als ›Illusions perdues‹ darüber schreiben, einen Strich darunter machen und ein neues Kapitel anfangen. Und da ist es mir denn – ich darf es wohl sagen – geradezu schmerzlich, sehen zu müssen, daß ein Mann, wie Sie, von solchem imponierenden Wissen, mit solchen herrlichen Fernblicken in die Weite und Breite des Völkerlebens, zu so andern Resultaten gekommen sein soll. Ich sehe darin und muß darin eine Verwerfung meiner Strebungen sehen, fast den Vorwurf des Renegatentums. Ich höre, daß mir der von meinen Feinden nicht erspart wird. Mögen sie! Jüngere Leute, wie sie meistens sind, vermögen sie den Faden nicht zu finden, der von heute durch die vergangenen drei Jahrzehnte bis achtundvierzig, ja weiter bis in die dreißiger und zwanziger Jahre läuft; und meinen: wer damals ein Revolutionär gewesen, müsse es auch noch heute sein. O ja, wenn man die ganze Zeit verträumt, nicht sich ehrlich bemüht hätte, – wie Sie vorhin sagten: au courant zu bleiben! Und da hoffe ich denn: der Strom wird auch uns beide noch einmal zusammenführen, sowenig es auch jetzt den Anschein dazu hat.

Doktor Brunn hatte mit seiner herzgewinnenden Freundlichkeit Smith die Hand entgegengestreckt. Es war eine nicht unedle, aber große und kräftige Hand, in der die schmale, weiße Hand des andren fast verschwand. Dem beobachtenden Blick des Arztes fiel das zum andren Male auf. Ein Gedanke, der ihm schon wiederholt gekommen war, regte sich wieder. Doch mochte er denselben nicht in eine direkte Frage kleiden, sondern sagte nur im Scherzestone:

Nehmen Sie sich vor den Sansculotten in Acht! Nach Ihrer Hand bemessen, sind Sie in einer Straßenemeute vor der Laterne nicht sicher.

Ich habe nichts vom Aristokraten, erwiderte Smith, als das traurige Vorrecht, in der Verbannung nichts vergessen und nichts gelernt zu haben.

Er bemerkte, daß eine Wolke über das Gesicht des Arztes zog, und fügte schnell hinzu:

Jedenfalls bin ich ein schlechter Lernkopf und ganz gewiß kein politischer; nicht einmal ein philosophischer, obgleich mich manche Leute in dem Verdacht haben. Ich bin eben nichts als ein Träumer.

Sagen Sie: ein Idealist, rief der Doktor lebhaft. Und gerade das macht Sie mir wert. Ohne Idealismus ist doch all unser Thun und Treiben nur tönend Erz und klingende Schelle. Darin, glaube ich, stimmen wir völlig überein, und unsre ganze Differenz ist, soviel ich sehe, die: ich halte dafür, daß wir in das Land des echten Idealismus nur durch die heutige Wüste des Realismus gelangen können; Ihnen ist der Wüstenweg ein für allemal ein Irrweg. Oder mit einem andren Bilde: Sie möchten das edle deutsche Gold völlig rein halten; ich will es, damit es den rechten Kurs auf dem Markte des Lebens habe, mit einer entsprechenden Portion dauerhaften Messings legieren. Und damit wären wir, wenn ich nicht irre, bei dem Thema angelangt, welches wir eigentlich miteinander besprechen wollten; ich meine bei unsrem lieben Patienten. Darf ich Ihnen meine Ansicht über ihn und seinen Zustand und was da zu thun ist, ganz offen sagen, ohne Ihrer Ansicht, die Sie ihn ja so viel länger und besser kennen, irgend präjudizieren zu wollen?

Sie würden damit meinem Wunsche nur entgegenkommen; sagte Smith.

Ich wußte es; erwiderte der Arzt, und dies nun ist meine Ansicht: die Krankheit des Professors ist kein organisches Herzleiden, was auch meine Herren Kollegen darüber gesagt haben mögen, sondern ein hochgradig nervöses, das vom Zentralsystem ausgeht und allerdings bei ihm am stärksten im Herzen reflektiert. Das kann, wenn nicht ernstlich dagegen eingewirkt wird, – infolge der dauernd und gelegentlich sehr gestörten Blutzirkulation und der überspannten Anforderungen, welche, diese Störungen wieder gutzumachen, an das Organ selbst gestellt werden, – allmählich sich zu einem örtlichen Leiden auswachsen. Ja, dies Leiden kann sehr schnell eintreten, sobald eine schädliche Gelegenheitsursache sich aufthut, zum Beispiel: ein Gelenkrheumatismus, dem so nervöse Organismen nur zu sehr ausgesetzt sind. Dagegen kann nur die äußerste Vorsicht einigermaßen schützen. Aber wie ist dem Grundübel: der Hypernervosität beizukommen? Meiner Meinung nach einzig und allein dadurch, daß unser Patient gezwungen wird, aus der Region eines fast absoluten Geistes- und Seelenlebens, in welcher edle Amerikaner eine Zuflucht vor der sie umgebenden Dollaranbetung zu finden hoffen, sich herabzulassen zu dem nicht gemeinen, sondern schlechtweg realen, das heißt: kreatürlichen Dasein, in das wir nun einmal hineingeboren sind, und von dem wir uns eben deshalb nicht ungestraft losmachen können. Aber es ist billig, daß ich hier, wo wir aus der Pathologie in die Therapie des Falles kommen, dem alten bewährten Freunde, der die Psyche, die moralischen Qualitäten und gemütlichen Interessen und Neigungen des Patienten so genau kennt, den Vorrang lasse.

Der Arzt hatte den forschenden Blick scharf auf Smith gerichtet, der nun die großen blauen Augen aufschlug und, jenem voll ins Gesicht sehend, in seiner milden Weise sagte:

Ich meine: mein lieber Ralph möchte gerettet werden, wenn er ein Mädchen fände, das er von Herzen liebte; und dies Mädchen seine Liebe erwiderte und sein Weib werden dürfte.

Der Arzt sprang vom Stuhl empor:

Bravo! rief er; bravissimo! Und Sie wollen kein Philosoph sein! Eine ganze philosophische Fakultät hätte keine bessere Lösung gefunden!

Ein helles Rot der Freude färbte Smiths blasse Wangen; die blauen Augen leuchteten auf; er sah plötzlich um zwanzig Jahre verjüngt aus.

Sie glauben also wirklich, daß, fände sich ein solches Mädchen, es sein Weib werden dürfte? fragte er.

Aber ich verstehe Sie nicht; sagte der Arzt.

Freilich, erwiderte Smith, Sie würden ja meinen Gedanken nicht so warm aufgenommen haben, wenn er unausführbar wäre; Ralphs Sorge begründet wäre, daß sein Lebensschiff zu zerbrechlich ist, um ein geliebtes Weib, geliebte Kinder mit hinein zu laden.

Auf meine Verantwortung! rief der Arzt. Aber jetzt verstehe ich manches – gewisse Aeußerungen – Fragen, die er an mich gerichtet hat, und die ich auf eine ganz andre Quelle zurückführte.

Nicht wahr? sagte Smith eifrig. Es ist das schon seine Befürchtung seit Jahren – eigentlich, solange ich ihn kenne. Jede Wallung, die sich ihm für ein liebenswürdiges weibliches Wesen regen wollte, hat er mit Spott und Satire gewaltsam unterdrückt, um dafür seiner Schwester eine fast abgöttische Liebe zu widmen. Es wird schwer sein, ihn davon zu überzeugen, daß er lieben darf.

Die Hauptsache scheint mir, erwiderte der Arzt lächelnd, daß er sich einmal rechtschaffen verliebt. Oder wäre etwa dieser kritische Punkt bereits erledigt?

Smith, der unter dem spähenden Blick des Arztes seine Augen wieder gesenkt hatte, blieb die Antwort schuldig.

Nun, nun, fuhr jener fort; ich will nicht indiskret sein. Die Frage gehörte nur, sozusagen, zum Thema; und die Erscheinung einer jungen, sehr schönen Dame hier im Hause, die mir in den letzten Tagen wiederholt aufgefallen ist, hat sie mir vielleicht zu nahe gelegt. Habe auch die Ehre gehabt, ihr im Salon von Missis Curtis vorgestellt zu werden – ein Fräulein von Ilicius, Tochter des vortragenden Rates im Finanzministerium. Sie schweigen? Qui tacet, adnuit! Da kann ich nur noch wünschen, daß die junge Dame ebenso liebenswürdig ist, wie schön, und ebenso geistreich, wie liebenswürdig. Ich kenne die Familie nicht, aber den Vater sehr gut – aus dem Reichstage, wo er jetzt einen besonders schweren Stand hat mit seiner offiziellen Verteidigung von Regierungsansichten, die eigentlich gar nicht mehr die Ansichten der Regierung sind. Hätte den Mann für klüger gehalten! Sonderbar, höchst sonderbar! Der Sohn des amerikanischen Ultraliberalismus und die Tochter der deutschen Ultrareaktion! Da sage mir einer, daß die Welt, in der die Extreme so zusammengeschüttelt werden, nicht rund ist und sich dreht!

Er hatte seinen Hut ergriffen und begann von neuem zu lachen.

Ist es nicht auch eine wunderliche Sache, daß wir alten ernsten Männer, die wir beide keine Kinder haben, hier auf Tod und Leben konspirieren müssen, auf daß die Welt doch ja nicht untergehe? Geschieht uns ganz recht. »I was always of opinion, that an honest man who married« – der liebe, herzige Goldsmith! Jawohl! Wir Sünder »continued single and only talked of population!« Geschieht uns recht, ganz recht!

Der Doktor ging, nachdem er Smith lebhaft die Hand geschüttelt, augenscheinlich nicht unzufrieden, daß er eine Unterredung, die ihn sehr ernsthaft interessiert, mit einem so glücklichen Citat hatte schließen können.

Smith war auf derselben Stelle stehen geblieben, so in seine Gedanken versunken, daß er die Unterlassung der gewohnten Höflichkeit, den Arzt bis zur Thür zu begleiten, nicht bemerkte.

Es wäre ein ungeheures Glück, murmelte er. Ich würde es gar nicht fassen können – in dem alten mürben Schädel da – und gar im Herzen – es spränge vor lauter Jubel in tausend Scherben. Möchte es, wenn sie nur glücklich wird – beide, beide, guter Gott – beide!

Er hatte die Hände zusammengekrampft; ging so, das Haupt tief gesenkt, ein paarmal im Zimmer hin und her und blieb dann plötzlich stehen.

Ich sehe kein andres Mittel – versuchen muß ich's – vielleicht gelingt's. Auch sie braucht einen guten Engel, Gott weiß es! und – gerade deshalb wird sie's mir abschlagen. Ist sie ihr doch alle diese Tage aus dem Wege gegangen. Wir werden ja sehen.

Er war in Begriff, auf den Knopf der elektrischen Klingel an der Thür zu drücken, zog aber die Hand wieder zurück. Sehr wahrscheinlich würde sie sich verleugnen lassen, wie sie bereits ein paarmal in diesen Tagen gethan; es war besser, wenn er direkt zu ihr ging.


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