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Zweites Kapitel.

Smith hatte dem Davoneilenden nachgeblickt; nun wandte er sich zu Ralph und fragte: Was hat er Ihnen gesagt?

Daß ich die Medizin nehmen soll, zu der er das Rezept da aufgeschrieben, und mich ruhig verhalten; erwiderte Ralph.

Smith verließ mit dem Rezept das Zimmer, kehrte nach wenigen Minuten zurück und sagte:

Das ist besorgt; ich wollte Sie nur noch bitten, die Medizin, wenn sie kommt, auch wirklich ausnahmsweise zu nehmen.

Er war zu Ralph an das Sofa getreten, hatte ihm die herabgefallene Decke über die Kniee gelegt und wandte sich zu gehen.

Nun? fragte Ralph verwundert.

Sie sollen Ruhe haben; erwiderte Smith.

Und die soll mir werden, wenn Sie mich hier allein lassen? rief Ralph lachend; schämen Sie sich, alter Psycholog! Sie sollten mich doch hinreichend kennen, um zu wissen, daß, wenn Sie die Thür da hinter sich schließen, die Gedankenmeute, die meine arme Seele heute nacht vor sich her gehetzt hat, wie die Präriewölfe den aufgespürten Hirsch, lustig auf der alten Fährte weiter heulen wird. Stecken Sie sich Ihre Pfeife an! geben Sie mir auch eine! und dann lassen Sie uns schwatzen!

Geraucht wird heute morgen auf keinen Fall; erwiderte Smith, sich einen Stuhl zum Sofa rückend.

Auch gut, sagte Ralph, wenn Sie nur bleiben. Was hatte denn mein Vater so Dringendes?

Einen Geschäftsbrief, der eilig war, und den ich ihm übersetzen sollte.

Wozu hat er denn seinen Sekretär?

Er hatte ihn auf die Börse geschickt, soviel ich weiß.

Ralph blickte nachdenklich vor sich hin und begann erst nach einer Pause wieder:

Sagen Sie, Smith, finden Sie es nicht eigentlich seltsam, daß mein Vater bei der Last seiner amerikanischen Geschäfte es fertig gebracht hat, nicht nur mit uns herüberzukommen, sondern sich hier einrichtet, als ob es auf Jahr und Tag wäre? Ursprünglich wollte er doch nur sechs, höchstens acht Wochen hier bleiben. Verstehen Sie das?

Nein.

Kurz und bündig. Mitteilsam sind Sie heute morgen gerade nicht und neugierig ebensowenig. Sie haben mich ja noch nicht einmal gefragt, wie mir der Rout gestern abend gefallen hat?

Ich habe mir schon Vorwürfe genug gemacht, daß ich Ihnen zuredete, hinzugehen.

Gut, daß Sie es thaten. Ich wäre sonst freilich vielleicht um eine passable Nacht reicher, aber ganz gewiß um eine schöne Erinnerung ärmer. Da habe ich doch sicher keine Ursache mich zu beklagen.

Der ältere Freund hatte für einen Moment lebhaft aufgeblickt, als der jüngere von gestern abend zu sprechen begann; nun mußte er aber doch nicht begierig sein zu erfahren, worin die »schöne Erinnerung« bestehe; jedenfalls fragte er nicht weiter. Seine Miene nahm wieder einen zerstreuten Ausdruck an; und auch Ralph versank in ein Schweigen, das mit der eben noch an Tag gelegten mitteilungsbedürftigen Lebhaftigkeit wenig stimmte. Nach einer Weile fragte er fast verdrießlich:

Woran denken Sie eigentlich, Smith?

Smith zuckte leicht zusammen, wie ein jäh aus dem Schlummer Geweckter, strich sich das Haar aus der Stirn und erwiderte:

Woran ich denke? Unter anderm an eine Stelle im Pentateuch, die mit lapidarer Kürze die Wandelbarkeit der menschlichen Dinge bezeichnet.

Welche Stelle?

Im andren Buche Mose, Kapitel eins, Vers acht: »Da kam ein neuer Pharao auf in Egypten, der wußte nichts von Joseph.«

Es war ein Ton tiefster Melancholie, in welchem der Mann diese Worte gesprochen hatte, während dabei doch ein ironisches Lächeln um seine Lippen zuckte.

Der Ausdruck, sagte Ralph, ist allerdings charakteristisch für die Verlegenheit des alten Chronisten, der auf eine tiefe Lacüne seines Wissens stößt und nun mit einem kühnen Salto darüber wegsetzt. Ein moderner Historiker dürfte dergleichen freilich nicht wagen. Er darf sich keinen Pharao schenken, seinem Leser keinen unterschlagen, sondern muß säuberlich einen nach dem andren aufzählen und nachweisen, wie das »tempora mutantur, nos et mutamur in illis« denn so zustandegekommen ist. Der neue Pharao ist die veränderte Zeit; sein Nichtwissen von Joseph die veränderte Denkweise der Menschen, der veränderte Mensch.

Wohl dem inzwischen veränderten Menschen, erwiderte Smith; aber wehe denen, die zu steifstellig oder zu einsichtslos waren, sich mit der Zeit zu ändern, und nun in der neuen umherwanken, Lemuren der Vergangenheit, die überall sonst tot und nur noch in ihnen lebendig ist; verständnislos, wie sie nicht mehr verstanden werden, – jenen Unglücklichen im Märchen gleich, welche, aus dem Zauberberg entlassen, darin sie hundert Jahre verträumt haben, an der Stelle ihres Heimatsdorfes eine mächtige Stadt finden oder – die gähnende Wüste. Lieber Ralph, glauben Sie mir, es wäre besser für mich gewesen, Sie hätten mich drüben gelassen!

Aber, sagte Ralph, Sie mußten doch darauf gefaßt sein, ein verändertes, ein neues Deutschland zu finden! Und Sie schienen ja auch gefaßt und haben mir klug und mit tiefer Einsicht auseinandergesetzt, welcher Wandel im Staate, im Volke, – in der Sinnes- und Handlungsweise der Regierenden, in der Denkart, den Gefühlen der Regierten – vor sich gegangen sei; und wie und warum das alles habe vor sich gehen müssen. Ziemt es dem Weisen, den ich in Ihnen verehre, sich im Herzen so aufzulehnen gegen etwas, dessen Notwendigkeit doch sein Kopf völlig begreift? Und ist dies Notwendige, wie es ein Erstaunliches ist, nicht auch zugleich ein vielfach Heilsames, Ersprießliches, Nutzen- und Segenschaffendes, für das Volk wenigstens, in welchem es sich ereignet hat? und auf das also jeder, der sich zu diesem Volke rechnet, mit stolzer Genugthuung blicken muß, wie es denn auch der Mann that, der da vorhin von uns ging?

Und der mich doch eben, erwiderte Smith, weniger durch das, was er sagte, als, wie er es sagte, so traurig gestimmt hat, so verzweifelt – wenn Sie wollen: an mir selbst. Ich habe Doktor Brunn nicht persönlich gekannt; aber seinerzeit viel von ihm gehört. War er doch ein hervorragendes Mitglied des Frankfurter Parlaments; wenn ich nicht irre, gehörte er auch der Deputation an, welche dem Könige von Preußen die deutsche Kaiserkrone darbot; jedenfalls hat er mit den wenigen Reichstreuen bis zum letzten Augenblick ausgehalten und die bitteren Konsequenzen einer Gesinnung, die dann zu Landes- und Vaterlandsverrat gestempelt wurde, brav und unentwegt über sich ergehen lassen. Wie ich denn auch überzeugt bin, daß sein jetziges Thun und Reden der Ausdruck und die Konsequenz seiner voller Ueberzeugung und kein falscher Tropfen in ihm ist. Das alles gebe ich zu, muß ich zugeben! Und doch, und doch! Vielleicht war er nie Republikaner, wie ich es von ganzem Herzen gewesen bin; aber auch dann kann doch sein Königtum immer nur eines von Volkes Gnaden gewesen sein, nicht das von Gottes Gnaden, wie es sich jetzt prächtiger und machtvoller als je stabilisiert hat. Vielleicht hat er achtundvierzig nicht für Abschaffung des Adels votiert, – wie ich, der Abkömmling eines uralten Geschlechtes, meinem Adel und den Prärogativen, die drum und dran hingen, mit tausend Freuden entsagte; – aber auch dann kann ihm doch die erdrückende Macht, die jetzt in Deutschland ganz zweifellos dem Adel zugefallen ist, weil der Mann, der in dem gewaltigen Prozesse der Einigung Deutschlands die Führerrolle übernahm, aus seinem Schoße hervorging und, wie die Dinge nun einmal verkehrt lagen, nur aus demselben hervorgehen konnte, – ich sage: diese Macht, vor der der Einfluß des Bürgertums in bescheidenen Schatten tritt, kann ihm doch nichts Erfreuliches, nur ein Etwas sein, das man duldet, weil man muß. Sie werden hinzufügen wollen, Ralph: um so leichter duldet, als das Bürgertum achtundvierzig seine Unfähigkeit, aus sich heraus das Volk zu regenerieren, unter seiner Führung die Einheitsidee zu verwirklichen, an Tag gelegt und durch die Orgien der Goldgier, in welche es sich unmittelbar nach dem großen Kriege stürzte, seinen moralischen Fall vor aller Welt dokumentiert hat. Ich räume auch das ein, aber nimmermehr kann ich Ihnen zugeben, daß ich deshalb in das Loblied einstimmen müßte, welches der Mann vorhin den deutschen Zuständen von heute gesungen hat. Wahrlich nicht bloß deshalb nicht, weil mein altes Herz nicht mehr mitthun will, sondern sehr wesentlich, weil ich das Hegelsche, daß alles, was ist, vernünftig ist, für eine doktrinäre Phrase, oder, noch schlimmer: für eine knechtische Schmeichelei der gerade bestehenden Gewalt halte. Ich halte weiter dafür, daß die Zustände, wie sie sich jetzt bei uns herausgebildet haben, wahrhaft gesunde nicht sind, sondern, unter dem Gesichtspunkte der Erziehung der Menschheit zu ihren höchsten Zielen, als eine Reaktion und als ein Hemmnis angesehen werden müssen, in ihrem Schoße nicht Heil und Segen zeitigend, sondern das Gegenteil von beiden. Und weiter: ich glaube nicht an die Heilkraft dieser Volksbeglückung von oben herab; ich glaube, vielmehr: ich bin fest überzeugt, daß die politische Reaktion ihr Versprechen, selbst wenn sie es ehrlich meint, nicht einlösen kann; daß diese nationale Politik, welche nur danach strebt, die Nation mächtig zu machen und vorherrschend vor den andern, nichts weiter ist als das alte Manchestertum von dem Markte des Handels und Wandels auf die großen Verhältnisse der Völker und der Menschheit übertragen. Das muß aber in seiner Konsequenz und Verallgemeinerung – denn die anderen Nationen machen es ja nicht anders und nicht besser – zu einem Weltenbrande führen. Die in sich glück- und friedlosen Völker werden, der Angst, die sie beklemmt, Luft zu machen, sich nach außen wenden, einander in den gräßlichsten Kriegen zerfleischen, deren Frucht der Tod der Gesittung, der Untergang aller der Errungenschaften der Bildung sein wird, ohne die denn freilich auch das Leben nicht mehr wert ist, gelebt zu werden.

Smith, der die letzten Worte mit bebender Stimme gesprochen, war aufgestanden und hatte sich vom nahen Tisch eine bereit liegende kurze Pfeife genommen, die er anzündete.

Das ist recht, sagte Ralph, rauchen Sie sich die Erregung weg, in die Sie sich hineingeredet, als hätten Sie die schlechte Nacht hinter sich, und nicht ich! Wirklich, Smith, ich finde Sie heute über Gebühr pessimistisch gestimmt. Oder hat sich das bei Ihnen nur so angesammelt, während wir hier in Deutschland sind? Dann hätten Sie freilich recht, wenn Sie vorhin meinten, Sie wären besser drüben geblieben. Nun kommen Ihnen bei dem Erblicken der heimatlichen Dinge die alten Träume wieder; und weil die sich nicht just so erfüllten, wie Sie sie träumten, wähnen Sie, es seien eitel Schäume gewesen. Das stört Ihnen den Gleichmut der Seele, den Sie sich so mühsam errungen hatten, und verdirbt Ihnen die Logik. Denn, offen gestanden, lieber Freund, für logisch halte ich es nicht, wenn Sie in einem Atem den Drang der Völker, sich zu einer kompakten, machtvollen Einheit zusammen zu schließen, als einen allgemeinen Zug der Zeit bezeichnen und Ihren Landsleuten einen bittersten Vorwurf daraus machen, daß auch sie diesem Drange folgen. Ja, mein Gott, sollen sie denn, während die andern sich rühren, die Hände in den Schoß legen? die Friedensschalmei blasen, während die Welt rings um sie her in Waffen klirrt? Deutschland immer so weiter den andern Nationen zum Amboß herhalten, während es die Kraft in sich fühlt, Hammer zu sein? Das kann doch kein billig denkender Mensch und ein Deutscher schon gar nicht verlangen. Habe ich nicht recht?

Mag sein, erwiderte Smith, nachdenklich vor sich hin rauchend; aber ich weiß auch: der deutsche Idealismus ist das Salz der Erde. Wenn dieses Salz dumm wird, womit soll man salzen? Ich finde nun, daß es auf dem besten Wege ist, dumm zu werden. Und ich müßte mich sehr irren, Ralph: Sie, dessen Seele sich an dem Idealismus deutscher Philosophie und deutscher Dichtkunst genährt und zu dieser reinen, schönen Flamme entzündet hat, Sie kennen die Deutschen in Deutschland erst seit ein paar Wochen und finden es bereits auch. Schildern Sie mir einmal ganz offen die Eindrücke, welche Ihnen die gestrige Gesellschaft gemacht hat, wie so manche andere, der Sie schon beiwohnten, und wir werden ja sehen, ob ich recht habe!

Das ist nicht fair play, erwiderte Ralph verlegen lächelnd; ein paar Gesellschaften – was will das sagen? Und die Leute, die da zusammenkommen, sind doch nicht das Volk!

Immerhin ein Bruchstück desselben, und das sich nicht für das schlechteste hält; sagte Smith. So entgehen Sie mir nicht.

Ralph hatte sich in dem Sofa zurückgelehnt, die Hände hinter dem Kopf verschränkend und zur Zimmerdecke emporblickend.

Nun, sagte er, wenn Sie so in mich dringen: die Gesellschaft gestern schien mir freilich, alles in allem, dieselbe trübselige Physiognomie zu tragen, wie die vorhergehenden, vielleicht eine noch trübseligere, weil sie die größte und glänzendste von allen war. Ich habe in den vielfachen Gesprächen, die ich mit den älteren Herrschaften – Herren und Damen – führte, Behauptungen aufstellen, Ansichten vertreten hören, die allerdings nichts, aber auch gar nichts ›von Joseph‹ wußten. Da ist mir besonders ein eisgrauer General erinnerlich, der geradezu fürchterlich war. Daß er Eure Sozialdemokraten einfach ad unum omnes niederzukartätschen wünschte, war das wenigste. Ein Herr vom Zivil, der nach den zwei oder drei großen Orden, welche er an breiten bunten Bändern um den Hals gehängt hatte, ein hoher Würdenträger sein mochte, wollte den Religionsunterricht in den Volksschulen auf mindestens zwölf Stunden wöchentlich ausgedehnt wissen und erklärte die allgemeine Verbreitung der Kunst des Lesens für die Wurzel, wenn nicht aller, so der hauptsächlichsten Uebel, an denen die Zeit kranke. Eine alte Dame, ebenfalls mit einem Ordenskreuz, – bei ihr auf der Schulter, – unterhielt mich eine Viertelstunde lang von der »inneren Mission«, für die ich, als bibelgläubiger Amerikaner, doch eine besondere Sympathie haben müsse. Dabei hatte man denn freilich die Höflichkeit, unsre freien Institutionen gelten zu lassen; aber eben nur für Amerika. In Deutschland, in Europa seien dergleichen unmöglich, wie denn auch wir über kurz oder lang mit den inzwischen völlig veränderten sozialen Verhältnissen unsre Verfassung von Grund aus revidieren müßten.

Wer hat nun recht? murmelte Smith.

Ich bemerke noch einmal, fuhr Ralph fort; es waren ältere und alte Leute, aus deren Munde ich solche Dinge hörte, und es mag sein, daß ich zufällig an besonders illiberal Denkende geraten bin. Aber freilich auch in der Konversation mit den Jüngeren spürte ich desselben Geistes einen starken Hauch. Nun hat die junge Welt auf einem Ballfest wohl kaum die Verpflichtung, sich besonders geist- und kenntnisreich zu geben; aber die Beflissenheit, mit der man – auch beim Souper, wo man schon eher Zeit und Veranlassung gehabt hätte, Vernunft zu sprechen, – jedem meiner Versuche, ein ernsteres Thema auf die Bahn zu bringen, höflich aber unzweideutig aus dem Wege ging, ist mir doch aufgefallen. Ich fürchte, man wird mich für einen argen Pedanten gehalten haben, solange ich sprach, und für einen ebensolchen Dummkopf, als ich dann schwieg, weil ich auf die Scherze und Possen, die man rings um mich her trieb, beim besten Willen nicht hätte eingehen können. So will ich es denn auch nur für scherzhaft gemeint nehmen, wenn ein junger Offizier die Juden von der Ehre, den deutschen Waffenrock zu tragen, ein für allemal ausgeschlossen sehen wollte; und ein andrer junger Mann behauptete, daß die Beschäftigung mit der Litteratur ein Müßiggang sei, den sich ein strebsamer Beamter nicht verstatten dürfe. Ich müßte mich sogar sehr irren, oder diese letzteren Aeußerungen kamen von den beiden Söhnen des Hauses.

Und doch, sagte Smith, haben Sie mir neulich die frische Kraft des einen, die hohe Intelligenz und staatsmännische Einsicht des andern dieser jungen Männer ganz besonders gerühmt.

Ich möchte das Urteil auch heute nicht zurücknehmen, erwiderte Ralph, und es nur noch dahin erweitern, daß mir beide, besonders der ältere: Herbert, mit seinen zweifellos bedeutenden reellen Qualitäten und der damit vielleicht obligaten Verstandesnüchternheit und bewußten Abwendung von einer poetisch-idealen Auffassung des Lebens als die richtigen representative-men eines wichtigen Teils der jetzigen deutschen Jugend erscheinen.

Nun, sagte Smith, und wie war denn die andre Familie gestern, als Sie die Herrschaften zum erstenmal innerhalb der eigenen vier Pfähle zu beobachten Gelegenheit hatten?

Ralph lachte in seiner stillen Weise.

Was gilt's, Smith, sagte er, Sie wollen Ihre unfreundliche Gleichgültigkeit von vorhin wieder gutmachen! Aber ich werde keine feurigen Kohlen auf Ihr störrisches Haupt sammeln und die schöne Erinnerung, die ich vom gestrigen Abend mitgebracht habe, hübsch für mich behalten.

Wie kann ich denn wissen, sagte Smith murrend, daß sich diese Erinnerung auf eines der Mitglieder der Iliciusschen Familie bezieht, was ich freilich jetzt annehmen muß! Also wirklich Fräulein Ada?

Er legte die ausgerauchte Pfeife weg und konnte so den melancholisch-ironischen Ausdruck nicht bemerken, den Ralphs Gesicht zeigte, als er jetzt erwiderte:

Natürlich, Fräulein Ada! Wer sonst? Sie ist wahrlich ein entzückendes Geschöpf – airy, fairy, wie Tennysons Lilian. Es gibt nichts Blaueres als ihre Augen; nichts Weißeres als ihren Teint; nichts Blonderes als ihre Gretchenflechten; nichts Entzückenderes als die Art, wie sie die langen Wimpern hebt und senkt; nichts, was so sanft lispelte, wie ihre Stimme, die in sich selbst Musik ist, und von der man sich deshalb nicht wundern kann, wenn sie in dem sogenannten eigentlichen Gesang, der gemeine Stimmen erhebt, um ebensovieles an ihrer Süßigkeit einzubüßen scheint.

Smith stand noch immer abgewendet.

So finden Sie also endlich, sagte er dumpf, bei einer deutschen jungen Dame den entschiedenen Zug nach dem Idealen, welchen sie bei unsern amerikanischen emanizipierten Schönen so schmerzlich vermißten und ohne den Sie, wie Sie mich selbst oft genug versichert haben, kein weibliches Wesen auf die Dauer fesseln könnte?

Bei einer deutschen jungen Dame! rief Ralph. Ja, wahrhaftig, das habe ich gefunden – in höchster, schönster Vollendung! Und ich sage: das macht all die Prosa quitt, in der Eure deutschen Jünglinge und jungen Mädchen von heute eingebettet liegen wie Heringe in ihrer Salzlake. So grausam kann kein Himmel sein, daß er nicht um dieser einen Gerechten willen, die als die wahrhafte Verkörperung des Ideals herabgestiegen ist, einer sonst völlig entgötterten Welt vergeben sollte.

Die Stimme, in der der junge Mann das gesagt, hatte noch lebhafter als vorhin, ja völlig begeistert geklungen. Er schwieg ein paar Momente und fügte dann in wieder ruhigem Ton hinzu:

So, Smith, ich denke, ich habe Ihre Neugier nun befriedigt. Oder nicht?

Völlig! sagte Smith trocken. Und ich wünsche Ihnen Glück.

Amen! sagte Ralph, sich wieder in die Sofaecke zurücklehnend, aus der er sich, während Smith am Pfeifentisch kramte, aufgerichtet hatte. Und nicht wahr, Smith, wie es im Menschenleben Augenblicke gibt, wo wir dem Weltgeist und so weiter, – so kommen auch dem klügsten Menschen solche, wo er an einer totalen Verstandesfinsternis laboriert.

Smith blickte aus der Zerstreutheit, die sich seiner im Laufe dieses Gespräches immer mehr bemächtigt zu haben schien, auf; aber konnte die Frage, die er auf den Lippen hatte, nicht äußern, denn gerade in diesem Momente wurde an die Thür nach dem Flur geklopft, und alsbald war auch Anne eingetreten, bereits in völliger Promenadentoilette.

Ich bitte um Entschuldigung, sagte sie, nachdem sie den beiden Männern die Hände geschüttelt; ich bin sehr spät aufgestanden, und man hat mir nichts gesagt. Aber Ralph, was machst Du für thörichte Streiche! Soll man Dich denn niemals ruhig mit in eine Gesellschaft nehmen können? Und womöglich habe ich nun an allem schuld, weil ich Dir befohlen hatte, mit Miß Ada zu tanzen!

Bedauern Sie ihn nicht, Anne! sagte Smith; er hat selbst erklärt, daß seine schlechte Nacht durch die schöne Erinnerung an gestern abend reichlich kompensiert sei.

Wirklich? sagte Anne, sich mit Lebhaftigkeit zu ihrem Bruder wendend.

Ich habe das in der That gesagt; erwiderte Ralph lächelnd, und ich bleibe dabei, selbst unter Deinem inquisitorischen Blick.

Das freut mich, sagte Anne; wahrhaftig das freut mich.

Sie hatte Ralphs beide Hände ergriffen und kräftig geschüttelt, indem sie eifrig weiter sprach:

Da wird es Dir doppelt lieb sein, daß ich jetzt mit dem köstlichen Mädchen eine schöne Spazierfahrt machen und sie hernach mit hierher bringen will. Sie soll den ganzen Tag hier bleiben. Dann kannst Du weiter mit ihr plaudern, wie gestern abend, während wir tanzten. Das wird Dir besser thun als die dumme Medizin, die Du Dir doch wieder hast aufschwatzen lassen.

Dazu die blauen Augen und die blonden Gretchenflechten! murrte Smith.

Um Verzeihung, rief Anne, sich lebhaft umwendend: ihre Augen sind von entschiedenstem Grau und ihr Haar von nicht minder entschiedenem und sehr schönem Braun.

Dann hat unser guter Ralph, während er mit langen Ohren das Sirenenlied einsog, die Augen zugehabt; murmelte Smith.

Keineswegs, sagte Ralph; ich hatte trotz Ihrer freundschaftlichen Ironie meine fünf Sinne völlig beisammen.

Annes Blicke waren von einem der beiden Männer zum andren gewandert.

Ja, von wem sprecht Ihr eigentlich? fragte sie gedehnt.

Offenbar von Fräulein Ada Ilicius, grollte Smith. Die blauen Augen und die Gretchenflechten sind nur ein kleiner Teil des Lobliedes, das Ralph ihr vorhin gesungen hat.

Die scharfgezogenen Brauen über Annes schwarzen Augen hatten sich einander genähert:

Ist das wahr, Ralph?

Du hörst es, erwiderte Ralph, den Kopf noch tiefer in die Kissen drückend.

Adieu dann! rief Anne.

Sie war von dem Stuhl, auf den sie sich inzwischen gesetzt, in die Höhe gefahren und schon halbwegs nach der Thür.

So eilig? fragte Ralph, ohne sich aus seiner Lage zu bewegen.

Anne hatte sich gewandt.

Ja! rief sie; und ich bedaure jede Minute, die ich mit Euch Thoren hier verschwatzt habe. Nein, Sie nicht, Smith! Sie können nichts dafür; Sie sprechen ja nur nach, was der Ihnen da vorgeredet hat, – der blöde Thor! Seine fünf Sinne will er beisammen gehabt haben, der eitle Prahler? Taub und blind ist er gewesen, wie ein völliger Idiot, der er ist. Mag er! Und sich weiter die Kissen so über die stumpfen Ohren ziehen! Die Dame, die er meint, bringe ich ihm heute nicht; und die andre, die ich meine, ist tausendmal zu gut für ihn. Die behalte ich für mich heute und morgen und alle Tage.

Ihre sonst bleichen Wangen hatten sich gerötet, und die schwarzen Augen Blitze gesprüht. Im nächsten Moment hatte sie das Zimmer verlassen.

Ralph lag noch immer unbeweglich; Smith ging, die Hände auf dem Rücken, gesenkten Hauptes mit bald kurzen, bald langen Schritten auf und ab. Eine Weile schwiegen beide, dann fragte Ralph mit leiser, tonloser Stimme:

Verstehen Sie das, Smith?

Ja und nein, kam die Antwort dumpf zurück.

Das heißt?

Das heißt, daß Sie und Ihre Schwester offenbar von zwei verschiedenen Damen gesprochen haben, obgleich ich nicht wohl begreife, wie bei dem doch sonst leidlichen Verständnis zwischen Euch beiden ein solches Quiproquo möglich ist.

So wird es sein; murmelte Ralph.

Wieder herrschte Stille. Dann begann Ralph abermals.

Einen Thoren hat sie mich genannt; aber, sagen Sie, Smith, wäre es nicht die Thorheit der Thorheiten, wenn ich dieses mein Herz, das mir jetzt eben wieder mit so banger Mahnung klopft, an ein Mädchen hängen wollte, sei es nun eine Blonde oder Braune?

Ich weiß es nicht, murmelte Smith.

Wirklich? sagte Ralph mit einem trübsten Lächeln. Nun denn, lassen Sie mich Ihnen sagen, Smith, daß es Menschen gibt auf dieser platten Erde, die von Träumen leben müssen, wie andre von Wirklichkeiten. Warum dem so ist? Ich vermute, weil ohne diese Träumer es überhaupt keine Menschen gäbe, sondern nur eine höhere Sorte Tiere, die es an Findigkeit, List und Grausamkeit den übrigen zuvorthun. Es mag sich auch anders verhalten. Soviel ist mir gewiß, daß diese Menschen, wie sie sich, kraft ihrer Fähigkeit des Träumens, aus dem gemeinen Zusammenhang der Dinge herausheben, des gemeinen Glückes, welches der sonstigen natura naturata beschieden ist, nicht fähig sind, wohl aber eines andren, von dem jene nichts weiß. Und über allem Zweifel erhaben ist mir, daß ich und Sie, mein alter, lieber, mein einziger Freund, zu diesen Glücklich-Unglücklichen gehören.

Es kam ihm keine Antwort zurück. Der alte Freund hatte sich in einen Stuhl sinken lassen und, vornüber gebeugt, das Gesicht in die flachen Hände gedrückt.


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