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Achtes Kapitel.

Es gehört zu den andern Rätseln, die sie Dir aufgibt, sprach Marie bei sich, als bereits am nächsten Morgen ein Billet Annes eintraf, in welchem Reginald gebeten wurde, ihr seine erste freie Stunde schenken zu wollen. Reginald hatte der Schwester diese Mitteilung nur im Vorübergehen gemacht, als er, in Begriff, sich nach der Kaserne zu begeben, sie auf der Treppe traf. Der Ton war möglichst gleichmütig, ja ein wenig spöttisch gewesen; aber seine Lippen hatten gezittert, und Marie zweifelte nicht, daß er die freie Stunde noch an demselben Vormittage finden werde. Ganz zufällig und gegen sein Erwarten war ihm das gelungen, wie er – wiederum im gleichmütigsten Ton – erzählte, als er zu Mittag nach Hause kam. Es hatte sich um den Ankauf eines Pferdes gehandelt, von dem er gestern Miß Anne gesagt, daß er es ihr in jeder Beziehung empfehlen und sie es jeden Augenblick haben könne. Er war mit ihr nach dem Tattersal gefahren, wo der Gaul stand. Anne hatte ihn Probe geritten – ich sage Dir, Marie: großartig! – ein bißchen wild vielleicht, aber großartig! – Preis spielte keine Rolle – selbstredend – in einer halben Stunde war alles erledigt. Dann noch eine gemeinschaftliche Fahrt zu meinem Lieferanten, da Miß Anne mit Sattel- und Zaumzeug, das wir übrigens gleich mitgekauft hatten, nicht zufrieden war. Na, wie sie es haben will, gibt es bei uns nicht; muß erst gemacht werden – vorläufig behelfen wir uns mit dem alten. Vorläufig heißt: gleich morgen vormittag, wo ich sie begleiten soll. Es paßt mir vortrefflich, da ich morgen zufällig keinen Dienst habe. Ich denke, ich werde Ehre mit ihr einlegen.

Aber, lieber Reginald, sagte die Geheimrätin, welcher der Stolz über die Erfolge ihres Lieblings aus den Augen leuchtete; das geht doch nicht so – Ihr beide allein – das würde zu sehr auffallen, wenn Ihr auch natürlich den Paul mitnehmt.

Verzeihe, liebe Mama, antwortete Reginald; Miß Anne hat sich einen Groom ausdrücklich verbeten. Ich weiß nicht, ob das amerikanische Sitte oder ihr besonderer Geschmack ist. Auf jeden Fall habe ich mich, als Kavalier, den Wünschen meiner Dame zu fügen.

Die Geheimrätin beeilte sich, dem letzteren Ausspruche zuzustimmen, indem sie dabei Marie verstohlen lächelnd ansah. Marie konnte das Lächeln nicht erwidern. Reginalds kaum verhüllter Uebermut ließ sie an das Wort von dem Tanzen auf einem Vulkan denken. Und wie wenig Ursache sie selbst hatte, diesen ihren Bruder zu lieben, – das Schicksal, eine Heirat einzugehen, in der die Frau »sich vor sich selbst retten wollte«, mochte sie, durfte sie ihm nicht wünschen.

Der Geheimrat hatte das Gespräch, das noch eine Zeitlang zwischen Mutter und Sohn so weiter lief, ohne sich in dasselbe zu mischen, mit sichtbarer Teilnahme verfolgt; ebenso Ada. Herbert war zum Glück heute nicht zugegen: bei seinem Präsidenten geladen; so brauchten die Mutter und Reginald auf ihn keine Rücksicht zu nehmen. Daß er jedes Wort des Tischgespräches von Ada wiedererfahren würde, wußte Marie freilich, und nicht sie allein. Schienen doch sogar die Mutter und Reginald es darauf anzulegen, Herbert durch seine getreue Vermittlerin kund zu thun, wie die Sachen ständen, und daß seiner Liebe Müh' gründlich verloren sei!

Ob Herbert zu derselben Ueberzeugung gekommen war, konnte Marie in den nächsten Tagen um so weniger erkennen, als er ihr sichtbar auswich. Vielleicht gereute ihn das halbe Geständnis, welches er ihr am Abend der Gesellschaft, gemacht hatte, als er sie aufforderte, sich Annes »anzunehmen«, und so verächtlich von Reginald sprach, bei dem nichts ernsthaft sei als seine Schulden. Möglicherweise hatte er sie auch im Verdacht, auf der Seite seiner Gegner zu stehen: kamen doch die Mutter und Reginald bei jeder Gelegenheit auf die innige Freundschaft zu sprechen, welche zwischen ihr und Anne bestehen sollte! Wobei denn nur das Merkwürdige war, daß gerade jetzt von dieser Freundschaft wenig in die Erscheinung trat. Anne ließ sie zwar durch Reginald, mit dem sie täglich ritt, grüßen; aber weder hatte die Freundin sie zu einer abermaligen Spazierfahrt abgeholt, noch zu einem Besuche auffordern lassen, was doch Ada zweimal kurz hintereinander geschehen war – wie Marie allerdings annehmen mußte: auf Ralphs Betrieb. Wenigstens wußte Ada die Liebenswürdigkeit des Professors, der übrigens noch immer unter den Folgen seines neulichen Anfalls litt, nicht genug zu rühmen. Auch zeigte sie mit Stolz Longfellows Gedichte in prachtvollem Einbande, welche er ihr geschenkt, vielmehr – sie konnte es beschwören und Reginald, der dabei gewesen, würde es bestätigen! – geradezu aufgenötigt hatte. Ein andres Mal hatte er auf ihre Bitte Poes »Raben« vorgelesen – englisch natürlich, Mama, und so ergreifend! Du kannst Dir keine Vorstellung davon machen. Ich habe so weinen müssen!

Und Ada schlug die blauen Augen auf und wieder nieder und zwinkerte mit den langen Wimpern, als ob sie einen bei der großen Gelegenheit unverbrauchten Thränenrest mühsam zurückhalte – vermutlich für die nächste große Gelegenheit!

Nein, Herbert hatte ersichtlich keine Ursache, Marie zu zürnen, weil sie für Reginald gegen ihn konspiriere. Offenbar war er auch binnen kurzem zu dieser Einsicht gekommen und suchte sein Unrecht wieder gutzumachen, indem er die übrigen Familienmitglieder in der achtungsvollen Freundlichkeit, die ihr jetzt alle entgegentrugen, womöglich noch zu überbieten suchte und sie zu seiner Vertrauten in einer andren Angelegenheit machte, von der er sagte, daß sie ein wenig wichtiger sei, als »das läppische Gedahle Reginalds mit Miß Anne Curtis.«

Die zähe Energie und steinerne Rücksichtslosigkeit, welche Marie an Herbert kannte, hatte er auch jetzt gegen Stephanie und ihren Gatten bewiesen. Die Uebersiedelung des leichtfertigen Ehepaares samt dem Kinde war beschlossene Sache und stand schon in den nächsten Tagen bevor. Er selbst war nach Neusitz hinausgefahren und hatte dort alles Nötige angeordnet. Der Inspektor sollte einstweilen auf dem Gute bleiben, von den Sachen nur das Unentbehrliche und wenig Kostbare mit zur Stadt genommen werden. Hier die entsprechenden Einrichtungen zu treffen, war Maries ausschließlicher Sorge vorbehalten, da Herbert sich jede Einmischung, insonderheit der Mutter, auf das Bestimmteste verbat. Es blieb dabei, daß die Flüchtlinge in dem elterlichen Hause absteigen sollten: das jenseits des Kanals, in einer der neuen Straßen, drei Treppen hoch gelegene, sehr anspruchslose und sehr billige Quartier, das Herbert für sie gemietet hatte, konnte erst am fünfzehnten Mai fertig gestellt und bezogen werden. So hatte denn, um für sie Platz zu schaffen, Reginald das Haus zu räumen. Es war das immer sein Wunsch gewesen; jetzt kam ihm die Sache sehr ungelegen. Es hatte sich in den dienstfreien Stunden von der Rauchstraße aus so bequem mit dem Hause in der Bellevuestraße verkehrt; daran war jetzt bei der großen Entfernung des neuen Quartiers in der Nähe seiner Kaserne nicht mehr zu denken. Herrendienst geht vor Damendienst, meinte Herbert spöttisch; es wird ihm im Avancement nicht schaden, wenn man ihn jetzt ein wenig öfter in der Kaserne zu sehen bekommt. – Aber auch Ada, die er doch sonst auf jede Weise bevorzugte, mußte aus ihrem behaglichen Zimmer in der Bel-Etage weichen und sich für die nächsten Wochen mit einer kleinen Mansardenstube neben der Maries behelfen, nachdem Marie erklärt hatte, daß wenn den Gästen nicht ein anständiger, ihren bisherigen Gewohnheiten einigermaßen entsprechender Aufenthalt im Hause geboten würde, sie für ihr Teil eine weitere Mitwirkung versagen müsse.

Darüber kam es denn zwischen ihr und Herbert zu einer Auseinandersetzung, in welcher sich dieser zum erstenmal über den Stand der Dinge, besonders über die Vermögenslage offen ausließ.

Ich muß das thun, sagte er, weil Du die einzige bist, an deren Urteil und Zustimmung mir wirklich liegt, und ich sonst bei Dir in Verdacht gerate – vielmehr bereits in Verdacht geraten bin – eigensinnig und hart zu sein, während ich doch nur unser aller Wohl im Auge habe, – das Deinige wahrlich nicht zuletzt. Egon hat – ich kann es aktenmäßig nachweisen – in diesen vier Jahren Stephanies einstmaligen Erbanteil vollständig verbraucht. Stephanie hat also nur noch die Ansprüche zu machen, welcher mündigen, subsistenzlos gewordenen Kindern an ihre vermögenden Eltern gesetzlich zusteht. Das läuft auf die geringfügigen Mittel hinaus, die eben zum Unterhalt notwendig sind, so daß, was ich jetzt Stephanie und Egon zubilligen will, pure Großmut ist. Weiter kann ich nicht gehen, denn schon dies und selbstverständlich alles darüber hinaus, wirst Du begreifen, muß ich und müßte ich von den Zinsen des Restkapitals nehmen, die von Rechts wegen den Eltern, respektive uns andern Kindern zukommen. Nun aber hat dies Kapital selbst ohnedies durch Mamas so viele Jahre lang fortgesetzte Mißwirtschaft schwere Einbußen erlitten direkt durch die Schuld Papas, indirekt freilich wieder durch Mamas Schuld. Denn da Papa nicht die Energie hatte, Mamas sinnlosem Treiben Einhalt zu thun, suchte er die Verluste gutzumachen durch Spekulation in Papieren halbbankrotter Staaten, Aktien von ausländischen Eisenbahnen, industriellen Unternehmungen aller Art, – die mit hohen Zinsen und Dividenden normiert sind, nur um dem Publikum Sand in die Augen zu streuen, das heißt: Kapitalien heranzuziehen, die dann nach kurzer Zeit in den Schuldenabgrund, der unten verborgen liegt, verschwinden. Papa ist im Anfang nicht blind gegen das Gefährliche solcher Transaktionen gewesen; aber es scheint, daß die beständige Sorge, woher das Geld für Mamas Verschwendung nehmen, ihn mit der Zeit stumpf und unfähig zu einer rationellen Vermögensverwaltung gemacht hat. Dem mußte Einhalt gethan werden: ging es auch nur ein paar Jahre so fort, so waren wir sämtlich ruiniert. Ich will aber für meine Person nicht ruiniert werden; ich will auch nicht einer ruinierten Familie angehören. Das liegt einem dann zur Last – wie Stephanie es bereits jetzt thut – und hindert das Fortkommen auf Tritt und Schritt. Zweifle ich doch überdies sehr stark daran, daß Papa noch lange im Amte bleiben wird! Mit einer Halsstarrigkeit, die einer besseren Sache würdig wäre, steht er auf seinem alten feudalistisch-reaktionären Programm der Kreuzzeitung, die er ja selbst hat gründen helfen, und will oder kann nicht begreifen, daß eine andre Zeit gekommen ist: die Zeit Bismarcks – ich meine: des Bismarck, der mit dem alten verrotteten Freihandelssystem gründlich aufzuräumen entschlossen ist, weil sich nur so die Mittel schaffen lassen, die wir für unsre Armee brauchen, und um den verdammten Sozialdemokraten die hungrigen Mäuler soweit zu stopfen. Nun, Du brauchst darüber nicht unwillig zu werden! Vielleicht sind unsre Empfindungen der süßen Plebs gegenüber nicht ganz so überschwenglich humanistisch wie die Eurer Demokraten von achtundvierzig, für die Du so schwärmst, weil Dein armer Vater gutmütig genug war, dergleichen Hirngespinste für Realitäten zu halten; aber praktischer sind wir jedenfalls – darauf kannst Du Dich verlassen. Ich meine: das ist des Pudels Kern; alles andre ist nur Rederei und blauer Dunst. Ebenso, wie ich glaube, mir Deinen Dank zu verdienen, wenn ich Dir, anstatt schöne Phrasen von Bruderliebe und dergleichen zu machen, den Teil von dem Vermögen Deines seligen Vaters erhalte, auf den Du von Gottes und Rechts wegen Anspruch hast.

Ich denke bei dem allen nicht an mich; erwiderte Marie.

Um so notwendiger ist es, daß andre es für Dich thun; schloß Herbert die Unterredung. Glaube mir, liebes Kind: mit Deinem Idealismus kommt man heute nicht mehr aus. Im Staate und in der Familie – überall muß man mit Thatsachen rechnen. Wer das nicht kann, ist verloren. Und ich für mein Teil sehe nicht, daß er darüber sich zu beklagen irgend das Recht hätte.

So mußte Marie den energischen Bruder schalten lassen, wie wenig sympathisch ihr auch seine Weise war. In der Sache selbst hatte er zweifellos recht, und sie sagte sich, daß, wer den Zweck wolle, auch die Mittel wollen müsse – ein Satz, der denn freilich in seiner praktischen Konsequenz Stephanie und ihren Gatten überaus hart traf. Mit Schaudern dachte sie der Stunde, wo sie die nun Unbehausten zu empfangen haben würde; vorzüglich that ihr das unschuldige Kind leid: der hübsche dreijährige Botho, den sie das letzte Mal unter den Buchen des Neusitzer Parkes so munter hatte spielen sehen, und der nun in die Enge einer Berliner Mietwohnung drei Treppen hoch eingepfercht werden sollte. Da verschlug denn die liebevolle Sorgfalt wenig, mit der sie die Gastzimmer so behaglich und traulich, wie ihr irgend möglich, ausstattete. War doch der Aufenthalt nur auf wenige Tage bemessen und kein »Logierbesuch« in alter Weise, aus welchem das Paar, nachdem es sich in der Residenz köstlich amüsiert, nach Neusitz zurückkehrte, sich dort weiter zu amüsieren! Diesmal würde es mit dem Amusement traurig bestellt sein, und die Rückkehr war ausgeschlossen.


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