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Zweites Kapitel.

Es war zwei Tage nach dem Abend, an welchem Hartmut die entscheidende Unterredung mit Anne, dann jene Zusammenkunft mit Smith gehabt hatte, die ihn über die Hoffnungslosigkeit des so lange genährten, so eifrig gepflegten Planes, in dem Curtisschen Hause sein Glück zu machen, vollends aufklärte.

Herbert, der heute vormittag keine Sitzung hatte, bereitete sich auf eine Konferenz vor, die er in Stephanies Angelegenheit mit seinem Anwalt auf zwei Uhr verabredet, als er durch den Diener zu dem Geheimrat gerufen wurde.

Er traf den Vater in tiefer Niedergeschlagenheit an seinem Arbeitstische vor einem aufgeschlagenen großen Schreiben, das er ihm mit der Bitte, es lesen zu wollen, überreichte.

Es war ein Brief seines nächsten Vorgesetzten, in welchem dieser offiziell dem Geheimrat Mitteilung davon machte, daß der Herr Reichskanzler seine Aeußerungen über das zu promulgierende Sozialistengesetz in der gestrigen Reichtagssitzung um so übler vermerkt habe, als dieselben gar nicht zur Sache gehört hätten und deshalb geradezu als eine Provokation betrachtet werden müßten, die man unter keinen Umständen dulden könne, am wenigsten von einem hochgestellten, ein Vertrauensamt, wie das Reichskommissariat, bekleidenden Beamten. Daß er von dem letzteren sofort zu entbinden sei, sei selbstverständlich; aber man habe dem Herrn Minister auch zu bedenken gegeben, ob die Stelle eines vortragenden Rates in seinem Ressort mit einer Gesinnung vereinbar sei, wie er (der Geheimrat) sie gestern – und gestern nicht zum erstenmal – an den Tag gelegt. Nur die Erinnerung früheren freundschaftlichen Verhältnisses mit dem Mitbegründer der Kreuzzeitung und der guten Dienste, die derselbe damals der gemeinschaftlichen Sache geleistet, sowie jetzt die Rücksichtsnahme auf den Minister, dem man keine Verlegenheit bereiten wolle, halte davon ab, eine Disziplinaruntersuchung gegen den renitenten Beamten zu befehlen unter der Bedingung, daß derselbe seinen Rückzug in der geeigneten und so allein noch möglichen Form anzutreten wissen werde.

Der Brief lautete weiter:

»Nachdem ich mich so meines offiziellen Auftrages entledigt, darf ich ja wohl als alter Freund zu Ihnen sprechen und Ihnen mein tiefes Bedauern über das Vorgefallene zu erkennen geben. Daß Excellenz bei seiner erschütterten Stellung, in der er jede Stunde gewärtig ist, um seine Demission nachsuchen zu müssen, nicht daran denken konnte, auch nur den Versuch zu machen, Sie halten zu wollen, liegt für den Kundigen auf der Hand, und ich verliere darüber kein Wort. Ist es doch nicht ohne ein heimliches Gefühl des Neides, daß ich Sie aus dem Staatsdienst scheiden sehe! Heutzutage procul negotiis zu sein, welchem Manne von auch nur einiger Selbständigkeit des Charakters muß das nicht als ein Ziel Erscheinen, ›aufs innigste zu wünschen!‹ Wohl dem, der, wie Sie, sein otium cum dignitate auch ohne materielle Sorgen antreten kann! Ich habe oben vergessen, zu erwähnen, daß auch Ihre neuerlich bethätigte Rührigkeit in nicht staatlichen Finanzoperationen einen Gegenstand der gegen Sie geschleuderten Rekriminationen bildete. Dergleichen – risum teneas, amice! – schicke sich nicht für einen Staatsbeamten!? Hoffentlich haben Sie sich auf die Choctaw-Bahn nicht zu tief eingelassen! Als Sie vor einigen Wochen meinen Rat in der Angelegenheit wünschten, konnte ich Ihnen keinen erteilen: ich war nicht informiert; und bei unserm hiesigen amerikanischen Gesandten hatten Sie ja, sagten Sie mir, bereits selbst vergeblich angeklopft. Der gute Mann weiß eben besser im Faust Bescheid, als in den Angelegenheiten seines Landes! Auch jetzt ist meine Information keine offizielle; aber sie ist aus guter Quelle und lautet für das Unternehmen nichts weniger als günstig. Ich rate deshalb dringend zur Vorsicht.«

Das ist nun der Dank für ein ganzes Menschenalter hindurch geleistete treue Dienste! sagte der Geheimrat, als Herbert von der Lektüre wieder aufblickte.

Ich wüßte nicht, daß Du Dich zu beklagen hättest, erwiderte Herbert, den Brief auf den Tisch legend. Ich habe Dich genug gewarnt; Du bist auch von andern Seiten gewarnt worden. Als wir gestern in unserem Ministerium etwas später die Vorgänge im Reichstage erfuhren, schüttelte alle Welt den Kopf, und jeder war der Ansicht, daß Dir die Geschichte unfehlbar den Hals brechen würde. Es kann doch von keinem verlangt werden, mit jemand weiter arbeiten zu sollen, nachdem sich so klar herausgestellt hat, daß er unsere Intentionen nicht versteht, oder nicht verstehen will.

Du bist natürlich in keiner dieser beiden Lagen, erwiderte der Geheimrat, bitter lächelnd.

In der letzten gewiß nicht, erwiderte Herbert, die Achseln zuckend. Indessen möchte ich glauben, daß Du mich nicht hierher befohlen hast, um einen unfruchtbaren Streit über politische Dinge mit Dir zu führen. Doch wohl nur, mir zu der Voraussicht zu gratulieren, mit der ich gegen Deinen Willen unsere Choctam-Prioritäten zur rechten Zeit wieder an den Mann gebracht habe.

Allerdings, allerdings; murmelte der Geheimrat, den Brief wieder zur Hand nehmend, in welchem er die auf die Finanzoperation bezüglichen Stellen wirklich nur sehr flüchtig gelesen hatte. Dies hier bestätigt Deine Ansicht. Es wäre auch zu furchtbar gewesen, wenn uns das Unglück bis dahin verfolgt hätte.

Um Herberts Mund zuckte ein verächtliches Lächeln.

Unglück? sagte er; man spricht immer von Unglück, als ob sich das so von selbst machte! Als ob wir selbst es nicht wären, die es uns über den Hals ziehen! Irren kann sich der Klügste – ich hatte mich in der Choctaw-Affaire geirrt. Seinen Irrtum zur rechten Zeit einsehen, ihn wieder gutmachen – darauf kommt es an.

Mich wundert nur, daß Hartmut uns nicht gewarnt hat; sagte der Geheimrat zerstreut. Er schien uns in letzter Zeit doch aufrichtig ergeben.

Vermutlich ist er seitdem in das andre Lager übergegangen; erwiderte Herbert.

Das heißt? fragte der Geheimrat.

Herbert hatte nicht Zeit, die Frage zu beantworten. Der Diener trat herein und überreichte ihm eine Visitenkarte.

Es ist Hartmut; sagte er mit einiger Ueberraschung. Herr Selk wünscht den Herrn Assessor allein zu sprechen; berichtete der Diener.

Hat er das ausdrücklich gesagt?

Ja, Herr Assessor.

Der Diener war gegangen; Herbert wandte sich wieder zu seinem Vater:

Du fragtest, was ich damit meine, daß Hartmut in das andre Lager übergegangen ist. Ich dächte, das ist doch klar. Er findet, daß die Iliciusschen und die Curtisschen Interessen nicht mehr zu vereinigen sind; hat sich die Sache überlegt; und da bekanntlich selbst die klügsten Leute nicht zwei Herren dienen können, den von beiden ausgesucht, der am meisten zahlen kann. Er hat herausgerechnet, daß das Herr Curtis ist.

Warum kommt er dann? murmelte der Geheimrat.

Was weiß ich? erwiderte Herbert, verächtlich lächelnd; vielleicht, um vor uns mit seinen Erfolgen zu prahlen. Nous verrons.

Er hatte Hartmuts Karte in die Westentasche gesteckt und das Zimmer verlassen.

Der Geheimrat war an dem Schreibtisch sitzen geblieben, vor sich hin stierend. Nun erhob er sich schwerfällig, machte mit wankenden Knieen ein paar Gänge durch das Zimmer, trat vor den Spiegel und stierte sein Konterfei an.

Man hatte ihn auf der Universität den »schönen Ilicius« genannt. In der Paulskirche hatte man darüber gestritten, ob er oder Moritz Hartmann der »schönste Mann« sei. Und das – ein graues, faltendurchfurchtes altes Gesicht mit kahlen Schläfen, um die das spärliche Haar, das einst üppige braune Locken gewesen war, in harten grauen Borsten starrte – wie Disteln um eine Sanddüne – pah!

Er schleppte sich wieder durch das Zimmer und ließ sich an dem Schreibtisch in den Sessel fallen, die heiße Stirn in die kalten Hände stützend.

Das war der Dank! Wer hätte ahnen können, daß dies das Ende sein würde, damals im Erfurter Parlament, als er den Mann zum erstenmal sah, von dem er seinen Freunden prophezeit hatte: es werde der Mann der Zukunft sein? Sie hatten gelacht: der randalierende Junker! Er war seiner Sache sicher gewesen; hatte sich durch keinen Spott, durch keine scheinbar noch so begründete Zweifel irre machen lassen und eine Waffenbrüderschaft angeboten, die freudig angenommen wurde! Damals! Nun ja, die Gläubigen waren rar zu jener Zeit: er hätte sie an den Fingern einer Hand, herzählen können. Und er war der größte unter ihnen gewesen: hatte sich, der fünf Jahre ältere, als der Mentor gefühlt des heißspornigen jungen Telemach – mit Fug und Recht! Wer war es denn gewesen, der der Partei zuerst unter tausend Mühen und Sorgen das so hochnotwendige Organ geschaffen hatte? Wer hatte dann, als der Erste, eben jene soziale Politik befürwortet, um seinen Telemach, als ungelehrigsten, ungebärdigsten aller Schüler zu finden, der das alles für puren Nonsens erklärte – er, der sich, jetzt in der einst so tief verachteten Wissenschaft den Meister der Meister dünkte! O, schnöde, schnöde Undankbarkeit! Nach fast dreißig Jahren den alten Lehrer abzukanzeln wie den dümmsten Schuljungen! ihn mit einem Tritt von sich zu stoßen wie einen verächtlichen Hund! er, der selbst für seine ausgesprochenen Gegner noch immer ein vornehm conciliantes Lächeln hatte! Ein Koloß! Jawohl: auf dem Fundament von Generationen politischer Köpfe und patriotischer Herzen, von denen man jetzt natürlich nichts mehr weiß! nichts mehr wissen will! von Legionen treuer Arbeiter, die an der Pyramide seines Ruhmes in saurem Schweiße unablässig schaffen, und aus deren Reihen schimpflich gestoßen wird, wer auch nur ein bescheidenstes Wort des Widerspruches laut werden zu lassen wagt! O Undankbarkeit der Undankbarkeiten!

Undankbarkeit!

Als wäre das Wort der Stab in eines hohnvollen Zauberers Hand, ausgestattet mit der Macht, die Pforten der Vergangenheit aufzuschließen, zog Bild an Bild an dem inneren Auge des Mannes vorüber.

Er sah zwei Knaben, von denen er der eine war – der arme Pfarrerssohn, – der andre der Junker aus dem Schloß, auf das sie herabblickten von der Bergeslehne oben am Hochwaldsrand. Der Abendschein umflutete sie, und sie sanken sich in die Arme und gelobten sich Freundschaft für das Leben.

Er sah zwei Jünglinge, die Burschenschaftsmützen auf den lockigen Häuptern, brüderlich Arm in Arm, gleich gut genährt, gleich gut gekleidet, gleich gut behaust, trotzdem der eine so arm war, wie die Mäuse in seines Vaters Kirche! Was that's, wenn ihm der volle Beutel des andern zu jeder Zeit offen stand! Damals, wie später, als die schönen Studentenjahre um waren, und er ins Philistertum mußte, in die kleine Landstadt, die miserable Advokatenpraxis zu beginnen, bei der er hätte verhungern können, hätte der andre nicht immer wieder geschrieben: lieber Bruder, was ich habe, das hast Du! – Und es nicht bloß beim Schreiben gelassen! Wahrhaftig nicht!

Bild auf Bild!

Das fröhliche Hochzeitsmahl in der Gaisblattlaube des Wirtshausgartens im Städtchen – sein Hochzeitsmahl, das der andre ausgerüstet hatte, und bei dem der andre den ersten Toast ausbrachte auf den lieben, den einzigen Freund und sein junges Weib, denen er Glück und Segen immerdar aus treuem Herzen wünsche.

Und wieder ein Hochzeitsmahl – ein prunkvoll düsteres auf dem verfallenen Edelsitze der Uttenhoven, – des Andren Hochzeitsmahl, bei dem wieder er den ersten Toast ausbrachte auf den lieben, den einzigen Freund und –

Ein heiseres Gelächter erschallte im Zimmer. Der Mann am Tisch fuhr entsetzt in die Höhe und blickte wirr umher. Niemand da! So mußte er selbst gelacht haben!

War's denn aber nicht zum Lachen? Das liebe junge Weib, auf das er getoastet – des Andren Weib – sein Weib war es geworden, bevor die Schuh verbraucht – ah!

Ein segensvoller Bund – fürwahr! eine glückliche Ehe – beim Himmel! Eine Million, von der man sich täglich sagen muß, daß man sie dem Busenfreunde, dessen Herz und Hand uns offen war, wie ein gütiger Himmel, gestohlen! so gut wie gestohlen – das wäre kein Segen? Ein Weib, das einem täglich den Plebejer vorwirft, die plebejischen Sitten und Manieren, die plebejischen Hände und Füße – das wäre kein Glück? Wenn man weiß, daß man einmal ein Weib hatte, ein junges, liebes, gutes Weib, das uns anbetete, das für uns durch Feuer und Wasser gegangen wäre! Und nun in Kummer und Jammer so hinschmachtete, ohne daß je ein Klagelaut über ihre blasse Lippe kam, und sich dann hinlegte und starb – einsam, verlassen – die einzige, die er je wahrhaft geliebt, der er an Gottes Altar zugeschworen, Freud und Leid mit ihr zu teilen und ihr treu zu sein, bis der Tod sie und ihn scheide! Er hatte dem Tod vorgegriffen! Er war grausamer gewesen als der Tod!

Er stöhnte. Wieder schallte es schauerlich durch das Gemach. Er blickte diesmal nicht auf: er wußte, daß er es gewesen, der so gestöhnt hatte.

Einsam und verlassen!

Nein doch! Marie war ja bei ihr gewesen und hatte ihm über die letzten Stunden der Unseligen nach Kissingen berichtet. Er hatte seitdem dem Mädchen nicht wieder in die Augen sehen können. Seitdem? Hatte er es denn jemals gekonnt? War sie nicht stets vor ihm dagestanden: der lebendige Vorwurf des Verrates, den er an ihrem Vater geübt? des Raubes, den er an ihr selbst begangen? Vater, Mutter, Vermögen – alles, alles hatte er ihr ja gestohlen! Wie sollte er ihr in die Augen sehen! Und doch! sie war tausend- und tausendmal besser als seine eigenen Kinder. Er hatte sich tausendmal gesagt: dies Kind hättest Du sehr geliebt, wenn Du gedurft; Dir nicht jedes gute Wort, das Du ihr gönntest, wieder als Verrat ausgelegt werden würde. Wie hatte doch dies Kind von dieser Mutter kommen können, welche die inkarnierte Selbstsucht, die Kopf- und Herzlosigkeit, die frivole Eitelkeit in Person war? Warum waren seine Kinder nicht wie Marie? Stammt der Charakter der Kinder nur vom Vater? Mußten seine Kinder Selbstlinge sein, wie Hartmut oder Herbert, mochte sie diese oder jene Mutter geboren haben? Warum denn war Hartmut der Ismael, der in die Wüste gestoßen war? und Herbert saß triumphierend im Zeltesschatten? Und höhnte seines Vaters!

Ja, der Bube hatte ihn gehöhnt! Immer und vorhin! Wie er dagestanden mit der Verachtung in den harten Augen! mit dem Spott um die scharfen Lippen! Es hatte nur noch eben gefehlt, daß er den Vater einen Dummkopf genannt hätte. Le malheur est une bêtise; – es war ja sein Lieblingswort! Und war's denn auch nicht eine Dummheit, die rechte Zeit zum Sterben zu verpassen? sich dies Geschlecht über den Kopf wachsen zu lassen? das neue, verruchte Geschlecht, das alles besser weiß! alles besser machen kann! für das Ehrfurcht vor dem Alter ein Ammenmärchen, Pietät vor der väterlichen Autorität eine Lächerlichkeit ist! Verhöhnt von seinen Kindern, verachtet von seinem Weibe, zum alten Eisen geworfen als ein stumpf gewordenes Werkzeug von ihm, um dessenwillen er zum Apostaten seiner Ueberzeugungen geworden, der einst sein Freund und Schüler und Gesinnungsgenosse gewesen – das war das Ende!

Ein Tropfen Wasser! Die Zunge war ihm wie ein Scherben; er lechzte nach einem Schluck. Da unter dem Spiegel stand eine ganze Karaffe voll. Wie sollte er bis dahin kommen? Es war ihm, als hätte er Zentnergewichte an den Füßen. Und die Decke, die ihm von den Knieen geglitten war, hätte er so gern heraufgezogen. Von unten herauf lief es ihm eisig kalt über den Rücken. Nur der Kopf! der Kopf! Der brannte wie in höllischem Feuer. Und durch den glühenden Kopf jagten die Gedanken in spukhaft grausiger Hast. So, hatte er einmal gelesen, sollte der Delinquent in den Sekunden, bis das Beil fiel, sein ganzes Leben noch einmal im Geiste durchleben –

Wasser! Wasser! Ein Tropfen! hört denn niemand?

Niemand hörte; keiner kam. Er wollte sich erheben; er vermochte es nicht. Schwer schlug das Haupt des Hilflosen hinterwärts gegen die Lehne des Sessels.


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