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Sechstes Kapitel.

Es mochte bereits zehn Uhr sein, als Marie aus dem Zimmer des Kranken kam und den langen Korridor hinabging, an dessen entgegengesetztem Ende Anne wohnte. Durch die Korridorfenster, deren mehrere offen waren, kam die Luft warm und duftig. Sie blieb an einem derselben stehen und blickte in den Garten, der sich hinter dem Hause, halb in blauem Schatten der Nachbarhäuser, halb im goldenen Sonnenschein, breitete. In den Bäumen, von denen noch jeder sein besonderes Grün bot, sangen und zwitscherten die Vögel; auf dem Rondel in der Mitte knospeten jetzt statt der Hyacinthen und Tulpen, die längst abgewelkt waren, hochstämmige Rosen; auf dem Kiespfade, der um das Rondel lief, harkte der Gärtner, behaglich pfeifend. – War es denn möglich? Da draußen alles so schön, friedlich, lebensfreudig! und hier im Hause schlich auf leisen Sohlen der Verrat, starrte aus hohlen Augen die Verzweiflung, kauerte auf der Schwelle der Tod, ungeduldig, daß man ihn so lange warten ließ!

Sie hüllte, zusammenschauernd, sich dichter in das Tuch, schritt den Korridor zu Ende und pochte an die Thür von Annes Zimmer. Es kam keine Antwort. Sie faßte auf den Drücker. Anne hatte, ihrer Gewohnheit nach, nicht abgeschlossen. So öffnete sie die Thür vollends und trat ein.

Das große, schöne Gemach war mit Licht und frischer Luft gefüllt, die durch die offenen Fenster von dem Garten hereinströmten; aus dem zweiten daranstoßenden blickte durch die nur halb herabgelassene Portiere Dämmerschatten; sicher war Anne noch nicht aufgestanden. Sie schlief immer lange in den Morgen hinein. Marie dachte aber erst jetzt daran: sie hatten die ganze Nacht auch nicht einen Moment geschlafen! Nun kam es ihr seltsam vor, daß andre hatten schlafen können.

Sie war an das Bett getreten und hatte mit leiser Hand den Vorhang, der das Kopfende noch tiefer beschattete, zurückgeschoben. Das Kissen war arg zerknittert; das schöne Haupt, das jetzt, halb in demselben vergraben, still lag, mochte sich vielmals gewendet haben, bevor es zur Ruhe kam. Die seidene Decke hatte sie hoch hinaufgezogen; sicher erst, als der fieberheiße Körper in der Morgenkühle erschauerte und instinktiv nach Wärme suchte. Es kam Marie schwer an, die Schlafende zu wecken; es mußte sein. So legte sie ihr die Hand auf die Schulter, indem sie sie zugleich bei Namen rief.

Anne fuhr sofort empor. Die berührende Hand von sich stoßend und die Decke zurückschiebend, griff sie mit der Rechten auf dem Nachttischchen nach einem Gegenstand, den sie dann auch sofort in der Hand hielt: einen Revolver. Marie wußte, daß Anne nie ohne die Waffe neben sich schlief. Dennoch war sie für einen Moment erschrocken, nicht sowohl beim Erblicken der Waffe, sondern vor dem wilden Ausdruck in Annes Gesicht. Ich bin's, Anne; sagte sie.

Anne zog die Rechte von dem Revolver zurück und strich sich mit der Linken das wirre krause Haar aus der Stirn.

Du? sagte sie. Wie kommst Du so früh zu mir? Oder ist es nicht mehr früh? Ist – ah!

Sie hatte sich im Bett aufrecht gesetzt, Marie mit düsteren Augen anstarrend.

Ralph ist tot! sagte sie leise.

Noch lebt er, erwiderte Marie; aber er wird den Tag nicht überleben. Wir dürfen es nicht einmal wünschen.

Warum?

Er leidet zu furchtbar.

Marie ließ den Kopf sinken; große Thränen rollten aus ihren Augen an den bleichen Wangen herab. Da drüben durfte sie nicht weinen, hatte sie keine Zeit zum Weinen; aber auch hier durfte sie es nicht; auch hier waren die Minuten kostbar.

Verzeihe! sagte sie, sich die Augen wischend und den Kopf entschlossen hebend.

Was ist da zu verzeihen? erwiderte Anne. Er ist ein so lieber Junge, und Du hast ihn so lieb!

Die Worte waren freundlich genug; aber sie klangen nicht so; sie klangen, als ob Anne sie nur mechanisch hinspreche, während sie an etwas andres dachte.

Du fragst, weshalb ich gekommen bin, hob Marie wieder an. Es ist nicht mit wenigem gesagt und muß es doch sein. Ich kann jeden Moment wieder gerufen werden. Ich bitte Dich deshalb: höre mich ruhig und geduldig an! Es gab eine kurze Zeit, wo mein Wort bei Dir etwas galt. Ich weiß, das ist vorbei. Aber es würde mir keine Ruhe lassen, wollte ich schweigen jetzt, wo die Entscheidung an Dich herangetreten ist, Du Dich entschließen mußt – wollte Gott in dem Sinne, wie ich und mein Vater es wünschen! Du weißt, daß Deine Eltern heute nacht abgereist sind?

Heute nacht? sagte Anne erstaunt. Er hat mir gesagt, daß er fort wolle. Aber ich dachte: morgen, oder einen dieser Tage. Also heute nacht! Meinetwegen. Vielmehr: desto besser!

Warum: desto besser, liebe Anne?

Weil wir nicht länger miteinander leben konnten, erwiderte Anne. Wir haben uns darüber ganz klar und deutlich ausgesprochen. Nicht, weil er ruiniert ist! Er hat hier eine runde Million gemacht; er soll sie für sich behalten. Nein: er und ich – wäre ich ein Mann gewesen! Und auch so: daß ich es so lange ertragen habe – mir ekelt vor mir selbst, wenn ich daran denke, und was ich hätte thun sollen, trotzdem ich ein Weib bin, vor Jahr und Tag: an dem Tage, als mir seine ganze Elendigkeit klar wurde, und das ist lange her, lange her!

Und doch, sagte Marie, würdest Du, was Dir jetzt unerträglich scheint, weiter getragen haben. Wenn Du jetzt die Last von Dir wirfst, so thust Du es nicht Deinen Ueberzeugungen, Deinem empörten Rechtssinn – nenne es, wie Du willst – zuliebe. Du thust es um einer andren, ganz andren Liebe willen.

Die mit meinen Ueberzeugungen, meinem Rechtssinn zusammenfällt; die meinen Ueberzeugungen, meinem Sinn für Recht und Gerechtigkeit, für alles, das wert ist, daß Menschen dafür leben, erst Form und Gestalt und Gehalt gegeben hat.

Anne hatte es mit tönender Stimme gerufen; ihre vorher bleichen Wangen waren gerötet; durch die halbe Dämmerung, die noch immer ihr Lager umgab, leuchteten ihre Augen in einem Glanz, der Marie rührte und erschreckte. Derselbe Glanz scheinbar, der ihr so oft aus den Augen des Geliebten entgegengestrahlt war; und doch so anders, ach, so ganz anders! Geschwister beide in dem gährenden Blut, das von dem Urgroßvater, dem Neger, her durch ihre Adern rollte. Nur daß es bei dem einen den Leib zerrüttet hatte, damit die Psyche in göttlicher Freiheit ihre ätherischen Schwingen entfalten möge; und hier in dem blühenden Körper ein Dämon hauste, groß und wild und unbezähmbar, wie der Samum, der Afrikas Flammenstirn umsaust. Die innere Stimme raunte ihr zu: was Du auch sagen mögest, es ist vergebens. Aber hatte sie nicht da drüben wochenlang mit dem herandrohenden Tode gerungen, wissend, daß es vergebens sei? Und hier drohte ein Tod, unsäglich grauenvoller als jener dort.

So nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und sagte:

Sieh, Anne, auch ich glaube jetzt zu wissen, was Liebe ist, und daß man alles und sich selbst für seine Liebe hingeben kann und muß, denn es ist kein Opfer, sondern eitel Seligkeit. So sage ich nichts gegen Dich; vielmehr: wie Du nun bist: leidenschaftlich von Grund aus, – nachdem Du einmal liebtest, konntest Du, kannst Du nicht anders denken, nicht anders handeln. Du! Aber er! Anne, Anne, und wenn Du mich tot schössest, nachdem ich es gesagt – ich müßte es sagen: er ist Deiner nicht wert. Mehr: er ist Deiner unwert – völlig. Nein, laß mich reden – ich bitte, ich beschwöre Dich! Er gleicht ganz den jungen Männern von heute, wie Du sie mir an jenem Morgen im Tiergarten geschildert hast, und deren es gewiß nur zu viele gibt, – niemanden, der Dein Verdammungsurteil so vollauf verdiente, wie er: der Schwan, der stolz herangeschwommen kommt nach einem Stück Brot! Du warst ihm die reiche Beute, nach der er sein lebenlang gegiert hat. Dafür hat er sich gebläht mit stolzen Phrasen, die ihm ja leichtlich zu Gebote stehen, und geschmückt mit edlen Gedanken, von denen er wußte, daß er sie Dir aus der Seele spreche. Dafür hat er um meine Freundschaft gebuhlt, weil er hoffte, ich würde seine Fürsprecherin bei Dir sein. Er hat ja auch mich auf Augenblicke abermals zu täuschen verstanden; wie solltest Du Dich nicht haben blenden lassen, die Du nach großmütiger Frauen Weise, alles, was in Dir an edler Freiheitsliebe, an Fanatismus des Hasses jeglicher Unbill und Tyrannei auf Erden, an schwärmender Anbetung Deiner Ideale, an freudigem Mut, der Sache, die Du für die gute hältst, jedes Opfer zu bringen – die Du alles, alles ihm, den Du liebtest, liehest und gabst; ihn ja nur lieben konntest, nachdem Du ihn also herrlich ausgestattet und erhöht. Und war doch nur ein schöner Wahn. O, hätte ich himmlische Beredsamkeit, daß ich Dich wecken könnte aus diesem Wahn, wie ich Dich vorhin aus dem Schlummer wecken konnte! Jetzt ist der letzte Augenblick für Dich, zu retten, was noch zu retten ist: nicht Dein Glück, das für immer dahin ist; nicht Dein Herz, das an dieser Wunde ewig bluten wird; aber Deine Würde, Deine Selbstachtung! Läßt Du nicht jetzt freiwillig von ihm, – Anne, Anne, so wahr ich ein irrendes Menschenkind bin, wie alle andern, – in diesem irre ich nicht: läßt Du nicht von ihm, so wird er von Dir lassen, Dich schmählich, schimpflich verlassen, Dich von sich stoßen wie eine Dirne. Er ahnt schon längst, daß Dein Vater nicht der reiche Mann ist; er sinnt schon längst darauf, wie er sich für die Beute, die er sich aus den Händen gleiten sieht, entschädigen könnte. Mir blutet das Herz, daß ich es sagen muß: nachdem er erst vorgestern abend den guten, arglosen Vater mit schönen Worten zu umgarnen versucht und auch wirklich vollständig umgarnt hatte, schreibt er ihm gestern – offenbar in der Meinung, daß es dem Vater mit seiner edlen Gesinnung rechter Ernst gar nicht sein könne, und er selbst es nur ungeschickt angefangen und die Vorteile nicht hinreichend klar gemacht habe, – schreibt er: er wolle mir die Einwilligung Deines Vaters zu meiner Verbindung mit Ralph verschaffen dadurch, daß er sich Deinem Vater gegenüber verpflichte, auf Dich zu verzichten – selbstverständlich gegen eine entsprechende große Summe, die wir ihm zu gewähren hätten. Wir sind überzeugt, daß er heute hingehen wird, uns an Herbert zu verraten und mit ihm irgend einen Handel abzuschließen, von dem er sich Entschädigung verspricht dessen, was er hier aufzugeben gezwungen ist. Das klingt wie Wahnsinn und ist es auch: der Wahnsinn eines Spielers, der sein Spiel verloren gibt. Hat er es noch nicht gethan, jetzt wird er es thun, nachdem geschehen ist, was er sicher niemals für möglich gehalten: Dein Vater Dich beim Wort genommen, sich für immer von Dir getrennt, Dich in die Welt hinausgestoßen hat – in meine, in meines Vaters Arme. Der Vater schickt mich zu Dir; er bittet und fleht mit mir: komm zu uns! sei unser, die wir Dich so von ganzem Herzen lieben! Hilf Du uns unsren ungeheuren Schmerz tragen, wenn mir nun der Geliebte, dem Vater der teuerste Sohn entrissen wird; wie wir Dir Deinen Schmerz wollen tragen helfen, den Schatz Deiner Liebe an einen Unwürdigen vergeudet zu haben!

Schon ihre letzten Worte hatten die aufquellenden Thränen halb erstickt. Nun weinte sie laut auf, ihre Arme um den schlanken jungen Leib, der da vor ihr ruhte, schlingend; ihr Gesicht an den Busen drückend, dessen herrliche Formen das feine Nachthemd kaum verhüllte. Aber ihre Umarmung wurde nicht erwidert; der schlanke Leib erzitterte nicht; der schöne Busen hob und senkte sich gleichmäßig ruhig. Sie hatte es ja vorher gewußt: es würde vergebens sein. Langsam richtete sie sich auf mit niedergeschlagenen Augen, um die Abweisung, die sie erfahren, nicht noch einmal in dem Gesicht der Unglücklichen zu lesen, und wollte sich vom Bettrande erheben. Da fühlte sie sich an der Hand gehalten. Ein freudiger Schreck durchrieselte sie: konnte es dennoch sein? Zaghaft den Blick emporrichtend, schaute sie in ein Antlitz, dessen Ausdruck ihr fast einen Schrei des Entsetzens ausgepreßt hätte: das Antlitz der Meduse mit dem rätselhaften Lächeln, in welchem die Süße der Wollust mit der Bitterkeit des Todes buhlt.

Und aus den zuckenden Lippen kamen die leisen Worte:

Wenn ich Dir ein Wort glaubte von allem, was Du da gesagt hast, würde ich – nicht Dich erschießen, denn Du hättest ja recht; – dann würde ich mich erschießen, denn ich hätte nicht das Recht, auch nur eine Sekunde länger zu leben. Ich habe Dir gesagt: dem Manne, den ich lieben werde, werde ich auch gehören. Ich gehöre ihm. Wie ich das verstehe, ist es ein Band, das keine Menschenhand, das nur der Tod lösen kann – so oder so. Geh!

Sie hatte sich wieder in die Kissen zurücksinken lassen, die Arme fest über dem Busen verschränkt, die Augen geschlossen.

Marie stand in starrem Entsetzen. Hatte sie recht gehört? verstanden? Dann freilich gab es für das Unheil, in das diese hier sich verstrickt hatte, keine Lösung als den Tod.

Sich über die Hingestreckte beugend, küßte sie ihr die Stirn, wie man einen geliebten Toten küßt, und verließ das Gemach.


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