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Vierzehntes Kapitel.

Nie war Marie das Leben so schwer, so alles Reizes bar erschienen, wie in diesen Tagen. Sie versuchte sich einzureden, es sei das trübe Wetter, das sie so melancholisch stimme; es wollte ihr nicht gelingen. Sie erinnerte sich der Stunden, die sie sonst wohl am Fenster ihres Stübchens zugebracht: über eine Handarbeit gebeugt, versunken in die Lektüre eines guten Buches, angeheimelt von dem Rinnen des Regens, sympathisch dem Rauschen des Windes in dem Gezweig der Bäume lauschend; und daß stets die Natur, mochte sie ihr ein frohes oder trübes Antlitz zeigen, ihre beste Freundin in der Einsamkeit, ihre Trösterin im Kummer, ihre Lehrerin in stillem beharrlichem Walten und Schaffen gewesen war. Nein, am Wetter lag es nicht, und scheinbar auch nicht an den Menschen. Man fuhr ja fort, sie, die sich nur immer als eine leidige, mit kaum leidlichem Anstand geduldete Zugabe zur Familie gefühlt hatte, mit ausgesuchter Höflichkeit zu behandeln, mit Zuvorkommenheiten aller Art zu überhäufen; sie ins Vertrauen zu ziehen, weit mehr, als ihr lieb war; ihren Rat zu heischen, sich ihrer Zustimmung zu versichern mit einer Beflissenheit, die sie manchmal fragen ließ, ob man nicht seinen Spott mit ihr treibe. Aber man blieb gleich ernsthaft dabei, und sie konnte nicht zweifeln, daß man es ernsthaft meine, obgleich es doch im Grunde so lächerlich war. Was hatte ihr denn diese plötzliche übertriebene Geltung verschafft, als die Gunst, in welcher sie vierundzwanzig Stunden lang bei Anne Curtis gestanden? als der Zufall, daß die Mutter vom Fenster aus beobachtet hatte, wie ihr Anne beim Abschied nach jener Spazierfahrt die Hände küßte? und etwa der Nachschein dieses Sonnenblicks, daß Anne zu Hause fortfuhr, in freundlichen rühmenden Ausdrücken von ihr zu sprechen, die dann getreulich von Reginald und Ada berichtet wurden? Das war ihre ganze Anwartschaft auf die Ausnahmestellung, die man ihr jetzt in der Familie einräumte, und – von der man sie zweifellos herabstoßen würde, wenn sich jene Hoffnungen nicht realisierten; es sich zeigte, daß die Verwirklichung derselben schließlich auch ohne sie geschehen konnte. Jedenfalls war diese ihr bezeugte Freundschaft und Güte eitel Lug und Trug, kühle Berechnung, planvolle Selbstsucht.

Und eben das war es, was sie bekümmerte, empörte.

Aber hatte sie denn in all diesen Jahren noch immer nicht gelernt, in der Selbstsucht die Triebfeder zu sehen, welche das ganze Leben sämtlicher Mitglieder ihrer Familie im großen, wie im kleinen in Bewegung setzte? Hatte sie auch nur von einem je eine Handlungsweise beobachtet, deren Motiv uneigennützige Liebe gewesen wäre? ja, nur ein Wort vernommen, das eine großherzige Gesinnung eingegeben hätte? Und wenn man einmal sein Opfer brachte, wußte die linke Hand nicht stets unheimlich genau, was die rechte that? Würde man es auch nur gebracht haben, hätte der Altar nicht an den Straßenecken gestanden unter der Kontrolle der öffentlichen Meinung, die respektiert, eines Winkes, eines Befehles von oben her, dem man gehorsamen mußte? Von oben her! Aus jenen Regionen, nach denen man allezeit eifrig schielte, für die man das bißchen von Empfindung, das sich die kalten Herzen abgewinnen konnten, aufsparte – immer in der Voraussetzung, es werde die loyale Gesinnung in der Förderung der Karriere, womöglich direkter Bevorzugung; der Gewährung irgend welcher persönlicher Vorteile – eine gelegentliche Dekoration nicht zu vergessen – den erwarteten Lohn sicher finden!

Und dachte, empfand man, wie in ihrer Familie, nicht ebenso in dem großen Kreise der Bekannten, soweit sie dieselben übersah? Schwärmten in der sozialen Frage die älteren Herren nicht für Zunftzwang und Innungswesen? Hielt die neue Schule mit Herbert nicht dafür, daß man den sozialistischen Unruhstiftern die Peitsche eines drakonischen Ausnahmegesetzes geben müsse und das Zuckerbrot gewisser Erleichterungen ihrer Lage nicht zu reichlich bemessen dürfe? Oder mit Reginald, daß heute, wie ehemals, gegen Demokraten nur Soldaten hülfen? Kam über ihre und ihrer jungen Freunde Lippen je eine Rede, die herzliches Mitgefühl für die Not der Armen und Elenden verraten hätte? Und wenn man ihnen in ihrem Berufe, wie er nun immer war, einen geschäftigen Eifer, eine gewisse Pflichttreue nicht absprechen konnte, erhoben sie sich in der Auffassung dieses ihres Berufes jemals zu hohen, rein menschlichen Gesichtspunkten? Haftete ihrem Denken nicht allzuoft etwas Gemeines, Banausisches an? der widerwärtige Charakter des Strebertums in seinen greulichen Schattierungen? Ja, gab es unter diesen feinen Herren, die sich so korrekt benahmen und als die Stützen der gesellschaftlichen Ordnung betrachteten, nicht so manchen, der sich von dem Vagabunden Hartmut Selk nur dadurch unterschied, daß er sein Metier der Ausnutzung der Gesellschaft zu eigenem Frommen mit der ehrwürdigen Flagge des Staatsdienstes klüglich zu decken wußte, und der Ausgestoßene in der tollen Jagd nach dem Glück den Piraten niemals verleugnen konnte?

War es immer so gewesen?

Im treuen Gedenken ihres Vaters, den sie nie gekannt, hatte sie die Geschichte der Revolution von achtundvierzig – dem Jahre der Schmach, wie es in ihrer Familie genannt wurde – zu einem besonderen Studium gemacht. Sie schien ihr verworren und dunkel, diese Geschichte, voller Widersprüche, schimärischer Aspirationen, hirnverbrannter Donquichotterien, ärgerlicher Rechthaberei, nichtsnutziger Gezänke; voll auch von Wankelmut, Kopflosigkeit, ja schlimmer: kläglicher Feigheit und schamlosen Verrates der Sache, der man zugeschworen. Dann aber, wenn diese traurige Mär sie beleidigte und betrübte, stieß sie wieder auf so manchen Zug wackerer Mannhaftigkeit, die bis zum letzten Atemzuge aushielt, von Ueberzeugungstreue, die ihr alles für die geliebten Ideen hinopfern konnte. Und dann hatte sie alle diese Züge zu dem Bilde des Vaters vereinigt, der sich, opferfreudig, mit vollem Gewaffen in den Abgrund der Revolution stürzte, und sie hatte sich gesagt: er war ein Mann! Niemals werdet ihr seinesgleichen sehen heute, wo sie zu ihrem obersten Gott einen Patriotismus machen, hinter dessen erhabenem Antlitz sich nur zu oft die bare Herrschsucht, die nackte Selbstsucht mühsam verbergen, um in dem privaten Leben jede Hülle schamlos von sich zu werfen.

Das Treiben in ihrer Familie während der letzten Wochen hatte dazu eine Illustration gegeben, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen ließ. Am liebsten hätte eigentlich jeder allein geherrscht, nur daß man sich der überlegenen Klugheit und Energie Herberts hatte beugen müssen: gefügig der schwache Vater; weinerlich die eitle Mutter; mit frivoler Leichtfertigkeit Stephanie, heimlich Rache brütend Reginald; voll Wonne Ada, weil sie unter diesem Regime etwas Erkleckliches für sich ergattern zu können hoffte.

Und, wenn sie ehrlich sein wollte, hatte die Familie Curtis, wo man und soweit man auf sie spekulierte, die selbstischen Pläne irgend durchkreuzt? Herr Curtis die verlangend ausgestreckten Hände der Ilicius nicht bereitwilligst ergriffen? das schlechte Wetter der letzten Tage Anne abgehalten, ihre gemeinsamen Spazierritte mit Reginald zu machen? den Professor, Ada, die sonst jeden Regentropfen scheute, den Weg nach der Bellevuestraße, oft zu Fuß, zurücklegen zu lassen? So waren Annes feurige Reden von dem Manne, den sie lieben könne, auch nur ebensoviele Phrasen gewesen; die hochsinnige Tragik von Ralphs Weltanschauung eine Deklamation, die mit der Liebeserklärung an eine Soubrette endigte. Und die sympathisch edle Erscheinung des mildblickenden, wie mit sanfter Engelszunge redenden Herrn Smith – Marie meinte, daß die Täuschung, die sie hier erfahren, sie doch mehr und inniger kränke, als alles andere. Welche Liebe, welche Güte, welche Teilnahme hatte er ihr bei jener ersten Gelegenheit bezeugt! Wie sorgsam, dem treuen Eckart gleich, sie vor der Gefahr behütet, in die sie sich eben stürzen wollte! Wie innig hatte seine Bitte geklungen, sie möge ihm nicht wieder ganz entschwinden, möge versuchen, ihm nahe zu bleiben! Er mußte ja wissen, wie hoch sie, die Einsame, Liebeverlangende, diese Güte, dieses Entgegenkommen beglückt hatten! Nun waren Wochen vergangen: nicht ein Lebenszeichen hatte er gegeben, keines von ihr geheischt! Hätte sie seine Briefe nicht gehabt, nicht durch Reginald und Ada gelegentlich von ihm gehört, vor allem nicht den Schmerz da in der Brust empfunden – wahrlich, sie würde haben glauben müssen: dies sei nur ein Traum gewesen, wie jener Träume einer, in welchen sie mit einer himmlischen Gestalt, die ihr Vater war, Hand in Hand durch schattige Wälder, über sonnige Wiesen wanderte, und von einer Stimme, wie sie nur aus eines Vaters Munde tönen konnte, vernahm, daß sie sein Kind, daß sie sein einziges liebes, geliebtes Kind sei.

So rausche denn, Frühlingsregen, stürme, Frühlingswind zum erstenmal, ohne daß mein Herz mit euren wilden Accorden harmoniert und mit euch hofft, es müsse sich nun alles wenden! Nein, für mich keine Hoffnung fürder auf einen Sommer voll froher, segenbringender Arbeit; auf einen Herbst, der zufrieden auf das Vollbrachte zurückschaut und sich in des Todes winterliche Decke hüllt zu vielwillkommenem Schlaf! Und doch, wie bin ich dieses öden Daseins müde! Wie sehne ich mich fort aus dieser Faschingsposse! dem Maskengewimmel, das mich umgrinst und mich zu kennen behauptet! Sie haben ja recht, wenn ich nicht den Mut habe, das Narrenseil zu zerreißen und mir selbst zu leben!

Sie sprang von ihrem Sitz am Fenster empor und ging mit starken Schritten in ihrem Stübchen auf und ab.

Ja, jetzt wollte sie es ausführen, mochten sie alle sich daran ärgern und sie unverständig noch tiefer stoßen, als sie sie jetzt sinnlos erhöht hatten! In dem Hospital würde man ihr wieder arg zusetzen mit Beten und Kirchengehen; schlimmer noch als in ihrem Noviziat. Die Oberin war unerbittlich in ihrem bigotten Fanatismus. Mochte sie! Der Gott, zu dem sie nicht beten konnte in Tempeln, aus Menschenhänden gemacht, er würde ihr den Götzendienst vergeben für ihre ehrliche Arbeit auf dem unendlichen Felde, das er vor uns aufgethan in seiner armen leidvollen Menschheit! Und hier im Hause hatte man nicht einmal einen anständig scheinenden Vorwand mehr, sie zu halten. Herbert freilich würde sagen, daß nach ihrem Fortgang der alte Schlendrian, die alte Wüstheit in der häuslichen Wirtschaft wieder einreißen werde. Hatte sie denn diese Häuslichkeit gegründet? War sie in derselben vorher je etwas andres gewesen, als eine übernommene Sklavin, deren Kraft man erbarmungslos ausnutzt? So mochte man sehen, wie man sich ohne sie weiter behalf: Zu der Komödie der Herzensirrungen, welche die Söhne und Töchter der Curtis und Ilicius einander vorspielten, hatte sie ihre Komparsenrolle ja geliefert! Mochten die beiden Liebespaare nun selber für den glücklichen Ausgang des Handels sorgen! Selbst Stephanie konnte jetzt keinen Anspruch an ihre Dienstbereitschaft erheben. Die Uebersiedelung in die neue Wohnung hatte sich schon eine Woche früher, als man geglaubt, bewerkstelligen lassen. Stephanie behauptete, sich so glücklich, so behaglich nie befunden zu haben. Herbert wollte freilich wissen, daß Graf Karlsburg, der noch immer Geschäfte in Berlin und sich ein Absteigequartier in der Potsdamer Straße gemietet hatte, in der Genthiner Straße allabendlicher Gast sei, auch wenn Egon mit Reginald im Kasino war. Sie hatte gethan, was sie konnte: nach der Scene zwischen den Brüdern offen mit Stephanie gesprochen, ihr unumwunden erklärt, daß sie und warum sie sich für Herberts Maßnahmen entschieden habe. Stephanie hatte zuerst geweint, dann geschmollt, dann gelacht und schließlich, sie umarmend, ausgerufen: es ist ja alles dummes Zeug, lieber Schatz! Wie kann man sich den Kopf mit solchen Kindereien zerbrechen!

Nun gut, sie wollte sich den Kopf nicht mehr zerbrechen und gewiß auch nicht das Herz. Mochten sie alle sich ihren »Fliegentod« trinken, wie Ralph gesagt hatte an jenem unvergessenen Abend – er, der sich nun selber kein würdigeres Ende wußte!

Es wurde an die Thür geklopft. Pauline, die unter dem neuen Regime sehr still und bescheiden geworden war, kam herein mit einem Brief, den ein Diener aus der Bellevuestraße gebracht habe. Er wisse nicht, ob er Antwort bekomme. Sie habe ihm gesagt, daß er warten möge, bis das gnädige Fräulein den Brief gelesen.

Marie sagte, es sei gut; Pauline möge sich in der Nähe halten.

Wieder allein, betrachtete sie den Brief, dessen Adresse von Smiths Hand war, in dem wunderlichen Gefühl, daß er etwas für ihr ganzes Leben Entscheidendes enthalten müsse. Wunderlich in der That. Was gab es hier noch zu entscheiden? Ihr Entschluß war ja gefaßt. Und was konnte er ihr schreiben, als eine Einladung etwa, die aufzusetzen Anne selbst zu bequem gewesen war? Oder war er so rücksichtsvoll, sie auf die Doppelverlobung vorzubereiten? sie ihr vielleicht als vollendete Thatsache anzuzeigen – ihr vor den andern! und so auf das Possenspiel einzugehen, das man in der eigenen Familie mit ihr trieb?

Und während sie sich das sagte, und daß dies alles sie gar nichts angehe, und sie Herrn Smith das schreiben wolle ohne Umschweife, überfiel sie wieder, stärker als im ersten Moment, die seltsame Bangigkeit vor etwas Ungeheurem, das sie da verschlossen in der Hand hielt.

Mit einem gewaltsamen Entschluß raffte sie sich zusammen. Was es auch war – unten wartete der Diener auf die Antwort.

Unten im Flur wartete der Diener auf die Antwort und liebäugelte mit Pauline, die auf dem Absatz der ersten Treppe sich über das Geländer bog. Es war sonst niemand da, aber, auf die Entfernung sich zu unterhalten, schien gefährlich. So schnitt denn Johann eine verliebte Grimasse nach der andren, über die sich Pauline totlachen wollte, und erkühnte sich endlich zu einer Kußhand, worauf ihm Pauline die Zunge ausstreckte. Plötzlich ertönte die Klingel aus dem Zimmer des gnädigen Fräuleins. Pauline, die ursprünglich eine Etage höher gestanden und sich nur allmählich so weit herunter gewagt hatte, flog die Treppen hinauf. Johann betrachtete seine stattliche Gestalt in dem Flurspiegel und strich sich wohlgefällig mit den weißen Baumwollhandschuhen den Kotelettbart. Da kamen die schnellen Füßchen schon wieder treppabwärts: Johann wandte sich:

Nun?

Es ist keine schriftliche Antwort. Sie will heute mittag selber kommen.

Pauline blickte sich vorsichtig um und flüsterte:

Wissen Sie, was in dem Briefe gestanden hat?

Wie sollte ich denn! Warum?

Es muß etwas ganz besonderes sein. Sie war kreidebleich und hielt sich an dem Stuhl fest – so! Sprechen konnte sie kaum.

Na, ich will ein bißchen aufpassen, so was kriegt man ja immer heraus.

Und ich erfahre es dann?

Wenn Sie mir einen Kuß geben.

Sie sind nicht gescheit.

Schnell!

Da!

Wieder ertönte die Klingel – diesmal die der Gnädigen selbst. Pauline huschte davon; Johann drückte den Tressenhut fester auf den Kopf und ging, seine Botschaft in der Bellevuestraße zu überbringen.

 

Ende des zweiten Buches.


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