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Dreizehntes Kapitel.

Gerade als Doktor Brunn und Smith Ralph verließen, hatte Hartmut an die Thür von Annes Zimmer geklopft. Er stand, auf die Antwort von drinnen lauschend, die nicht kommen wollte, und pochte abermals – ein wenig stärker. Die Thür wurde halb geöffnet; Anne stand vor ihm: bleich, mit noch nicht völlig geordnetem Haar, im Morgengewande. Er sah, daß sie bei seinem Anblick zusammenzuckte.

Ich bitte um Verzeihung, sagte er; ich habe zweimal angeklopft.

Was wünschen Sie?

Ich komme von Ihrem Herrn Vater, erwiderte Hartmut, auf ein Papier deutend, das er in der Hand trug; – wenn Sie einen Augenblick für mich hätten? Nur einen Augenblick!

Come in! sagte Anne zurücktretend.

Er war ihr gefolgt bis in die Mitte des Zimmers, wo sie stehen blieb und sich zu ihm wandte.

What is the matter? I'm tremendously in want of time just this morning.

Dann möchte ich Sie freundlich bitten, deutsch zu sprechen, sagte Hartmut mit dem leisesten Anflug eines Lächelns. Ich kann mich deutsch kürzer ausdrücken, wissen Sie.

Zur Sache also! Was ist das für ein Blatt?

Der Rechnungsauszug unsers Bankiers für den verflossenen Monat. Herr Curtis läßt Sie bitten, einen Blick darauf zu werfen und ihm zu sagen, ob die Items, welche auf Ihr spezielles Konto fallen, richtig sind.

Warum sollten sie das nicht?

Hartmut zuckte leicht die Achseln.

Mein Auftrag ist damit zu Ende, sagte er.

Geben Sie!

Er hatte ihr das Blatt gereicht, auf welchem eine Reihe von Ansätzen mit Blaustift angestrichen, verschiedene auch noch mit einem Fragezeichen versehen waren. Während sie las, schoß ihr das Blut in die Wangen, und ihre Lippen zuckten. Nur für einen Moment. Dann reichte sie das Papier zurück.

Es ist alles richtig.

Hartmut verbeugte sich.

Und sagen Sie doch meinem Vater: ich sei es bisher nicht gewohnt, in meinen Ausgaben kontrolliert zu werden, und wünschte es auch jetzt nicht zu lernen.

Hartmut verbeugte sich abermals.

Darf ich eine Bitte, die mich persönlich betrifft, hinzufügen? sagte er. Auch dabei will ich mich möglichst kurz fassen. Sie erinnern sich, Miß Anne, daß Sie es gewesen sind, die mich in diesem Hause festgehalten hat, als ich auf dem Punkte stand, es zu verlassen. Ich finde Ihr Betragen gegen mich nicht konsequent. Nachdem – zweifellos durch Ihre gütige Fürsprache – meine Situation hier im Hause sich so günstig gestaltet hat, wie ich es nur irgend wünschen kann; nachdem Sie selbst in Ihrem freundlichen Benehmen gegen mich den andern Familienmitgliedern mit einem so guten Beispiele vorangegangen sind; ich mich, durch Sie ermutigt, meiner eigenen Familie mit Erfolg genähert habe, speziell von Marie Alden, auf deren Urteil Sie doch einen so hohen Wert legen, auf das gütigste empfangen bin, – finde ich plötzlich die Miß Anne der allerersten schlimmen Tage wieder; eine Miß Anne, die entweder gar nicht, oder englisch mit mir spricht; deren Blick mich zornig, feindselig trifft – wie eben jetzt. Ich bin mir keiner Schuld bewußt. Habe ich dennoch eine, so ist es, sollte ich denken, einfache Pflicht der Gerechtigkeit, daß Sie sie mir nennen. Wenn Sie –

Sie wollten sich kurz fassen und reden immerfort.

Ich habe mich nicht kürzer fassen können. Ich wollte nur noch sagen: Wenn Sie mich jetzt nicht mit einem gütig aufklärenden Worte entlassen, so haben Sie mich zum letztenmal gesehen. Ich harre Ihrer Entscheidung.

Aus ihrem Gesicht schien der letzte Blutstropfen geschwunden. Ueber den dunklen Augen, die eben noch Blitze gesprüht, lag ein glasiger Schein. Ihr schöner Mund war verzerrt wie eines Kindes, das in Weinen ausbrechen will; aber es kam kein Laut über die zuckenden Lippen.

Er sah ihr starr in die Augen, während er das Blatt langsam in die Seitentasche gleiten ließ.

Lebewohl denn! sagte er leise.

Er reckte sich, im Begriff sich zu wenden. Da brach ein dumpfer Schrei, wie eines zu Tode getroffenen Tieres, aus ihrer Kehle. Im nächsten Moment lag sie an seiner Brust, ihre Lippen auf die seinen pressend, ihn umklammernd mit eines Panthers Wildheit und Kraft. Er hatte Kuß um Kuß gegeben im grausamen Triumph des errungenen Sieges, und daß seine kühle Kraft ihrer rasenden Leidenschaft mindestens gewachsen war.

Noch hielten sie sich so umfangen, als von derselben Thür, durch die Hartmut vorhin eingetreten war, ein deutliches Klopfen erschallte und die Trunkene jählings aus seinen Armen riß.

Still! flüsterte er.

Unmöglich! sagte sie; man wird wissen, daß Sie bei mir sind.

Mit einer gewaltsamen Anstrengung, die selbst ihm Bewunderung abzwang, hatte sie sich gefaßt. Sie drückte das Taschentuch ein paarmal auf das jetzt glühende Gesicht, während er das Papier wieder aus der Tasche genommen hatte. Sie lächelte über seine Geistesgegenwart; warf ihm noch einen herrlichen, von Liebe strahlenden Blick zu und rief mit fester Stimme: herein!

Die Thür wurde langsam geöffnet; Smith erschien auf der Schwelle.

Nur näher! rief Anne; Sie kommen mir sehr gelegen! Dieser Herr hier stellt eben ein Inquisitorium mit mir an über meine Ausgaben vom vergangenen Monat. Sie können sich denken, wie angenehm mir das ist! Also, Herr Selk, sagen Sie das meinem Vater und lassen Sie sich solche Kommissionen nicht wieder geben!

Sie hatte dazu lachend mit der Hand gewinkt; Hartmut, der inzwischen das Blatt sorgfältig wieder zusammengefaltet hatte, verbeugte sich, indem er heiteren Tones sagte:

Ich weiß, Miß Curtis, daß Sie den Boten jederzeit von seiner Botschaft zu trennen wissen.

Dann, nachdem er auch Smith im Vorbeigehen höflich begrüßt, hatte er das Zimmer verlassen.

Kommen Sie, Smith! setzen Sie sich! sagte Anne.

Sie ging ihm voran nach den Sesseln, die um den jetzt zugestellten Kamin standen, während sie sich dabei noch einmal verstohlen über die Augen strich. Der Tag war trübe; doch setzte sie sich so, daß sie das mäßige Licht, welches durch die geschlossenen Stores hereinfiel, im Rücken hatte.

Wenn ich genau wüßte, was Migräne wäre, sagte sie, würde ich sagen: ich habe heute welche. Das Wetter ist unausstehlich.

Dennoch, erwiderte Smith, finde ich Sie heiterer als in den letzten Tagen. Das ist mir lieb. Wenn man jemand um etwas bitten will, ist es einem immer lieb, wenn der andre in guter Stimmung ist.

Mein Gott, rief Anne, Sie pflegen doch sonst keine langen Einleitungen zu machen! Das muß denn wirklich etwas Großes sein. Selbstverständlich handelt es sich um Ralph.

Es handelt sich um Ralph, erwiderte Smith, und es ist etwas Großes, etwas sehr Großes; etwas, von dem ich überzeugt bin, daß es entscheidend für sein Leben ist.

Anne zuckte in ihrem Sessel zusammen, und ihre Miene spannte sich plötzlich.

Sie machen mich ungeduldig, rief sie. Entscheidend – für sein Leben? – was soll das? Ich sagte Ihnen, daß ich heute etwas nervös bin.

Bitte, seien Sie nicht nervös! sagte Smith; und machen Sie wieder das heitere Gesicht von vorhin! Es wird mir dann leichter werden. – Sagen Sie, Anne, ist Ihnen in Ralphs Wesen während der letzten Zeit – seit der Gesellschaft bei Ilicius – nichts aufgefallen? Haben Sie nicht eine seltsame Veränderung an ihm wahrgenommen?

Mein Gott, erwiderte Anne ungeduldig, warum gehen Sie denn nicht mit der Sprache heraus? Warum sagen Sie nicht ganz einfach: Ralph hat sich in die kleine Person von Ada Ilicius verliebt? Das weiß ich doch seit einer Ewigkeit. Und ich dächte, ich hätte ein Uebermaß von schwesterlicher Konnivenz entwickelt, als ich das Dämchen fast jeden Tag in unser Haus brachte. Wenn er zu unwohl gewesen ist, von dieser meiner Largesse den rechten Gebrauch zu machen – meine Schuld ist das doch nicht. Man darf nicht unwohl sein, wenn man verliebt ist.

Und Sie würden wirklich nichts dagegen haben, wenn Ralph Ada Ilicius heiratete?

Mein Geschmack ist sie nicht; aber es soll ja vorkommen, daß man in seiner Liebe den Geschmack anderer Leute nicht trifft.

Sie hatte es in einem herben, fast höhnischen Tone gesagt, indem sie sich in den Sessel zurücklehnte und ihre Füße gegen den Vorsetzer des Kamins stemmte.

Es ist das immer ein Unglück, erwiderte Smith, in dem Falle, daß die andern Leute die nächsten Angehörigen sind. Aber ich kann Sie in diesem Punkte beruhigen: Ralph liebt Ada Ilicius nicht.

Dann ist er einfach krank. Sie sollten sich an Doktor Brunn wenden. Wo wollen Sie hin?

Ich bin es gewohnt, bei Ihnen ein freundliches Gehör zu finden, sobald es sich um Ralph handelt. Ich finde es heute nicht. Lassen Sie uns abbrechen!

Er hatte sich langsam erhoben. Anne zog die Füße vom Kamin und streckte, sich schnell aufrichtend, ihm die Hand entgegen:

Verzeihung, Smith! Mir ist heute ein wenig wunderlich. Bitte, setzen Sie sich wieder! Ich will ganz artig sein. Ich wäre ja glücklich, wenn Ralph eine Liebe – eine recht leidenschaftliche Liebe hätte. Aber Sie sagen selbst: es ist nicht der Fall. Was soll ich also thun?

Ihre Stimme war bei diesen Worten weich geworden; Smith glaubte, in ihren Augen Thränen glänzen zu sehen. Er mußte den günstigen Moment benutzen. Ihre Hand festhaltend, sagte er schnell und bewegt:

Machen Sie, daß Marie Alden wieder ins Haus kommt!

Ah! sagte Anne.

Sie hatte ihre Hand aus der seinen gezogen und saß zurückgelehnt, mit herabgesunkenen Armen.

Also doch! murmelte sie, doch! Seltsam! seltsam! Gerade sie, die –

Und Sie sind Ihrer Sache sicher? fragte sie laut, indem sie sich dabei hastig aufrichtete und ihm starr in die Augen sah.

Völlig, erwiderte Smith. Nicht, daß er es mir gestanden hätte! Es würde auch zu weit führen, wollte ich Ihnen alles sagen, woraus ich meinen Schluß gezogen habe. Davon dürfen Sie überzeugt sein: ich bin meiner Sache sicher.

Wirklich? sagte Anne. Sind Sie ein so großer Menschenkenner und Herzenskündiger? Da muß man sich ja vor Ihnen in acht nehmen!

Sie lachte. Das Lachen klang nicht eben frei und berührte Smiths leises Ohr schmerzlich. Aber hier handelte es sich um das eine; und, wenn in dem andren noch eine Rettung war, konnte sie nur aus derselben lauteren Quelle fließen.

Sie wollen also meine Bitte erfüllen? sagte er. Die Antwort kam nicht; er hatte es erwartet. Es handelt sich für Ralph um Tod und Leben; fügte er leise hinzu.

Wohl möglich, murmelte sie; sehr wahrscheinlich. In einer wahren Liebe handelt es sich immer um Tod und Leben. Es wäre auch so bei mir – bei mir sicher, obgleich ich nicht krank bin wie Ralph.

Damit hat es keine Not, sagte Smith schnell. Ich hatte eben eine lange Konferenz mit Doktor Brunn. Er hält es für zweifellos, daß Ralph in einem neuen Leben, das sein Herz beglückt, volle Genesung findet. Natürlich denkt er dabei, wie alle Welt, an Ada Ilicius.

Wieder blieb ihre Antwort aus.

Nun, Anne?

Von ihrem Gesicht wollte das Dunkel nicht weichen. Wie von einem körperlichen Schmerz gefoltert, warf sie sich im Sessel hin und her. Plötzlich sagte sie:

Wer steht uns dafür, daß Marie Alden kommt, wenn ich sie bitte? Sie wäre, auch ohne von mir besonders gebeten zu sein, in diesen Tagen wohl einmal gekommen, wenn es sie hierher zöge. Und unter welchem Vorwand könnte ich sie gerade jetzt bitten? Sie sagen: alle Welt nimmt an, daß zwischen Ralph und Ada ein Verhältnis besteht; muß es annehmen, aber dann sicher auch Marie. Wie ich sie kenne, kann sie daran keine Freude haben, sowenig wie ich oder Sie. Um so weniger, je genauer sie selbst ihre Schwester kennt! Ohne weitere Erklärung würde mithin eine Einladung für sie die Zumutung in sich schließen, Zeugin sein zu sollen von etwas, das ihr widerwärtig ist; durch ihre Gegenwart gewissermaßen das Widerwärtige zu sanktionieren. Das können wir nicht verlangen. Aber Sie sagen: Ralph liebt sie. Gut. Dergleichen pflegt auf Gegenseitigkeit zu beruhen; kann es jedenfalls. Wenn der Fall hier vorläge? Ich habe es zuerst angenommen; es schien mir so begreiflich, natürlich. Dann kam ich davon ab, weil Ralph so hartnäckig log. Nun weiß ich die Wahrheit und komme wieder darauf zurück. Es muß so sein. So erklärt sich einzig und allein ihr Wegbleiben. Soll ich ihr nun schreiben: Ralph liebt Ada nicht; Ralph liebt Sie. Fliegen Sie in seine Arme! Es ist unmöglich. Ich kann sie nicht zu uns laden.

Smith hob den Kopf, den er, während Anne in immer leidenschaftlicherer Weise so sprach, in die Hand gestützt hatte und sagte:

Wollen Sie mir es überlassen, an sie zu schreiben? Sie hat schon ein paar Briefe von mir gehabt – damals in jener andren Angelegenheit.

Wieder kam Annes Antwort nicht; wieder bewegte sie sich unruhig im Sessel hin und her. Smith betete still, daß die Aermste sich in diesem Kampf für ihren guten Engel entscheiden möge.

Nun wohl! sagte sie. Schreiben Sie! Und dann, daß sie nicht auf eine Stunde kommt! Das würde keinen Sinn haben. Auf Tage – Wochen! Wie Sie es motivieren – ist Ihre Sache.

Es soll meine Sache sein; sagte Smith; ich danke Ihnen von ganzem Herzen.

Er beugte sich, ihre Hand ergreifend, über sie; drückte seine Lippen auf die Stirn, die sie ihm bot, und ging. Als er sich in der Thür noch einmal wandte, saß sie auf derselben Stelle, tief gesenkten Hauptes. Ein Sonnenstrahl, der sich durch die grauen Wolken gestohlen, traf ihr schwarzes Haar, daß es wie in Feuer aufflammte. Im nächsten Moment schon war es wieder dunkel um sie her.

Smith schüttelte, leise seufzend, die weißen Locken. Dann hatte er geräuschlos die Thür geschlossen.


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