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Zweites Kapitel.

Während ihr diese Gedanken durch die Seele stürmten, stand der Professor vor ihr, seitwärts auf ein Beet blickend, auf welchem um ein Boskett von üppig blühendem Flieder ein Doppelkranz von Hyazinthen und Tulpen bereits abzuwelken begann. Seine Blässe, die vorhin einer etwas lebhafteren Farbe gewichen war, beängstigte sie abermals; um seine farblosen Lippen ging ein nervöses Zittern. Sie hatte Mitleid mit dem Manne, der so peinlich litt in Erinnerung der Gespräche, die er mit ihr an jenem Ballabend geführt hatte, und im Bewußtsein, in wie schroffem Widerspruch der Inhalt derselben mit dem Bekenntnis stand, das nun nicht von den zitternden Lippen wollte. Großmütig sein, heißt den Mut haben, mit Schmerzen im eignen Herzen groß zu empfinden und zu handeln. Wohl mochte es der Großmut Eintrag thun, daß sie sich das zum Bewußtsein bringen konnte. Gleichviel: zu schweigen und den Mann in seiner Seelenpein zu lassen, wäre doch gar zu klein gewesen.

So sagte sie, indem sie langsam weiter schritt, aber jetzt nicht wieder in den Heckengang zurück, sondern zwischen den Gartenbeeten hin, über die ein paar letzte Abendsonnenlichter spielten:

Es waren schöne Stunden, – die des Balles in unsrem Hause im vergangenen Monat. – Ich wenigstens denke gern daran zurück und ich glaube, auch Ihnen ist die Erinnerung erfreulich geblieben.

Erfreulich ist nur ein schwacher Ausdruck für das Gedenken dieser Stunden in meinem Herzen; erwiderte Ralph mit bewegter Stimme.

Ich stelle Ihnen die Wahl des Ausdrucks frei, sagte Marie. Für mein Teil war ich immer sehr zufrieden, konnte ich eine Erinnerung erfreulich nennen. Dennoch begreife ich, daß es Seelenstimmungen gibt, denen das bescheidene Wort nicht genügt.

Nein, weitaus nicht – für mich in diesem Falle; murmelte Ralph. Ich darf ohne Uebertreibung sagen: es waren die schönsten Stunden meines Lebens. Wäre ich in der Nacht darauf gestorben, – wie ich denn wirklich sterben zu müssen glaubte – mein letzter Gedanke wäre gewesen: du hast nicht umsonst gelebt.

Marie dachte daran, wie hoch sie in eben jener Nacht, als sie im Wachen und im Traume sein Bild umschwebte, beseligt gewesen wäre, hätte eine Wahrheitsstimme ihr gesagt: das empfindet er und empfindet es für dich! Aber seitdem waren Wochen vergangen, und jetzt hatte sie es überwunden. Der Augenblick war gekommen, wo sie sich dafür den Beweis liefern mußte. Sie sagte lächelnd:

Da ist es denn doppelt schön, daß es nicht Ihr letzter Gedanke zu sein brauchte, sondern Sie ihm weiter nachhängen konnten, so weiter werden nachhängen dürfen Ihr lebenlang.

Ich dürfte das? dürfte das wirklich? rief Ralph.

Die Erregung hatte ihm das Blut jäh in die blassen Wangen getrieben und seine blauen Augen mit glanzvollem Feuer verklärt. Nie war er ihr so schön erschienen; nie hatte sie trotz alledem gewußt, daß sie ihn so innig liebte. Und, während sie in dieser gewaltsamen Empfindung fast verging, zuckte durch die schwüle, wonneatmende Nacht, die sie ganz umfangen wollte, ein jäher Zornesblitz: wie konnte er so sinnlos grausam sein, ihr das zu sagen – ihr!

Nur mühsam kam es durch ihre Zähne, welche der Schmerz zusammenklemmte:

Ich muß mich billig wundern, daß Sie in diesen Wochen keine Gelegenheit gefunden haben, Ihre Frage an die Einzige zu richten, welche Ihnen die rechte Antwort geben könnte.

Er war aufs tiefste erschrocken über ihre Miene und den Ton ihrer Stimme. Ihre Worte hatte er wohl gehört, aber nicht verstanden. Wozu auch? Er wußte, daß er zurückgewiesen war – heute und für immer.

Verzeihen Sie, sagte er leise; ich hatte im schlimmsten Falle nicht geglaubt, daß es Sie beleidigen würde.

Seine Arme waren schlaff herabgesunken; die eben noch glanzvollen Augen stierten matt und gebrochen, wie eines Sterbenden; aus dem Lächeln, mit dem er seine Rede hatte begleiten wollen, war nur eine Verzerrung geworden, die nun so auf dem bleichen Gesichte unheimlich stehen blieb. Marie war entsetzt, daß ihre Worte eine Wirkung gehabt hatten, die sie sich doch nicht recht erklären konnte. Natürlich nahm er an, daß sie die Vertraute Adas war; seine an sie gerichtete Frage wäre ja sonst völlig sinnlos gewesen. Hatte er dann aus ihren Worten herauszuhören geglaubt, daß seine Liebe zu Ada hoffnungslos sei, und er, um das zu wissen, nicht erst die Schwester hätte zu fragen brauchen?

Sie wollte ihn aus einem Irrtum reißen, der ihn augenscheinlich so grausam schmerzte. Bevor sie in der peinlichen Verwirrung, die sich ihrer bemächtigt hatte, das rechte Wort finden konnte, kam ihr Vater leichten Schrittes die Verandatreppe herab, ein Plaid in der Hand. Auf seinem feinen Gesicht lag ein freundlicher Schimmer wie von froher Erwartung; aber er hatte nur noch wenige Schritte gemacht und den verstörten Ausdruck der beiden Gesichter bemerkt, als in seiner Miene eine plötzliche und heftige Verwandlung vor sich ging. Marie meinte, in dem trauervollen Blick, den er auf sie heftete, zugleich einen Vorwurf zu lesen.

Ich bin zu lange geblieben, sagte er hastig. Ihnen ist nicht wohl, Ralph; ich sehe es. Nehmen Sie das Plaid um und geben Sie mir Ihren Arm! Ich will Sie wieder hineinbringen.

Er hatte Ralph, der sich, Unverständliches murmelnd, ein wenig dagegen sträubte, eingehüllt und wollte ihn so fortführen, als Hartmut auf die Veranda heraustrat und, die drei im Garten erblickend, eilends herzukam, schon in der Entfernung rufend:

Wissen Sie es schon?

Und da niemand antwortete:

Es ist auf den Kaiser geschossen worden – unter den Linden – heute nachmittag. Ich komme eben aus der Stadt, – es herrscht eine furchtbare Aufregung – natürlich! So etwas geschieht nicht alle Tage. Und wir hier ahnen nichts! Wenn ich nicht zufällig noch hinein gemußt hätte, Sie würden die große Neuigkeit vor morgen früh nicht erfahren haben.

Ist der Kaiser tot? fragte Smith.

Hartmut blickte den Frager mit seinem satirischen Lächeln an:

Fürsten stehen bekanntlich in des Himmels Schutz; sagte er.

Aber verwundet?

Auch nicht verwundet. Die Schüsse – es sind zwei Schüsse gewesen – in unmittelbarster Nähe abgefeuert! Wem da die Augen nicht auf- und übergehen! Die Herren auf der Kanzel werden von Gottes sichtbarem Finger zu reden haben!

Entsetzlich, rief Smith! Aber auch das ist ein Zeichen der Zeit. Hoffentlich ist der Verbrecher nicht entflohen!

Darüber seien Sie ohne Sorgen! Ein Kopf zum Köpfen ist da; erwiderte Hartmut ruhig.

Kommen Sie, Ralph! sagte Smith, abermals Ralphs Arm nehmend und mit ihm nach dem Hause gehend.

Noch halb betäubt von der Nachwirkung der großen Erregung, in welche sie die seltsame Scene mit Ralph versetzt hatte und nun unter dem Druck der ungeheuren Frevelkunde, hatte Marie ein paar Sekunden gesäumt, den beiden zu folgen. Jetzt, da sie es wollte, sagte Hartmut, ihr fast den Weg vertretend:

Fräulein Marie – Sie, die ich einstmals auch bloß Marie nennen durfte – wie danke ich Ihnen, daß Sie gekommen sind!

Sie mir? fragte Marie.

Sie brauchen mich nicht daran zu erinnern, daß mir Ihr Besuch nicht gilt; erwiderte Hartmut lächelnd. Aber die Sonne muß ja, auch wenn sie es anders wollte, scheinen über Gerechte und Ungerechte. Da wird auch mir mein Teil Sonnenschein werden, für den ich Ihnen im voraus herzlich danke. Ich will Sie nicht weiter aufhalten. Ja so! Ich bin ja eigens in die Stadt gegangen, es zu holen! Wußte ich doch, daß ich Ihnen eine Freude damit bereiten würde. Nun hätte ich es über der Geschichte unter den Linden fast vergessen. Hier!?

Er hatte ein kleines, sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagenes Daguerreotypbild, das er aus der Tasche genommen, inzwischen enthüllt und bot es ihr dar:

Sie haben mir früher oft geklagt, daß Sie kein Porträt Ihres Vaters hätten. Da haben Sie nun eines: ein völlig authentisches.

Noch vor vierundzwanzig Stunden wäre das Bild für Marie ein Geschenk von unschätzbarem Werte gewesen; und auch heute, da er ihr wiedergegeben war, bebten ihre Hände, als sie nun aus diesen Zügen den Vater zu erkennen suchte, in freudigem Schrecken. Das Bild war eine Musterleistung der bescheidenen Technik jener Tage und vollkommen gut erhalten.

Kein Wunder, sagte Hartmut, da es seit der Zeit fortwährend im Dunkel des Schrankes gelegen hat, in welchem ich es erst gestern gefunden habe. Ich weiß nicht, Fräulein Marie – oder darf ich Sie, wenigstens wenn wir unter uns sind, Marie nennen? – ob Sie sich aus dem Zimmer der Mutter eines Schrankes erinnern – er stand dem Bett gegenüber – oben Kleiderschrank – eigentlich war er Aktenschrank gewesen – unten ziemlich große Kasten zum Ausziehen. In den Kasten lag allerlei Kram unberührt, wie er dagelegen hatte zur Zeit, als der Schrank noch im Bureau des Vaters stand, von wo er – jedenfalls als ausgedientes Möbel – als dann die Scheidung stattfand, in den Besitz meiner Mutter übergegangen ist. Gestern nun, wo ich etwas suchte, geriet ich auch über diese Kasten und fand da zwischen Bündeln kassierter Akten und sonstiger Makulatur einiges wenige Interessantere, wovon dies natürlich um Ihrethalben für mich das weitaus Interessanteste war. An der Authenticität ist, wie gesagt, nicht zu zweifeln. Auf dem Papier, in welches das Bild ursprünglich gewickelt war – ich habe es sorgfältig aufgehoben – da ist es – hier in der Ecke – von der Hand meines Vaters: »Porträt meines lieben Hartmuts von Alden« – ich heiße ja nach Ihrem Vater! – »1844.« Nun ja, da waren die beiden noch Busenfreunde!

Marie hörte nur mit halbem Ohre hin. Je länger sie das Bild betrachtete, desto mehr schwand das Fremdartige, welches es anfangs für sie gehabt hatte, bis sie auf einmal aus den jugendlich schwärmerischen Zügen wahr und wahrhaftig der Vater anschaute, wie er eben von ihr gegangen

In demselben Moment hörte sie Hartmuts Stimme an ihrer Seite:

Finden Sie nicht, daß Herr Smith Ihrem verstorbenen Vater seltsam ähnlich sieht? jedenfalls als er jünger war, ähnlich gesehen haben muß?

Marie wagte nicht aufzublicken. Sie hörte aus dem Ton der Frage, daß Hartmut alles wußte. Nicht wagend, die Wahrheit einzugestehen, unfähig, eine Lüge vorzubringen, vermied sie eine direkte Antwort und fragte mit bebender Stimme, ob sie das Bild behalten dürfe? Hartmut lächelte:

Weshalb hätte ich es sonst mitgebracht? Doch nicht, um die Aehnlichkeit zu konstatieren zwischen Ihrem Vater, der leider tot ist, und Mister Smith, der – ich will gewiß nicht sagen: leider lebt. Aber ich müßte Sie doch nicht lieb haben, wollte ich nicht wünschen: es verhielte sich umgekehrt.

Jedenfalls haben Sie mir eine große Freude gemacht.

Weiter wollte ich bei Gott nichts.

Sie hatte ihm zum Dank die Hand reichen müssen, die er festhielt, während er in leisem, dringendem Tone sagte:

Und ich verlange keinen andren Lohn als den, daß Sie versuchen – nur versuchen, wie aus einem alten Bilde heraus, in dem Hartmut von heute den von ehemals wiederzufinden.

Vom Hause her ertönte eine Glocke. Hartmut ließ ihre Hand los:

Eine Viertelstunde bis zum Diner! Wir müssen Toilette machen. Ich habe jetzt, wie Sie vielleicht noch nicht wissen, wenn ich auch in meiner alten Wohnung in der Stadt schlafe, mein eigenes Zimmer hier im Hause, um mich gelegentlich, wie heute, sofort in Gesellschaftsanzug werfen zu können. Uebrigens ist heute auch Empfangsabend. Da pflegen stets einige Leute vorzusprechen.

Ein Fenster im ersten Stock wurde geöffnet. Anne bog sich heraus und rief Marie zu, es sei die höchste Zeit. Marie eilte in das Haus. Anne war im Fenster stehen geblieben, zu Hartmut hinabblickend, wie er zu ihr empor – beide regungslos. Dann legte Anne, wie zufällig, den Zeigefinger der rechten Hand an die Lippen, worauf sie das Fenster wieder schloß.

Hartmut hatte die Geste nicht erwidert; er hatte nur eben gelächelt, und als Anne verschwunden war, lag finsterer Schatten auf seinem Gesicht.

Die Weise, wie Marie sein Geschenk entgegengenommen, war eine Zurückweisung gewesen des gegenseitigen Trutz- und Schutzbündnisses, das er ihr angeboten. Offenbar glaubte sie, ihren Weg allein gehen, ihr Ziel ohne ihn erreichen zu können. Nun, er wollte großmütig sein und ihr keinen Stein in den Weg legen, vorausgesetzt, daß sie sich wenigstens passiv verhielt und ihn seinen Ritt über den Bodensee vollenden ließ. Ihm war in diesen Tagen der Vergleich wiederholt gekommen. Die trügerische Fläche, über die der sagenhafte Reiter dahinjagt, – die Keckheit, so hart an des Abgrunds Thor zu pochen, die absolute Gewißheit des Untergangs, wenn dieses Thor sich öffnete, das alles traf ja seltsam zu. Der Umstand, daß der Mann in der Ballade nicht wußte, was er that, und er es sehr genau wußte, machte die Situation nicht behaglicher. Dafür war denn jener ein Tropf, und er schmeichelte sich, ein gut Teil klüger zu sein als der Durchschnitt der Menschen.

Ueberdies, so beendete er vor dem Spiegel seines Zimmers das im Garten begonnene Selbstgespräch, umzukehren wäre fast ebenso gefährlich, wie das Weiterreiten; und ich hätte nichts davon gehabt, als ein paar für meinen Geschmack allzu leidenschaftliche Küsse, während auf der andren Seite – der Alte ist entschieden nicht so reich, wie ich anfangs dachte, aber eine Million –

Die Dinerglocke ertönte zum zweitenmal. Hartmut goß etwas Chypre auf sein Taschentuch, warf noch einen Blick in den Spiegel, nahm seinen Klapphut und begab sich nach dem Speisesaal.


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