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Drittes Kapitel.

Das sehr reichhaltige, von zwei Dienern servierte Diner entsprach hinsichtlich der Unterhaltung so ziemlich der Schilderung, welche Anne von den häuslichen Mahlzeiten gemacht hatte, so oft Ralph und Smith, wie heute, nicht daran teilnahmen. Anne und Hartmut schwiegen fast beständig, und wenn Herr Curtis nicht nur von Geschäften und Frau Curtis von Kleidermoden sprachen, so machten sie diese Ausnahme einzig zu gunsten des eben stattgehabten Attentates, das besonders Frau Curtis sehr zu interessieren schien. Sie war zufällig an jenem Abend der Ermordung Lincolns im Theater gewesen. Die furchtbare Scene mußte auf sie einen Eindruck gemacht haben von einer Stärke und Nachhaltigkeit, die sich jetzt in der sonderbarsten Weise äußerten. Sie schien dafür zu halten, daß ein derartiges Attentat nur in einem Theater stattfinden könne und also auch das heutige auf den Kaiser in einem solchen stattgefunden haben müsse, wo sie denn dem Opernhause wegen seiner Größe und Eleganz den Vorzug vor dem Schauspielhause gab. Auch der Name des Attentäters machte ihr zu schaffen. Sie räumte ein, daß derselbe »Hödel« sein möge; dann sei es eben ein mesquiner und, sozusagen lächerlicher Name, der den Vergleich mit »Booth« gar nicht aushalte, ganz abgesehen von des amerikanischen Mörders Verwandtschaft mit dem größten Schauspieler der Vereinigten Staaten, was doch immer eine sehr genteele Sache sei, während der deutsche Attentäter mit dem lächerlichen Namen aus der untersten Plebs stamme, und so dem deutschen Motto: »billig und schlecht« Ehre mache. Daß außerdem die Geschichte von der französischen, Marie so ähnlichen Duchesse, welche bei ihr Gesellschafterin werden wollte, auf das Tapet kommen würde, hatte Marie erwartet, und so war sie denn herzlich froh, als das pomphafte, zuletzt, da auch Frau Curtis sich müde geredet hatte, unheimlich schweigsame Mahl ein Ende nahm.

Der spätere Abend, welchen man in einem großen, an den Speisesaal stoßenden Salon verbrachte, schien sich besser anlassen zu wollen. Es kamen einige Mitglieder der amerikanischen Kolonie, unter ihnen der Gesandte der Vereinigten Staaten mit seiner Gemahlin, einer deutschen Landsmännin; Doktor Brunn und ein paar andre, die »drüben« gewesen waren und aus alter Gewohnheit oder Neigung mit Vorliebe amerikanische Zirkel frequentierten; weiter ein kleines Kontingent von Litteraturgelehrten, an die Ralph Empfehlungen mitgebracht, oder deren Bekanntschaft er inzwischen gemacht hatte. Mit den Theetassen in den Händen auf den Kanten der breiten Sofas, Kauseusen und Fauteuils kauernd, in kleinen Gruppen, herumstehend, häufig die Plätze wechselnd, führte diese Gesellschaft eine lebhafte Unterhaltung, meistens englisch, aber auch vielfach deutsch, da von Anne und Ralph aus Höflichkeit gegen ihre deutschen Gäste, grundsätzlich nur deutsch gesprochen wurde.

Denn zu Maries nicht eben freudiger Ueberraschung war inzwischen auch Ralph erschienen, immer noch sehr blaß, aber jetzt, im Gesellschaftsanzuge, mit dem gastfreundlichen Lächeln auf den Lippen und der verbindlichen Rede, die er bald an diesen, bald an jenen richtete, wieder der Ralph, den sie zuerst kennen gelernt hatte. Der Vater hatte den jüngeren Freund nicht begleitet. Marie wußte, daß er jede größere Gesellschaft mied, wenn, wie heute abend, die Möglichkeit einer Begegnung mit dem Geheimrat und seiner Gattin nicht ausgeschlossen war. Wie nahe gerade heute diese Möglichkeit gelegen hatte, zeigte sich, als jetzt auch noch Ada und Herbert kamen mit Grüßen und Entschuldigungen seitens der Eltern, die ebenfalls gern gekommen, aber durch einen späten Besuch des Ministers, der mit dem Vater eine wichtige schleunige Sache zu besprechen gehabt, abgehalten wären.

Es ist der Anfang des Endes, wenn es nicht schon das Ende ist, sagte Herbert zu Marie, sie auf die Seite nehmend. Heutzutage reiten die Toten besonders schnell. Ich hab's dem Papa genug gesagt: er hat nicht hören wollen. Nun kommt das Attentat dazu. Das wird noch verschiedenen Leuten den Hals brechen. Apropos: andre Leute, die auch gern hoch zu Roß sitzen: hast Du von Reginald hier nichts gehört?

Marie verneinte die Frage. Herbert warf einen schnellen Blick um sich her und sagte, sich näher an die Schwester beugend:

Er hat sich einen Korb geholt, schon vorvorgestern! – auf einem ihrer famosen Spazierritte im Grunewald. Ich weiß es von Meiringen, der von der Partie gewesen ist, wenn auch nicht bei der Scene selbst. Er schwört, daß er seiner Sache sicher ist: Reginald hat sich hinterher wie toll angestellt. Der dumme Teufel! geschieht ihm recht. Hab's ja vorausgesagt – Du erinnerst Dich! Die alberne Farce! Aber ich muß jetzt zu Anne. Noch eines: wie steht es mit Ada und dem Professor?

Sieh doch selbst! sagte Marie, mit den Augen nach Ada und Ralph winkend, die in einer der Fensternischen eben miteinander eifrig zu sprechen schienen.

Herbert blickte für ein paar Momente scharf hinüber, ließ das Lorgnon fallen und sagte lächelnd:

Sie ist eine kluge kleine Person, und ohne viel Geld thut sie's nun einmal nicht. Ich wünsche nur, daß die Sache endlich definitiv zustandekommt. Thu mir die Liebe, Marie, und mache, daß das geschieht! Das erinnert mich daran, daß ich selber keine Zeit zu verlieren habe.

Er strich sich nachdenklich den blonden Schnurrbart und ging auf Anne zu, die in der Thür nach dem jetzt wieder geöffneten Speisesaal, in welchem ein Büffett hergerichtet war, mit einigen jüngeren Herren plauderte.

Zu Marie trat Doktor Brunn. Er hatte sie, als sie vor zwei Jahren im Augusta-Hospital ihre Lehrzeit durchmachte, am Bett einer Kranken, die er dorthin geschickt, kennen gelernt und freute sich, die Bekanntschaft zu erneuern.

So sind Sie also doch einem Berufe, zu welchem Sie eine so entschiedene Begabung mitbrachten, untreu geworden, gnädiges Fräulein?

Nicht so eigentlich, erwiderte Marie; aber ich vermochte den entschiedenen Widerspruch meiner Familie nicht zu überwinden.

Da kann die Welt Ihrer Familie ja nur dankbar sein, sagte der Arzt galant.

Und woher nehmen Sie die Pflegerinnen für Ihre Kranken, wenn alle Welt so dächte?

Sie haben recht. Und doch – ich leugne es nicht – wenn ich ein junges blühendes Mädchen sich diesem schwierigsten, entsagungsvollsten aller Berufe widmen sehe, geht mir immer ein Stich durchs Herz. Es ist contra naturam – gegen die Natur.

Dann ist das ganze Christentum, das unausgesetzt Barmherzigkeit und Entsagung predigt, ebenfalls gegen die Natur.

Aber zweifellos! erwiderte der Arzt rasch. Und deshalb haben wir Deutschen, die wir ebenso zweifellos weitaus die besten Christen sind, auch in dem Kampf der Völker um das Dasein stets den Kürzesten gezogen. Sie werden hier im Hause eine für dies christliche, kampfunfähige Deutschtum typische Persönlichkeit kennen lernen – den Herrn Smith, oder Schmidt, wie er wohl eigentlich heißt, meine ich. Und der mit seinem blutlosen Spiritualismus auch beinahe schon den Professor dort zu einem Schemen ausgehöhlt hatte. Da ist er denn freilich – als echter Idealist, nur für andre mit Augen zum Sehen ausgestattet – zur rechten Zeit zur Einsicht gekommen und kann nun die Zeit nicht erwarten, bis sein Schüler wieder ganz weltlich geworden ist. Fürchten Sie nicht, daß ich indiskret bin! Wir Aerzte gehören zu den »Geweihten«, denen »das Schweigen genau ziemt.«

Er trat von ihr zurück, sich zu einer Gruppe in der Nähe wendend; Marie blickte ihm trüben Sinnes nach. Also auch ein Mann, wie dieser, den man für seine Klugheit, wie für den Edelmut seiner Denkungsart überall auf das höchlichste pries, – ihm war die Entsagung »gegen die Natur«; und daß jemand dem Idealismus den Rücken wandte, um der Selbstsucht und Frivolität in Person zu huldigen, fand er ganz in der Ordnung. Aber der eigne Vater dachte ja in diesem Punkte nicht anders; Doktor Brunn hatte es eben noch bestätigt! War denn alle Welt blind, und wanderte sie allein, eine Sehende, durch diese blinde Welt! Da wahrlich mußte sie mit Kassandra beten, daß die Gottheit ihr die Blindheit wiedergeben möge.

Einer und der andre der Herren trat zu ihr; jeder redete sie auf das Attentat an. Sie wäre gern zu der Gesandtin durchgedrungen, außer den Curtisschen Damen, Ada und ihr der einzigen im Salon, und die ihr vorhin bei der Vorstellung durch ihr freundlich-natürliches Wesen den angenehmsten Eindruck gemacht hatte. Es wollte ihr nicht gelingen, da dieselbe mitten in einem größeren Kreise saß, der sich um den Gesandten drängte. Er war eine Viertelstunde nach dem Attentat bereits im Schloß gewesen und hatte, wenn nicht Seine Majestät selbst, so doch die Großherzogin von Baden gesehen und gesprochen.

Ich beklage, sagte er, das Verbrechen aufs tiefste, nicht bloß aus allgemeinen menschlichen Gründen, die sich ja jedem so aufdrängen, daß man sich fast scheut, sie auszusprechen; sondern sehr wesentlich auch aus politischen. Ich fürchte, der Liberalismus in Deutschland wird die That des Rasenden schwer zu entgelten haben; dafür denn der Radikalismus in Samen schießen.

Und ich hoffe gerade jetzt auf seine Ausrottung mit Stumpf und Stiel.

Der Gesandte blickte erstaunt auf.

Von Ihnen, Herr Doktor, sagte er, hätte ich am wenigsten vermutet, das zu hören.

Der Angeredete, ein stattlicher junger Mann mit einem schönen, ausdrucksvollen Kopfe, errötete leicht und sagte in möglichst unbefangenem Ton:

Warum nicht von mir, Excellenz?

Weil ich nicht begreife, erwiderte der Gesandte, wie Sie die radikale litterarische Revolution, die Sie inaugurieren möchten, vielmehr bereits inauguriert haben und an der Sie und für die Sie täglich auf dem Katheder, in Ihren Journalen, in der Unterhaltung – wie neulich bei mir – arbeiten und eifern, durchzuführen gedenken ohne die entsprechende politische?

Ich bitte um Verzeihung, wenn ich das geistige Band, das in den Augen von Excellenz die eine an die andre knüpft, nicht wohl zu erkennen vermag, erwiderte der junge Mann.

Ich will versuchen, mich deutlicher auszudrücken, sagte der Gesandte, die mächtige Gestalt in dem Sessel zurechtrückend. Jene Litteratur, die Sie befürworten: die realistische, oder, wie sie sich selbst mit Vorliebe nennt: die naturalistische, – deren Hauptvertreter in Frankreich Zola, im skandinavischen Norden Ibsen, in Rußland sagen wir: Dostojewski – ist, – ich glaube, Sie werden mir das zugeben, – durch und durch radikal, ultraradikal, wie, nach meiner Ansicht, noch nie eine Litteratur. Was könnte radikaler sein, als den Nachweis liefern, oder zu liefern versuchen – für meine Argumentation läuft beides auf dasselbe hinaus – daß die moderne Gesellschaft ein Konglomerat von Irrungen und Irrtümern ist, die sich, von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzend, im Laufe der Jahrhunderte, oder Jahrtausende, zu Ungeheuerlichkeiten ausgewachsen haben: moralischen, wie materiellen, auf die man nun stößt, sobald man durch die scheinheilige Oberfläche zu der völlig heillosen Tiefe vorzudringen sucht. Oder was wäre da nicht heillos, wenn man den talentvollen Wortführern und ihren talentlosen Nachbetern glauben darf? Die Liebe, wie unsre Dichter sie bis jetzt besungen haben, ein kindisches Märchen! die Familie ein Lügenrattennest! ideale Strebungen ein Sport der Thoren, oder eine Maske, hinter der sich die Selbstsucht bequem verbirgt! das gesellschaftliche Dekorum Sand in die Augen für die Naiven! der Staat eine Institution, erfunden von den Klugen und Mächtigen zur bequemen Ausbeutung der Dummen und Machtlosen! Nun, meine ich, gibt es doch nur zwei Möglichkeiten: entweder jene Wortführer glauben ehrlich an die Unerträglichkeit von Zuständen, die sie mit solcher Akkuratesse schildern, dann müssen sie doch in der praktischen Konsequenz auf den radikalen Umsturz eines so verrotteten Gemeinwesens hinarbeiten. Oder sie machen, was man doch nicht annehmen darf, die reservatio mentalis, daß sie das alles ja gar nicht so ernsthaft meinen: nur ästhetisch wirken, den Stil regenerieren, verbrauchte Themata durch neue, interessantere ersetzen wollen, so wird die Menge, denen sie das neue Evangelium täglich predigen, sich an die reservatio nicht kehren, sondern an die Sache halten, die Sache ernsthaft nehmen; und die soziale Revolution, die Sie vorhin perhorreszierten, als sie dem Radikalismus, der doch ausgesprochenermaßen kein andres Ziel hat und haben kann, den Garaus wünschten, ist wiederum da.

Der Gesandte nahm ein Glas Punsch von der Tablette eines vorübergehenden Dieners, leerte es auf einen Zug und setzte es mit etwas zitternder Hand nieder. Sein volles Gesicht war stark gerötet, sein Atem ging hörbar. Der Privatdozent hatte ruhig dagesessen; jetzt hob er den schönen Kopf und sagte mit dem Anfluge eines Lächelns:

Excellenz sind mir gegenüber in der glücklichen Lage eines Mannes, der beide Arme zur Verfügung hat gegen einen Einarmigen. Excellenz sind Schriftsteller, noch dazu ein berühmter, und zugleich Staatsmann. Ich bin nichts als ein Litteraturgelehrter, der über den kleinen Kreis seiner Fachgenossen hinaus im großen Publikum kaum bekannt ist. Ich möchte deshalb bitten, vom rein litterarischen Standpunkte antworten zu dürfen. Von diesem Standpunkte aber muß ich die jetzige litterarische Bewegung, die ich allerdings, soviel in meinen Kräften ist, zu fördern suche, als eine einfache Notwendigkeit ansehen – jene Notwendigkeit, mit der sich jede Zeit aus sich heraus ihre Litteratur schafft. Wir mußten mit der überlieferten poetischen Anschauungs- und Ausdrucksweise brechen – es ging nicht anders: wir konnten nicht mehr von Träumen leben; mußten die wissenschaftliche Analyse, welche die Zeit beherrscht, auch in die Poesie hineintragen; auch hier die strenge Untersuchung des einzelnen Falles zur Hauptsache machen, um so, auf rein induktivem Wege von Fall zu Fall fortschreitend, erst einmal – nach einem Fichteschen Ausdruck – festzustellen »Was ist«. Hier könnte ich nun vielleicht sagen, daß dies »Was ist«, – das Resultat also – den poetischen Experimentator ebensowenig angeht, wie den wissenschaftlichen das seinige; aber ich will offen erklären: sähe ich für unser poetisches Vorgehen die verderblichen Folgen, wie Excellenz sie eben so beredt geschildert haben, würde ich es für patriotische Pflicht halten, einen so gefahrvollen Weg zu meiden. Ich sehe die Folgen nicht, im Gegenteil: der Weg, den wir gehen, ist genau derselbe, welchen der größte Staatsmann aller Zeiten gegangen ist und gehen mußte, um Deutschland aus der Misere seiner veralteten Zustände zu seiner heutigen Machtfülle empor zu heben. Immer hat er gefragt: »Was ist?« Und konnte sich der oder das Gefragte in seiner Existenzberechtigung nicht ausweisen, sprach er ihm die Existenz ab, gleichviel, ob es sich dabei um Staaten handelte, wie Hannover und Hessen, oder um politische Parteien, wie die Nationalliberalen, sogenannten Fortschrittsleute, Sozialdemokraten e tutti quanti. Und so meine ich: wie unser großer Kanzler auf seinem Wege der rein sachdenklichen Politik sein Ziel eines modernen deutschen Großstaates erreicht hat, werden wir auch auf dem unsern des rein wissenschaftlich experimentellen Vorgehens das einer mächtigen modernen deutschen Litteratur erreichen.

Nur daß Bismarck nicht mit der Bewunderung und Nachahmung der andern Nationen angefangen hat, wie ihr es ja eingestandenermaßen thut; erwiderte eine Stimme aus dem Kreise, der fast schon die ganze versammelte Gesellschaft in sich schloß.

Wie meinen Sie das, Herr Professor? sagte der Privatdozent, sich zu Ralph wendend, im gütigen Tone eines Lehrers, der gern die Einwürfe seiner Schüler hört.

Ich meine es ganz buchstäblich, erwiderte Ralph vortretend. Oder soll es einen Ausländer, wie mich, nicht auf das äußerste befremden, wenn er in den Schaufenstern Eurer Buchläden den ersten besten, das heißt möglicherweise: elendesten französischen Roman sich in Dutzenden von Exemplaren breit machen sieht, während man vergeblich nach den Erzeugnissen Eurer eignen Belletristik sich umschaut? wenn er in Euren Revuen, Journalen, den Feuilletons Eurer Zeitungen wieder und wieder die Produktionen der Franzosen, Russen, Italiener, Norweger mit tiefstem Respekt und pedantischer Gründlichkeit besprochen findet, und daneben die meist flüchtigen und fast immer lieblosen Urteile, mit der Eure eignen Schriftsteller abgefertigt werden, sie müßten denn selbst halbe Ausländer sein, oder in ihrem otium cum dignitate den jungen Strebern als Konkurrenten nicht mehr gefährlich scheinen? Aber wehe dem, der Ciceros tiefsinniges Wort in den Wind schlägt, daß man die Harmonie der Seele sicher einbüßt, sobald man über der Nachahmung der Tugenden andrer die Ausbildung der eigenen Vorzüge versäumt! – Als die Vorzüge deutscher Poesie erschienen aber uns Amerikanern immer die Innerlichkeit, die aus dem tiefsten Herzensgrunde schöpft, und der ideale Schwung, der sich hoch über die gemeine Wirklichkeit der Dinge erhebt. Diese beiden Energien haben Eure klassische Litteratur geschaffen, in der alle andern Nationen den höchsten Ausdruck moderner Geistesbildung neidlos anerkennen. Entsagt Ihr beiden, wie Ihr denn dazu auf dem besten Wege seid, und Ihr werdet nicht nur Eure Stelle an der Spitze der Bewegung räumen, sondern als servile Imitatoren hinter den andern Nationen rangieren müssen, die den Mut haben, Banausen auf eigne Hand zu sein.

Ralph schwieg; der Gesandte streckte ihm die breite Hand hin und rief:

Danke Ihnen, lieber Curtis! Sie haben mir das aus der Seele gesprochen und besser als ich es in meinen eigenen Worten gekonnt hätte! Aber ist es nicht sonderbar, daß wir beiden aus Heines Staate der Gleichheitsflegel hier im Herzen des Volkes der Denker und Dichter für den Idealismus eine Lanze brechen müssen?

Für den Schein eines Idealismus, dessen Existenz schon zu Schillers Lebzeiten nur noch auf zwei Augen stand, nämlich: Schillers eigenen Augen! rief der Privatdozent.

Desselben Schiller, erwiderte der Gesandte, ohne dessen mächtige Beihilfe ihr die Kosten Eurer theatralischen Saisons gar nicht bestreiten könntet.

Wenn man dem Giganten Ibsen die Thüren unsrer Schauspielhäuser verschließt; entgegnete der Privatdozent achselzuckend.

Giganten pflegen Thüren, die man ihnen sperrt, einzustoßen. Denken Sie an »die Räuber!« sagte Ralph.

Wir leben eben nicht mehr in der Zeit, wo die tönende Phrase glänzende Siege erfechten konnte. Wofür denn jetzt die nüchterne herrscht. Keine Spur einer Phrase bei Ibsen! Jedes Wort ein Marmorblock für seine Gedankenpaläste!

In denen, recht besehen, die alte Iffland-Kotzebuesche Misere haust, die sich mit etwas Schopenhauerschem Pessimismus herausgeputzt hat.

So ging der Streit, in den sich jetzt hinüber und herüber andre gemischt hatten, lebhaft weiter. Marie war von dem Kreise, an dessen Rande sie gestanden hatte, zurückgetreten. Der Widerspruch, der ihr in Ralphs schöner Begeisterung für die Würde der Poesie und seiner in ihren Augen völlig würdelosen Leidenschaft für Ada zu liegen schien, that ihr zu weh. Dabei wurde sie von der Angst gepeinigt, die innere Erregung, welche er, wie sie am besten wußte, bereits in den Salon mitgebracht hatte, und die jetzt durch die lebhafte Diskussion nur gesteigert sein konnte, werde ihm eine schlimme Nacht, wohl gar einen Rückfall in seiner Krankheit zuwege bringen. Aber sie hatte ja das Recht nicht, Einspruch zu erheben, ihn zu warnen. Wie konnte der Vater nur zugeben, daß er sich in seinem Zustande solcher Gefahr aussetzte! Freilich, er hatte sich gewiß um Adas willen nicht zurückhalten lassen! Sollte sie sehr viel von seiner Rede verstanden haben?

Aus dem Salon in den völlig verlassenen Speisesaal geraten, wanderte sie dort absichtslos auf dem dicken Teppich umher, von Zeit zu Zeit auf das Geschwirr der Stimmen horchend, das noch immer aus dem Salon herüberschallte, und in welchem sie die des Gesandten, dann des Dozenten, des Doktor Brunn und jetzt auch Herberts unterschied. Herbert hatte es eilig gehabt, sich nach Reginalds Abweisung als Freier zu melden. Ob er wohl besser bei der fanatischen Republikanerin, der Verteidigerin des Tyrannenmords reüssieren würde? Es fiel ihr ein, daß sie Anne während der letzten halben Stunde in der Gesellschaft nicht gesehen hatte; auch Hartmut nicht. Waren sie den ewigen Debatten über das Attentat, das ihnen wohl in einem andren Lichte erscheinen mochte, aus dem Wege gegangen? Aber dann wohin? Sie wußte noch so wenig Bescheid in der großen Wohnung. Waren diese rotseidenen Vorhänge über drei Fenstern herabgelassen? deckte der mittlere eine Thür nach einer andern Zimmerflucht?

Mechanisch hatte sie diesen Vorhang, ihn mit beiden Händen in der Mitte fassend, ein wenig auseinander genommen und stand so eine Sekunde, regungslos vor dem Anblick, der sich ihr bot in dem Dämmerlichte des Mondes, welches die balkonartig vorspringende Nische des Fensters füllte: der scharfumrissenen Silhouette zweier schlanker Gestalten, eine in der andren Armen – Busen an Busen geschmiegt – Lippe auf Lippe: Anne und Hartmut.

Von oben kam jetzt erst ein leises Klingen der Metallringe auf der vergoldeten Stange. Im Nu hatten sich die beiden losgelassen; Marie fühlte sich festgehalten von einer kleinen Hand, die sich mit eisernem Griff um ihr Handgelenk gelegt und sie dann in die Nische gezogen hatte.

Der Mondschein flimmerte auf drei bleichen Gesichtern; über das Annes zuckte ein Lächeln.

Die einzige, an deren Segen uns gelegen ist, sagte sie leise. Uebrigens hätten Sie's heute nacht doch noch erfahren. Und nun kommen Sie wieder zur Gesellschaft!

Sie hatte sich zu dem runden Tischchen in der Nische gewandt, auf dem ihr Taschentuch lag. Hartmut beugte sich an Maries Ohr.

Geheimnis gegen Geheimnis! flüsterte er.

Anne hatte Maries Arm genommen. Der Vorhang schlug hinter ihnen zusammen.

Hartmut stand allein in der Nische – plötzlich in Finsternis: eine schwarze Wolke hatte sich über den Mond geschoben.

Pah! murmelte er, wer an böse Zeichen glaubte! Noch dazu, wenn sie hinterher kommen! Eine unsichere Stelle – wie? Und das Eis knackte ein bißchen? Wird noch öfter passieren. Am Ende war's ganz gut. Bei dem Küssen im Dunkeln konnt's nicht bleiben.


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