Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

Den Gesangsvorträgen im Musiksaale war im Speisesaale und einigen daran stoßenden Gemächern das Souper gefolgt, welches an kleinen bereit gehaltenen Tischen von einer zahlreichen Dienerschaft serviert wurde. Schon seit Jahren war Marie gewohnt, an diesen Mahlen entweder keinen Teil zu nehmen, oder doch höchstens gegen das Ende derselben wieder zu erscheinen, da die ganze Verantwortung dafür, daß in der wichtigen Stunde alles der Ordnung gemäß ging, auf ihren Schultern ruhte. Heute, wo bei der großen Zahl der Gäste, den infolgedessen besonders schwierigen Einrichtungen, der ungewöhnlich reichen Speisenkarte, den vielen zu den Hausleuten angeworbenen Lohndienern die Verantwortung ausnahmsweise groß war, durfte sie gar nicht daran denken, daß auch sie zur Gesellschaft gehöre, und atmete erleichtert auf, als endlich die Reste des Dessert wieder in dem Anrichteraum erschienen, den sie inzwischen kaum für einen Augenblick verlassen hatte. Auch dann verging noch eine gute Weile, bevor sie sich mit ruhigem Gewissen in den Saal zurückbegeben konnte, wo schon seit einer halben Stunde sich die Jugend im Tanz bewegte, während in den vorderen Salons die älteren Herrschaften an den Spieltischen, oder konversierend ihre Zeit so gut es gehen wollte verbrachten.

Ermüdet von ihrer Arbeit, hatte sie sich neben der Thür, durch die sie in den Saal geschlüpft war, auf einen Divan niedergelassen, froh, daß eine Gruppe von Herren, die ihr den Rücken zuwandten, ihren Platz zu einer Art von Versteck machte, von dem aus sie doch die Vorgänge im Saal ganz gut beobachten konnte. Man hatte sich eben zu einer Quadrille à la cour geordnet; so war die tanzende Gesellschaft besonders leicht zu übersehen. Maries Blick hatte zuerst die schöne Amerikanerin gesucht und schnell in dem letzten Carré links am entgegengesetzten Ende des Saales entdeckt. Ihr Partner war Reginald, der auch die Quadrille kommandierte; ihr Visavis Ada, die selbstverständlich den jungen von Meiringen zum Herrn hatte. In demselben Carré tanzte auch Stephanie; es schien, als ob man alle »Sterne« des Abends habe vereinigen wollen. Herbert konnte sie nicht entdecken. Er war kein leidenschaftlicher Tänzer, aber Quadrillen und Françaisen, die ihm keine heftige Bewegung zumuteten, pflegte er doch nicht zu versäumen; so beunruhigte sie seine Abwesenheit, weil sie nur eine Erklärung für dieselbe hatte: er war eifersüchtig auf Reginald und wollte nicht Zeuge von dessen Erfolg bei Miß Anne sein. Erfolg? worin hatte denn der bestanden? Daß Reginald, als der gesellschaftlich Gewandtere, bei der Einführung der Dame in den Höflichkeiten, welche die Söhne des Hauses der Fremden schuldig waren, dem älteren Bruder den Rang abgelaufen! Das würde der so viel Klügere, Gesetztere, in geistiger Hinsicht zweifellos dem jüngeren weit Ueberlegene bald genug wieder einbringen bei einer Dame, deren dunkle Augen wahrlich tiefer zu blicken schienen, als sonst Mädchenaugen in diesen Jahren zu blicken pflegen. Aber wie thöricht war es, dergleichen Erwägungen ernsthaft anzustellen! Blieben die Amerikaner längere Zeit in Berlin, so mußte sich bald ein großer Kreis von Bewunderern und Bewerbern um das schöne reiche Mädchen drängen. War doch anzunehmen, daß jetzt schon die halbe junge Männerwelt hier im Saale den Rest der Nacht von ihr träumen würde! Welche Chance hatten ihre Brüder vor den andern voraus? Reginald, der alle acht Tage für eine neue Herzenskönigin schwärmte, würde sich bald zu trösten wissen; und Herbert hatte seit einem halben Jahre der zweiten Tochter seines Ministerialdirektors zu auffällig gehuldigt, um jetzt noch zurücktreten zu können.

Die Tapetenthür, neben der Marie saß, und durch welche die Diener aus und ein gingen, hatte sich wieder einmal geöffnet; Herbert war hereingetreten und an der Thür stehen geblieben, ohne die Schwester zu sehen. Das Licht von dem nächsten Kronleuchter fiel hell in sein Gesicht, das ungewöhnlich blaß erschien; der immer strenge Zug um den wohlgebildeten, mit einem Schnurrbart beschatteten Mund war besonders scharf ausgeprägt. Plötzlich hatte er Marie bemerkt.

Ah! sagte er, sich lebhaft zu ihr wendend.

Wie kamst Du da herein? fragte Marie.

Ich habe Dir etwas ins Handwerk gepfuscht; erwiderte er mit gezwungenem Lächeln. War grausam langweilig da vorn – habe ein paar Flaschen Sekt beordert; die alten Herrschaften schlafen uns sonst alle ein.

Marie wollte sich erheben.

Es ist nicht nötig, sagte er; ich habe schon alles besorgt.

Er hatte sich bei diesen Worten zu ihr gesetzt, – eine Gunst, die für Marie so ungewöhnlich war, daß sie förmlich erschrak.

Nun, fuhr er fort; was sagst denn Du zu Fräulein Curtis?

Ich finde sie sehr schön und eigenartig; erwiderte Marie.

Es freut mich, daß sie Dir gefällt. Uebrigens beruht es auf Gegenseitigkeit – scheint es; wenigstens war ihr Dank für Deine Begleitung nicht gerade landesüblich, aber bezeichnend. Es wäre doch sehr nett, wenn Du mit ihr in ein näheres Verhältnis kämst; vielleicht öfter mit ihr musiziertest und dergleichen.

Ich würde das gewiß sehr gern thun; erwiderte Marie; aber Du weißt, daß ich mich ganz von der Gesellschaft zurückgezogen habe. Du solltest Dich an Ada wenden.

Ada ist ganz meiner Meinung: es wäre sehr liebenswürdig von Dir, wenn Du Fräulein Curtis ein wenig unter Deine Flügel nähmest. Worüber lachst Du?

Ueber das Bild. Wenn ich auch gern als Henne –

Es kommt auf das Bild nicht an. Und schließlich ist sie doch fremd in unsrer Gesellschaft; da kann ein bißchen Direktive, die man ihr gibt, nicht schaden.

Marie schwankte einen Augenblick; dann sagte sie entschlossen:

Meinst Du nicht, daß ich von Reginald einen ähnlichen Auftrag erhalten könnte?

Wie das?

Solltest Du mich wirklich nicht verstanden haben?

Herbert lächelte spöttisch.

Ich wundere mich, daß Du ihm die Ehre anthust, ihn ernsthaft zu nehmen. Das scheint ja nicht einmal Lotte Blumenhagen zu thun, die doch schon eher Ursache dazu hätte, nachdem er sie den ganzen Winter hindurch angeschwärmt hat. Freilich, Blumenhagens haben abgesagt, und da macht er von seiner Freiheit den entsprechenden Gebrauch. Er mag sich in Acht nehmen! Mit dem alten Blumenhagen ist nicht zu spaßen, abgesehen davon, daß er sein Brigadier ist. Nein, ernsthaft ist an dem Menschen nichts als sein Schuldenmachen – ein Handwerk, das ich ihm übrigens nächstens gründlich zu legen gedenke. Auch Stephanie habe ich in Verdacht, daß sie mal wieder ihr altes Metier bei der Mutter betreibt. Hast Du inzwischen die Bekanntschaft von Professor Curtis gemacht?

Nein.

Ich werde ihn Dir holen; er hat schon ein paarmal nach Dir gefragt. Du bleibst doch hier sitzen?

Ich habe keine Veranlassung aufzustehen.

Herbert war gegangen, Marie in einer Stimmung zurücklassend, die nicht erfreulich war. Daß sich jetzt ihre Verwandten einer nach dem andren förmlich um sie bemühten, war ihr mehr befremdlich, als daß es ihrem Stolze geschmeichelt hätte. Einen wie tiefen Eindruck auch das schöne Mädchen auf ihr Herz gemacht hatte, und der Gedanke, mit demselben in nahe Beziehungen zu treten, sie entzückte; wie klar sie auch darin die einzige Möglichkeit sah, sich dem lieben Mister Smith, der ihr jetzt schon wie ein alter verehrter Freund war, wieder zu nähern – die Erinnerung jenes Besuches, durch den sie sich auf einem so andern Wege, zu einem so andren Zwecke Zutritt zu der Familie Curtis hatte verschaffen wollen, drückte auf ihr verdüstertes Gemüt; und wie gering der Anspruch auch war, den ihre Stiefbrüder auf ihre Liebe machen konnten, – das haßverzerrte Gesicht Herberts, als er eben von dem Bruder sprach, hatte sie ernstlich erschreckt. Mit welchem Recht durfte er Reginald seine Liebelei mit der Oberstentochter vorwerfen, während er selbst sich so unverhohlen zu einer neuen Leidenschaft bekannte und darüber Julie, die noch dazu anwesend war, so sträflich vernachlässigte!

Aber war sie selbst denn wirklich ein altes Mädchen geworden, das in einem Ballsaale nichts Besseres anzustellen weiß, als sich über anderer Leute Angelegenheiten den Kopf zu zerbrechen? Was freilich soll der Kopf thun, wenn kein geliebter Mensch da ist, bei dessen Erblicken, bei dessen Gedenken nur das Herz heftiger klopft? jedweder erscheinen, jedweder gehen kann, ohne es aus seiner Ruhe aufzuschrecken?

Nun fühlte sie doch das Blut in ihre Wangen steigen, und sie nahm unwillkürlich eine andere Haltung an, als sie an der Längsseite des Saales hinter der Reihe der Tanzpaare Herbert und den Professor Curtis auf sich zukommen sah. Herbert wurde durch eine Dame – es war Julie Kinitz – aufgehalten; der Professor schritt weiter, schien aber nun die Gesuchte nicht finden zu können. Er nahm eine Lorgnette vor das Auge und blickte in einer verkehrten Richtung. Sollte sie ihm entgegengehen? Aber bevor sie sich dazu entschließen konnte, hatte er sie entdeckt, war mit wenigen raschen Schritten bei ihr und nannte, sich verbeugend, seinen Namen, sofort die Bitte hinzufügend, sie möge verstatten, daß er sich ein wenig zu ihr setze. Auf ihr zustimmendes Nicken nahm er neben ihr Platz und sagte, ihr freundlich in die Augen sehend:

Ich komme, ein Versäumnis einzubringen, indem ich mich erst jetzt, da der Abend bereits zu Ende geht, der ältesten Tochter des Hauses vorstelle. In der That habe ich Sie, nachdem meine Schwester gesungen hatte, vergebens gesucht; ich bin also nicht ganz so schuldig, wie ich scheine.

Ich war nicht im Saale; erwiderte Marie ausweichend.

Und auch jetzt tanzen Sie nicht, wie ich sehe.

Ich habe schon seit Jahren das Tanzen aufgegeben.

Sind Sie krank?

Nur, wenn neunundzwanzig Jahre alt zu sein, eine Krankheit ist.

Dann bin ich um zwei Jahre kränker als Sie.

Dafür sind Sie ein Mann.

Dem, um mit Ihrem großen Dichter zu sprechen, schon als Knaben das schönste Mädchen höchstens »Mut zu neuen Liedern«, aber nicht zu neuen »Tänzen« hätte geben können. Ich durfte niemals tanzen.

Marie erinnerte sich, von Herrn Smith gehört zu haben, daß ihm die Gesundheit seines jüngeren Freundes Sorge mache. Es fehlte nur ein weniges, und sie wäre damit herausgekommen. Er mochte ihren verwirrten Blick als eine Frage gedeutet haben und fuhr unbefangen fort:

Meine Lungen waren nie die stärksten, und eine heftige Bewegung verursachte mir von jeher fürchterliches Herzklopfen, weshalb ich denn auch glaube, daß die Aerzte sich irren, und mein Leiden wohl in der Brust, aber nicht in den Lungen sitzt. Doch was verderbe ich Ihnen Zeit und Laune mit so unerfreulichen Dingen! Sprechen wir lieber von meiner Schwester, will sagen: verstatten Sie mir, den herzlichsten Dank für die wundervolle Begleitung, durch die sie uns allen einen Hochgenuß verschafft und meiner Schwester zu einem Erfolge verholfen haben.

Dessen Ihr Fräulein Schwester auch ohne mich sicher gewesen wäre.

Ich weiß nicht. War doch der Anfang – die unglückselige Ballade – ein regelrechtes Fiasko. Die Negerlieder fanden freilich Anne in ihrem richtigen Fahrwasser – wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf; aber ohne einen so geschickten Piloten, – um im Bilde zu bleiben – wäre das Fahrzeug doch nicht so glücklich in den Hafen gekommen. Warum sehen Sie mich so verwundert an?

Weil ich es nicht für möglich gehalten habe, daß ein Ausländer unsre Sprache so vollendet sprechen könnte.

Sie sind sehr gütig. Nur ist es gewissermaßen meine Pflicht, das Deutsche nicht zu radebrechen, sintemal ich bereits seit sechs Jahren wohlbestallter ordentlicher Professor der deutschen Sprache und Litteratur in meiner Heimat bin. Es fehlt ja auch, wie Sie wissen, bei uns an Gelegenheit nicht, sich im Verkehr mit Ihren Landsleuten im Deutschen zu üben. Dazu habe ich das Glück gehabt, und habe es, Gott sei Dank, noch, einen deutschen Freund zu besitzen, in dessen Munde, da er ein edelster Geist, eine wahrhaft schöne Seele ist, Ihre herrliche Sprache zur Musik wird. Bei einem solchen Lehrer hätte man schon ein sehr träger und ungelehriger Schüler sein müssen, um es nicht mit der Zeit zu einem leidlichen Resultat zu bringen.

Der Professor blickte nieder auf den Klapphut, den er mit beiden Händen auf den zusammengepreßten Knieen hielt. Diese ein wenig eckige und doch nicht anmutlose Haltung, welche sich von dem freieren Gebaren der anderen Herren so wesentlich unterschied, hatte er während der ganzen Unterredung unverändert beibehalten. Dazu glänzten seine blauen Augen, wenn er einmal aufschaute, von einem so herzlichen Wohlwollen, und als er jetzt von seinem Freunde sprach, hatten sich die ruhigen, etwas unregelmäßigen Züge so schön belebt – von Marie war die Befangenheit, mit der sie in den ersten Minuten der Unterhaltung zu kämpfen gehabt, völlig geschwunden. Sie meinte, auch wenn Herr Smith nicht Ralph Curtis seinen besten Freund genannt und dieser nicht eben das Lob jenes so warm verkündet hätte, würde sie doch die Wahlverwandtschaft der beiden, im Alter so sehr verschiedenen Männer herausgefunden haben.

Und nun überkam sie der dringende Wunsch, von diesem seinem jüngeren Freunde den geheimnisvollen Schleier gehoben zu sehen, welcher für sie die Erscheinung des alten Mannes umwebte, der so seltsam in ihr Leben eingegriffen, und mit dessen Bilde sich ihre Phantasie alle diese Tage beschäftigt hatte. In dem Saale bewegte sich auf einmal alles, was tanzen konnte, im Walzertakte nach einer Musik, von der man in dem großen Geräusche kaum einen Ton vernahm; die Gruppe der müßigen Herren vor dem Divan, auf welchem sie mit dem Professor saß, hatte längst einer Dienerschar Platz gemacht, welche, die großen Tabletten mit Wein und Limonade in den Händen, geduldig des Augenblicks harrte, wo sie ihres Amtes würde walten können – in einer stillen Wüste hätte Marie mit dem Manne da an ihrer Seite nicht einsamer sein können, als hier in dem lärmvollen Saale.

Erzählen Sie mir ein wenig von diesem Ihrem Freunde! sagte sie entschlossen.

Gern; erwiderte der Professor ohne Zögern; ich habe sogar das Bedürfnis, gerade mit Ihnen über ihn zu sprechen, weil ich den Wunsch, vielmehr die Gewißheit habe, Sie beide werden, wenn Sie einander einmal kennen, gute Freunde werden. Dennoch, trotzdem ich zweifellos vorläufig ihm der liebste Freund bin und nun seit zehn Jahren tagtäglich mit ihm verkehre, und wir seit den letzten sechs Jahren – seitdem ich Professor bin – gemeinschaftlich hausen und leben, wüßte ich doch, was seine Vergangenheit betrifft, verhältnismäßig wenig von ihm zu berichten. Das wird mir wieder einmal recht klar in diesem Augenblicke, während ich im alltäglichen Lauf der Dinge kaum daran denke. Ich habe keinen ausgeprägten historischen Sinn und gleiche auch darin dem Freunde, den eigentlich nur die Ideen interessieren, die hinter den Dingen stehen, und dem infolgedessen die Dinge selbst, die Fakten und Daten, verhältnismäßig gleichgültig sind. – Charles Smith, oder Karl Schmidt, wie mein Freund eigentlich heißt, muß nach meiner Berechnung vor einem Menschenalter Deutschland und Europa verlassen haben; wenigstens hat mein Vater bereits im Jahre fünfzig seine Bekanntschaft in unserm äußersten Westen, in Kalifornien, gemacht, das damals, nicht lange nach Entdeckung der Goldminen, in seinem ersten ungeheuren Aufschwunge sich befand und der Sammelpunkt aller Abenteurer war, deren Zahl bekanntlich bei uns Legion ist – einheimische und fremdländische Elemente in buntester, nach kurzer Zeit kaum noch unterscheidbarer Mischung. Wie mein Freund in diese Gesellschaft geraten ist – Gott mag es wissen! Ich muß, da er der Letzte wäre, seine Seele dem Mammon zu verkaufen, annehmen: aus purem Zufall, oder aus Mißverständnis der Verhältnisse, indem er hoffte, dort im fernsten Westen die »besseren« Menschen zu finden, nach denen er in den Metropolen unsres Osten vergebens gesucht haben mochte. Aber, wie gesagt, ich weiß von dieser Zeit seines amerikanischen Lebens kaum etwas Authentisches außer, daß er die mäßige Summe, welche er mit herübergebracht hatte, dort in wüstem Terrain anlegte – vermutlich, auf demselben als Einsiedler zu leben – auch kurze Zeit darauf so gelebt zu haben scheint, bis die nachdrängende Menge ihn vertrieb, und er meinem Vater jene Wüstenei verkaufte, welche dieser in Bauterrains ausschlachtete und damit den Grund zu seinem Reichtum legte.

Bald, vermutlich unmittelbar darauf, muß er Kalifornien verlassen haben, wenigstens ist ihm mein Vater, der im Verfolg seiner sehr komplizierten Geschäfte das Land von einem bis zum andren Ende wiederholt durchschweifte, dort nicht wieder begegnet, sondern erst viele Jahre später in New-York. Was Smith in der Zwischenzeit getrieben, wüßte ich wiederum nicht zu sagen; nur soviel habe ich aus seinen lückenhaften Mitteilungen entnommen, daß er vor dem Kriege, als begeisterter Anhänger der Sache des Nordens und der Sklavenemanzipation, die Vereinigten Staaten als Stumpredner – Sie wissen, was das ist, – bereist hat und bei einer dieser Gelegenheiten beinahe gelyncht worden ist. Dann hat er, der damals doch schon den fünfziger Jahren nahe gewesen sein muß, den Krieg mitgemacht als gemeiner Soldat und sich ganz gegen Ende der Kampagne eine schwere Verwundung geholt, von der er in einem New-Yorker Hospital nur mühsam genas. In dem Hospitale fand ihn mein Vater, der einer der Kuratoren desselben war und in dies er s einer Eigenschaft dem von niemand gekannten und, ich fürchte, stark vernachlässigten fremden Manne, in welchem er nur mit Mühe den alten kalifornischen Kameraden wiedererkannte, einige Gefälligkeiten erweisen konnte. Diese Gutthat, wenn man so unbedeutende und selbstverständliche Dienste anders so nennen will, hat denn für uns reiche Früchte getragen, ich meine: für meine Schwester Anne und mich. Aus dem Hospital entlassen, hatte Mister Smith mit dem Reste seines kleinen Kapitals eine Schule für verwaiste und verwahrloste Kinder aufgethan; besuchte aber auch unser Haus täglich, um mit mir Deutsch zu treiben und Anne in der Musik zu unterrichten, die er meisterlich versteht. Anne war damals erst sieben oder acht Jahre, ich schon zwanzig; aber das Kind und der Jüngling wurden, jeder in seiner Weise, sofort von einer heftigen Zuneigung für den Mann erfaßt, desgleichen ihnen in ihrer Umgebung noch niemals vorgekommen war, und der seinerseits wieder in der Liebe zu uns ein tiefstes Bedürfnis seines Herzens befriedigen konnte. So vergingen ein paar Jahre. Zelotische Pfaffen, denen er nicht bibelgläubig genug war, benutzten die Gelegenheit eines Krawalls, um den Pöbel gegen ihn aufzuhetzen und ihm seine Schule zu zerstören. Er geriet darüber auch – ich weiß nicht wie – in bittere materielle Bedrängnis, die er mit stoischer Ruhe ertrug, und noch länger ertragen haben würde, wäre er nicht eines Tages, während er bei uns unterrichtete, vor Erschöpfung zusammengebrochen. Anne und ich hatten ihm schon längst in den Ohren gelegen, sich das Asyl, das ihm der Vater – um unsertwillen – in seinem Hause angeboten, gefallen zu lassen. Er hatte sich stets geweigert. Jetzt mußte er bleiben, wenigstens vorläufig. Wir sorgten dafür, daß er eine Woche der andren zulegte. Dann wurde ich lebensgefährlich krank und er hatte mich zu pflegen; dann den Genesenen, soweit er genesen konnte, in ein Bad zu begleiten; dann auf die Universität, um dort mit Jünglingseifer meine Studien zu teilen; und so hat er sein Leben mit dem meinen vereinigt und ist jetzt mit mir herübergekommen, was ihn allerdings einen schweren Entschluß gekostet hat. Er war damals aus Deutschland gegangen mit dem Vorsatz, niemals wieder zurückzukehren. Er konnte seiner großen Liebe zu mir kein größeres Opfer bringen, als indem er um meinethalben diesen Entschluß nun dennoch brach. – Aber ich sehe, der Tanz ist zu Ende, und ich habe Ihre Güte wohl schon zu lange in Anspruch genommen.

Ich habe Ihnen zu danken, sagte Marie lebhaft; Sie haben mir durch Ihre Mitteilungen einen großen Genuß gewährt.

Der Dank ist wahrlich auf meiner Seite; erwiderte Ralph. Es ist ein hohes und seltenes Glück, sich mitteilen zu können in der vollen Sicherheit, verstanden zu werden. Ich habe nur noch den einen Wunsch, Sie möchten die Güte haben, mir dieses Glück auch fernerhin gelegentlich zu gewähren.

Er hatte den Klapphut von den Knieen genommen und sich erhoben; Marie mit ihm. Vor ihnen in dem Saale drängten sich die erhitzten Tänzer um die Diener mit den Tabletten, schnell ein Glas hinunterstürzend, bevor sie ihren Damen die gewünschte Erfrischung brachten: Aus der Hand, meine Gnädigste! es gibt wirklich keine andere Möglichkeit!

Der Professor blickte mit seinen stillen Augen nachdenklich in das bunte Treiben.

Sonderbar, sagte er, ich muß, wenn ich solche Scenen sehe, immer an Goethes »Fliegentod« denken. Aber das ist doch wohl nur, weil ich ein kranker Mann bin und keine Ahnung davon habe, wie süß das Gift sein mag. Sie kennen das Gedicht?

Nein; erwiderte Marie.

Der Dichter schaut sinnend einer Fliege zu, die mit Gier und innigstem Wohlbehagen das »verräterische Getränke« saugt, ohne eine Ahnung, daß sie sich den Tod trinkt.

Aber darauf kommt es doch endlich hinaus, der Trank des Lebens mag uns munden oder nicht; sagte Marie.

Der Professor hatte sich schnell zu ihr gewandt und blickte sie aus seinen großen blauen Augen mit einem Ausdruck an, der sie erröten machte. Er sagte aber nichts, und eben jetzt kamen Miß Anne und Ada, Arm in Arm, zu ihnen.

Sprechen Sie ein Machtwort, Herr Professor! lispelte Ada. Ihre Schwester will durchaus fort, das heißt: daß unser Ball zu Ende geht. Wer wird ohne sie noch tanzen wollen? Und sie ist doch zu der nächsten Française mit meinem Bruder Reginald engagiert!

Ada sprach in ihren sanften Tönen weiter zu Ralph, der in seiner ruhigen freundlichen Weise antwortete; Anne hatte sich zu Marie gewandt.

Ich habe wohl bemerkt, sagte sie, daß Sie lange mit meinem Bruder geplaudert haben. Ist er nicht ein lieber Mensch?

Ganz gewiß ist er das; erwiderte Marie mit Wärme.

Es freut mich herzlich, daß Sie es finden; fuhr Anne fort. Ich bin nämlich entschlossen, Sie müssen meine Freundin werden. Das könnte schon sein, ohne daß Sie auch meines Bruders Freundin sind – denn er und ich sind eigentlich recht verschiedene Wesen; – aber besser ist besser. Nun aber muß ich Sie zu meiner Mama bringen und zu meinem Papa, damit Sie uns alle schon kennen, wenn Sie zu uns kommen. Unsern guten Smith erhalten Sie dann als Extra-Belohnung.

Sie hatte Marie unter den Arm gefaßt und zog die innerlich Widerstrebende mit sich. Mußte doch jetzt der Moment eintreten, wo sie wieder vor Missis Curtis erscheinen würde – ein Moment, vor dem sie sich den ganzen Abend scheu in die Ecken gedrückt hatte und gern aus dem Saal in ihre Wirtschaftsräume geflohen war! Aber an ein Ausweichen war hier nicht zu denken.

Du darfst die Française mit Fräulein Ada tanzen – auf meine Verantwortung! rief Anne über die Schulter gewandt ihrem Bruder zu.

Und dann zu Marie:

Auf meine doppelte Verantwortung. Einmal schadet eine mäßige Bewegung meinem hypochondrischen Bruder nicht; im Gegenteil. Und ebenso sicher bin ich, daß ihn mir Fräulein Ada nicht abspenstig machen wird. Ich bin nämlich, müssen Sie wissen, vorläufig seine einzige Liebe – faute de mieux. Und Ihre Ada – so schön sie ist – das Mädchen, in das sich Ralph über meinen Kopf weg verlieben könnte, ist sie nicht. Sie nehmen mir das nicht übel?

Wie sollte ich?

Sie können ja auch nichts dafür, daß Ralph ein so eigener Mensch ist, der überhaupt gar nicht in unsre Zeit hineingehört, sondern in das vorige Jahrhundert: mit seinen großen und etwas unbestimmten schwärmerischen Ideen. Vielleicht auch in die Zukunft, in der freilich solche Feste wie diese nicht mehr gefeiert werden könnten, und unsre petits mâitres und pretiösen Dämchen eine traurige Rolle spielen würden.

Während das schöne Mädchen so sprach, zuckte ein ironisches Lächeln um ihre vollen Lippen, und ihre dunklen Augen glänzten verachtungsvoll über die Menge im Saal, aus der, wie sie jetzt durch dieselbe schritten, doch so viele bewundernde, ja anbetende Blicke auf sie gerichtet waren.


 << zurück weiter >>